Baurecht

Nachbarklage gegen Wohn- und Geschäftshaus – Verletzung der Abstandsflächen

Aktenzeichen  M 1 K 16.5906

Datum:
19.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 10651
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 6 S. 1 Hs. 1, Art. 59 S. 1, Art. 68
BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Tritt nach Erlass der Baugenehmigung eine für den Nachbarn günstige Rechtsänderung ein, wirkt sich dies nicht zulasten des Bauherrn aus. Eine Aufhebung der Baugenehmigung ist selbst bei inzwischen eingetretener Rechtswidrigkeit nicht möglich. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. In einem faktischen Baugebiet kann ein Nachbar Verstöße gegen die Größe eines Vorhabens nur dann mit Erfolg einwenden, wenn das Vorhaben gegen das in § 15 Abs. 1 S. 1 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot verstößt. Ein Verstoß ist nicht bereits anzunehmen, wenn das Vorhaben gegen das Gebot des Sich-Einfügens verstößt; es muss den Nachbarn infolge der Größe durch eine „abriegelnde“ oder „erdrückende Wirkung“ unzumutbar beeinträchtigen. Nur in diesem Fall sind die Bestimmungen über das Maß der baulichen Nutzung ausnahmsweise nachbarschützend. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Hält ein Gebäude vor drei oder mehr Außenwänden die volle Tiefe nicht ein, kommt die Privilegierung des Art. 6 Abs. 6 S. 1 Halbs. 1 BayBO insgesamt nicht zur Anwendung und führt dazu, dass die volle Abstandsfläche nach Art. 6 Abs. 5 BayBO vor allen Außenwänden eingehalten werden muss. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klagen werden abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen. Dabei entfallen je 1/5 auf die Kläger zu 1), 2), 3) und 6) und 1/5 auf die Kläger zu 4) und 5) als Gesamtschuldner.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar, für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags, für den Beklagten ohne Sicherheitsleistung. Die Kläger dürfen die Vollstreckung seitens des Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

