Baurecht

Nachbarklage gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigung für WEA

Aktenzeichen  M 19 K 16.1014

Datum:
11.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 160085
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1, § 114 S. 1, S. 2
BayBO Art. 6, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BayVwVfG Art. 28 Abs. 1, Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2
BImSchG § 5 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Bei einer Windenergieanlage ist aufgrund der Atypik der Fallgestaltung in Bezug auf die einzuhaltenden Abstandsflächen eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO zulässig.(Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die absolute Grenze der Verkürzung von Abstandsflächen bei Windenergieanlagen ist, dass sich die Rotorblätter nicht im Luftraum über dem Nachbargrundstück drehen dürfen.(Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Eiswurfgefahr kann eine sonstige Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG darstellen, deren Verhütung die Nachbarschaft einer Windkraftanlage verlangen kann. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung vom 11. Januar 2016 und insbesondere die darin erteilte Abweichung von den Abstandsflächen ist im Hinblick auf den Kläger rechtmäßig und verletzt diesen nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Kläger hat nicht schon bei objektiver Rechtswidrigkeit der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung der streitigen Windenergieanlage einen Rechtsanspruch auf deren Aufhebung. Er kann den Genehmigungsbescheid vielmehr nur dann erfolgreich anfechten, wenn dieser rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit zu einer Verletzung des Klägers in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten führt. Dies ist nur der Fall, wenn die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz der Nachbarn zu dienen bestimmt ist, sie also drittschützende Wirkung hat (std. Rspr. z.B. BVerwG, U.v. 10.4.2008 – 7 C 39.07 – BVerwGE 131, 129 ff. – juris Rn. 19).
Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist formell (1.) und materiell (2.) rechtmäßig. Sie verletzt den Kläger weder hinsichtlich abstandsrechtlicher Vorschriften (2.1) noch hinsichtlich der Eisabwurfgefahr (2.2) in eigenen Rechten.
1. Die streitgegenständliche Genehmigung ist formell rechtmäßig.
Entscheidungserhebliche Fehler des Verwaltungsverfahrens bestehen nicht mehr. Zwar hat das Landratsamt den Kläger rechtsfehlerhaft nicht am Genehmigungsverfahren beteiligt. Es war offensichtlich, dass durch das genehmigte Vorhaben nachbarschützende Abstandsflächenvorschriften nicht eingehalten werden und dass durch die zugelassene Abweichung subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers geschmälert werden. Damit war es geboten, den Kläger vor der Zulassung von Abweichungen von den Abstandsflächen nach Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) anzuhören (BayVGH, B.v. 19.8.2014 – 22 CS 14.1597 – juris Rn. 16); die unterlassene Anhörung des Klägers ist allerdings nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG dadurch geheilt worden, dass das Landratsamt das Vorbringen des Klägers in den Schreiben vom 29. März und 4. Mai 2016 zur Kenntnis genommen und mit Schreiben vom 8. April und 12. Mai 2016 gewürdigt hat. Ferner hat es die (knappe) Klagebegründung zur Kenntnis genommen und in der mündlichen Verhandlung durch ergänzende Erklärung zu Protokoll gewürdigt.
2. Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist auch materiell rechtmäßig.
2.1. Die auf der Grundlage des Art. 63 Abs. 1 Bayerischen Bauordnung (BayBO) erteilte Abweichung von den Abstandsflächen begegnet rechtlich keinen Bedenken.
Unter Zugrundelegung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Juli 2009 (22 BV 08.3427 – juris) bemisst sich die Tiefe der Abstandsfläche der abstandspflichtigen Windenergieanlage nach der Gesamthöhe der Anlage, die hier 199 m beträgt. Die Abstandsfläche ist einzuhalten ab einem Kreis um die Mittelachse der Anlage, dessen Radius durch den Abstand des senkrecht stehenden Rotorblatts vom Mastmittelpunkt bestimmt wird. Der Abstand des senkrecht stehenden Rotorblatts vom Mastmittelpunkt beträgt hier 7,76 m, so dass sich im vorliegenden Fall eine Tiefe der Abstandsfläche von 199 m ergibt, berechnet ab einem Kreis mit dem Radius 7,76 m (Exzentrizität) um den Mastmittelpunkt.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in der genannten Entscheidung vom 28. Juli 2009 keinen Zweifel daran gelassen, dass im Fall einer Windenergieanlage aufgrund der Atypik der Fallgestaltung eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO zulässig ist. Eine atypische Fallgestaltung besteht hiernach zum einen in der Eigenart der Windenergieanlage, die im Verhältnis zu ihrer Gesamthöhe ausgesprochen schmal ist und sich sowohl in Bezug auf den Turm als auch in Bezug auf die Rotorblätter verjüngt; hinzu kommt, dass sich der Rotor entsprechend der Windrichtung dreht und die vom Rotor bestrichene Fläche keine Wirkung wie von einem Gebäude entfaltet, wenn sie nicht mit ihrer Breitseite zum Betrachter steht. Zudem gibt es kaum Grundstücke, die von Größe und Zuschnitt her die Einhaltung der eigentlich gebotenen Abstandsflächen von 1 H für die im Außenbereich privilegierten Windkraftanlagen von heute üblichem Standard ermöglichen. Zwar mag es systematisch unbefriedigend erscheinen, in einem ersten Schritt gesetzliche Anforderungen bezüglich einer Gruppe von Anlagen für anwendbar zu erklären, um dann in einem zweiten Schritt regelmäßig eine atypische, eine Abweichung rechtfertigende Fallgestaltung zu bejahen. Doch ist davon auszugehen, dass dieses Vorgehen den Zielsetzungen des Gesetzgebers am besten entspricht. Dieser hat bei einem Anlagentyp eigener Art gleichsam am Rande des Anwendungsbereichs des Art. 6 BayBO auf Spezialregelungen in der Erwartung verzichtet, dass mit Hilfe des Rechtsinstituts der Abweichung angemessene Lösungen erzielt werden können.
Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung hat das Landratsamt im vorliegenden Fall eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen zugelassen.
Aus der Begründung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung ergibt sich zunächst, dass das Landratsamt hinsichtlich des Maßes der Abweichung entsprechend den von der Beigeladenen vorgelegten Antragsunterlagen eine Reduzierung der Tiefe der Abstandsflächen auf 60,50 m, gerechnet ab dem Mastmittelpunkt, zugelassen hat. Zwar bemisst sich die Abstandsfläche wie oben ausgeführt nicht ab dem Mastmittelpunkt, sondern ab einem Kreis um die Mittelachse der Anlage, dessen Radius durch den Abstand des senkrecht stehenden Rotors vom Mastmittelpunkt bestimmt wird, so dass hier – wie das Landratsamt in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll auch klargestellt hat – tatsächlich eine Abweichung auf 52,74 m und damit auf 0,265 H zugelassen wurde. Aus der Gesamtschau der Begründung der Genehmigung und der Antragsunterlagen, die zum Bestandteil der Genehmigung erklärt worden sind, ergibt sich jedoch, dass dem Landratsamt die Thematik der Exzentrizität und damit der tatsächlichen Verkürzung der Tiefe der Abstandsflächen auf 52,74 m bewusst gewesen ist. Das Landratsamt hat ausweislich der Begründung zu der Abweichung von den Abstandsflächen auf einen einzuhaltenden Radius von 206,76 m um den Mittelpunkt abgestellt und damit im Ergebnis richtig die grundsätzlich einzuhaltende Abstandsfläche von 199 m, gerechnet ab einem Kreis mit dem Radius von 7,76 m um die Mittelachse, der Anlage zu Grunde gelegt.
Die vom Landratsamt vorgenommene Abwägung zwischen den für die Verwirklichung des Vorhabens sprechenden Gründen und den Belangen des Klägers ist nicht zu beanstanden. Zu beachten ist insoweit, dass Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO eine Ermessensregelung darstellt und der der Behörde zustehende Entscheidungsspielraum nach § 114 Satz 1 VwGO vom Gericht nur eingeschränkt überprüft werden kann.
Das Maß der vorgenommenen Verkürzung der Tiefe der Abstandsflächen auf 0,265 H lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Nach der oben angeführten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gibt es kein absolutes Maß für eine (noch zulässige) Abweichung von den Regelabstandsflächen. Vielmehr kommt es auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls an. Auch die in Art. 6 Abs. 7 BayBO den Gemeinden neu eröffnete Möglichkeit der Verkürzung der Tiefe einer Abstandsfläche durch Satzung auf 0,4 H besagt nicht, dass der Gesetzgeber bei 0,4 H eine absolute Grenze gesetzt hat. Indizwirkung dafür, dass Verkürzungen in der vorliegenden Größenordnung in der Regel als zumutbar angesehen werden können, haben auch die gesetzlichen Regelungen in anderen Bundesländern. Diese sehen beispielsweise für Windkraftanlagen in nicht bebauten Gebieten (vgl. Landesbauordnung Rheinland-Pfalz [§ 8 Abs. 10 Satz 2]) bzw. in Sondergebieten nach § 11 BauNVO, soweit deren Nutzung dies rechtfertigt (vgl. Landesbauordnung von Nordrhein-Westfalen [§ 6 Abs. 5 Satz 3]), die Möglichkeit einer weiteren Verkürzung der Tiefe der Abstandsfläche, teilweise bis auf 0,25 H, vor. Der angeführten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs lässt sich als absolute Grenze der Verkürzung der Abstandsflächen entnehmen, dass sich die Rotorblätter nicht im Luftraum über dem Nachbargrundstück drehen dürfen (VG München, U.v. 17.4.2012 – M 1 K 11.5646 – juris Rn. 22). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Eine weitere Grenze, unterhalb derer eine Verkürzung der Abstandsflächen gegenüber dem Nachbarn als unzumutbar anzusehen wäre, lässt sich der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ebenso wenig entnehmen wie der Bayerischen Bauordnung selbst.
Das Landratsamt hat in rechtlich fehlerfreier Weise darauf abgestellt, dass das Grundstück des Klägers nicht bebaubar und eine Beeinträchtigung des landwirtschaftlichen bzw. – im vorliegenden Fall – forstwirtschaftlichen Ertrages durch Schattenwurf nicht zu besorgen ist und dass der Anteil erneuerbarer Energien in den kommenden Jahren spürbar erhöht werden soll. Nachbarliche Belange wurden – jedenfalls nach Ergänzung der Ermessenserwägungen des Landratsamts in der mündlichen Verhandlung nach § 114 Satz 2 VwGO – bei der Entscheidung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO ausreichend berücksichtigt. Diese Erwägungen des Landratsamts sind auch nicht ermessensfehlerhaft. Insbesondere steht die Überlegung, eine Abweichung regelmäßig dann zu gewähren, wenn die mit den Abstandsflächenvorschriften verfolgten Zwecke und zu wahrenden Nachbarbelange nicht mehr als geringfügig beeinträchtigt werden, in Einklang mit dem Gesetzeszweck (BayVGH, B.v. 1.12.2016 – 22 CS 16.1682 – juris Rn. 36; U.v. 28.7.2009 – 22 BV 08.3427 – juris Rn. 32).
2.2. Soweit der Kläger geltend macht, er werde bei Arbeiten auf seinem Waldgrundstück, die er gerade in den Wintermonaten vornehmen müsse, der Gefahr des Eiswurfs ausgesetzt, führt dies ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der Genehmigung.
Zwar kann die Eiswurfgefahr eine sonstige Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) darstellen, deren Verhütung die Nachbarschaft einer Windkraftanlage verlangen kann (BayVGH, B.v. 20.7.2016 – 22 ZB 16.11 – juris Rn. 14; B.v. 4.12.2014 – 22 CS 14.2157 – juris Rn. 14 ff.). § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG bezweckt insofern allerdings keinen absoluten Schutz. Er verlangt nicht, dass jedes nur denkbare Risiko der Herbeiführung von schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren ausgeschlossen sein muss. Risiken, die als solche erkannt sind, müssen nur mit hinreichender, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein (BVerwG, U.v. 17.2.1978 – 1 C 102.76 – BVerwGE 55, 250/254). Das Landratsamt hat hier unter Nr. 1.9 die Nebenbestimmung getroffen, dass die Windenergieanlage generell so zu errichten und zu betreiben ist, dass es nicht zu einer Gefährdung durch Eisabwurf kommt. In den Antragsunterlagen, die zum Bestandteil der Genehmigung erklärt wurden, wurden auf Bl. 246 ff. die technischen Schutzmaßnahmen hinsichtlich des Eiswurfs dargelegt. Die Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Funktionsweise der Eiserkennung ausgeführt, dass Sensoren in Flügeln einen Eisansatz erkennen würden. In diesem Fall greife die Abschaltautomatik der Anlagen ein. Dieses Eiserkennungssystem in den Flügeln arbeite sehr genau, weil es die Schwingungen in den Flügeln messe. Für das Gericht ist nicht ersichtlich, dass dieses Eiserkennungssystem nicht geeignet ist, das Eiswurfrisiko unter die Gefahrenschwelle zu bringen. Das Gericht geht daher von der generellen Wirksamkeit dieser Gefahrverhütungsmaßnahme aus. Unter Berücksichtigung dessen kann von einem dem Kläger zumutbarer Weise verbleibenden Restrisiko, also von einem Risiko gesprochen werden, welches von der Anlage ausgeht, nachdem sämtliche Sicherungsmaßnahmen getroffen wurden und das sinnvoller Weise nach dem Maßstab praktischer Vernunft nicht mehr minimierbar ist (vgl. hierzu OVG Koblenz, U.v. 12.5.2011 – 1 A 11186/08 – NVwZ-RR 2011, 759; VG Würzburg 20.12.2016 – W 4 K 14.354 – juris Rn. 78). Ein – durch geeignete Sicherungsmaßnahmen vermindertes – Restrisiko ist jedoch vom Kläger hinzunehmen (vgl. hierzu auch Windenergie-Erlass v. 19.7.2016, S. 21).
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Dem Kläger waren die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese einen Antrag gestellt und sich somit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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