Eine Entscheidung konnte gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne weitere mündliche Verhandlung ergehen, weil die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 11. April 2019 ihr Einverständnis mit einem Übergang ins schriftliche Verfahren erklärt haben.
1. Die zulässigen Nachbarklagen haben in der Sache keinen Erfolg.
Die Klagen sind unbegründet, weil die Baugenehmigung vom 23. November 2016 die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Der gerichtliche Prüfungsumfang ist nicht aufgrund der bereits bestandskräftigen Baugenehmigung vom 11. Mai 2016 eingeschränkt.
Entgegen der von der Beigeladenen vertretenen Auffassung beschränkt sich die bauaufsichtliche Prüfung nicht auf die Frage, ob den mit dem „Tekturantrag“ vorgelegten Änderungen die im vereinfachten Genehmigungsverfahren (Art. 59 Satz 1 BayBO) zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Der streitgegenständliche Genehmigungsbescheid vom 23. November 2016 stellt keine Tektur zur Baugenehmigung vom 11. Mai 2016 dar, weil es sich nicht um geringfügige oder kleinere, das Gesamtvorhaben in seinen Grundzügen nur unwesentlich berührende Änderungen. Die genehmigten Änderungen gehen vielmehr so weit, dass ein anderes als das mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Mai 2016 Genehmigte Gegenstand der Zulässigkeitsprüfung ist. Mithin hat die Beigeladene einen völlig neuen Bauantrag vorgelegt, so dass das gesamte Vorhaben erneut auf seine Genehmigungsfähigkeit hin zu prüfen ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.1.1998 – 14 B 96.357 – juris Rn. 22; Lechner in Simon/Busse, BayBO, 135. EL Dezember 2019, Art. 68 Rn. 113; König in König/Schwarzer, BayBO, 4. Auflage 2012, Art. 64 Rn. 18). Die Änderungen beziehen sich auf für die Identität eines Bauvorhabens wesentliche Merkmale. Sie betreffen u.a. das Bauvolumen (181 m3 geringer als in der Baugenehmigung vom 11. Mai 2016), die Länge und Breite (38 m x 30 m bzw. 12 m statt 39 m x 33 m bzw. 6 m), die Abstände der Außenwände zu den Nachbargrundstücken (0,20 m größerer Abstand des 1. und 2. Obergeschosses zur westlichen Grundstücksgrenze), die Ausformung der Außenwände (rechteckig geformte Ausbildung statt nordseitig abgeschrägter Außenwand), das Fehlen von Arkaden über die gesamte Gebäudelänge, die Gestaltung der Fassaden (v.a. Fenster und Aufzug), die Maße von GRZ und GFZ (0,56 und 1,16 statt 0,62 und 1,12), die Nutzung des Gebäudes (Nutzung des Erdgeschosses für Büro/Gewerbe statt gemischter Nutzung für Büro/Gewerbe und Wohnen) sowie die Erhöhung der Anzahl der erforderlichen Stellplätze (29 statt 28 Stellplätze). Es handelt sich bei dem Vorhaben daher um ein „Aliud“ zu dem mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Mai 2016 genehmigten Vorhaben. Da der Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde bei diesem neuen und selbstständigen Bauantrag nicht beschränkt ist, sind die Kläger ihrerseits mit ihren Einwendungen nicht auf die Änderungen gegenüber dem bestandskräftig genehmigten Vorhaben beschränkt.
b) Die Kläger können im Hinblick auf die Baugenehmigung vom 23. November 2016 nur die Verletzung solcher Normen rügen, die im Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung zum Prüfprogramm der Bauaufsichtsbehörde gehören und ihrerseits Drittschutz vermitteln.
Die Klage eines Nachbarn gegen die einem Dritten erteilte Baugenehmigung hat nicht bereits dann Erfolg, wenn diese objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr ist sie nur begründet, wenn der Kläger und Nachbar hierdurch in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird, die zumindest auch seinem Schutz zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20 m.w.N.). Solche drittschützenden Rechtspositionen ergeben sich aus einfachgesetzlichen Normen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, sofern diesen entnommen werden kann, dass sie nicht lediglich dem Schutz städtebaulicher oder sicherheitsrechtlicher öffentlicher Interessen dienen, sondern erkennbar die Zumutbarkeit für Dritte im Blick haben.
Weiter eingeschränkt wird das Prüfprogramm dadurch, dass der Nachbar eine Baugenehmigung, die im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilt wird, nur in dem Umfang angreifen kann, wie die als verletzt gerügte Norm zum Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde gehört. Nachbarrechte können nur verletzt sein, wenn über sie in der Genehmigung entschieden worden ist (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96 – NVwZ 1998, 58, juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 9; U.v. 23.5.2001 – 2 B 97.2601 – juris Rn. 21; VG München, U.v. 11.4.2019 – M 1 K 18.1477 – n.V., Rn. 21; Wolf in Simon/Busse, BayBO, 135. EL Dezember 2019, Art. 59 Rn. 115). Das Prüfprogramm wird somit im vereinfachten Genehmigungsverfahren auf die gem. Art. 59 BayBO zu prüfenden öffentlichen-rechtlichen Vorschriften beschränkt. Entscheidend ist im Falle von Gesetzesänderungen die Fassung des Art. 59 BayBO bei Erteilung der Baugenehmigung; denn für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns ist bei einer Drittanfechtungsklage im Baurecht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Erteilung der Baugenehmigung) abzustellen (vgl. BVerwG Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 34 u. 155). Tritt nach Erlass der Baugenehmigung eine für den Nachbarn günstige Rechtsänderung ein, wirkt sich dies nicht zulasten des Bauherrn aus. Eine Aufhebung ist selbst bei inzwischen eingetretener Rechtswidrigkeit nicht möglich (vgl. BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – NVwZ 1998, 1179, juris Ls.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 113 Rn. 63).
c) Die Kläger sind durch die Baugenehmigung vom 23. November 2016 nicht in ihren drittschützenden Rechten verletzt.
aa) Die Kläger können sich nicht auf die Verletzung des Art. 6 BayBO berufen, weil das Abstandsflächenrecht bei Erteilung der Baugenehmigung mit Bescheid vom 23. November 2016 kein Teil des Prüfprogramms war.
In den Gründen der Baugenehmigung wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Baugenehmigung im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO erteilt worden ist. Die Feststellungswirkung der Baugenehmigung ist daher auf die ab dem 1. Januar 2008 und bis zum 31. August 2018 – und damit bei Erlass der Baugenehmigung – geltende Fassung des Art. 59 BayBO beschränkt. Da das Abstandsflächenrecht in dieser Fassung kein Teil des Prüfprogramms ist, können sich die Kläger nicht darauf berufen, dass die angefochtene Baugenehmigung sie in ihren Rechten aus Art. 6 BayBO verletzt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn die Bauaufsichtsbehörde eine Abweichung von der Vorschrift in Art. 6 BayBO erteilt hätte, weil in diesem Fall die Erteilung der Abweichung an der Regelungswirkung der Baugenehmigung teilnimmt (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Art. 63 Abs. 2 Satz 2 BayBO) und insoweit eine Rechtsverletzung der Nachbarn möglich ist (vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 9). Eine Abweichung von Art. 6 BayBO wurde in der Baugenehmigung vom 23. November 2016 jedoch nicht erteilt. Die Kläger können eine Verletzung des Abstandsflächenrechts auch nicht über Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO rügen, weil die Vorschrift keinen über das Prüfprogramm hinausgehenden Nachbarschutz vermittelt (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2010 – 15 ZB 10.1 … – BauR 2011, 1161, juris Rn. 10; B.v. 28.9.2010 – 2 CS 10.1760 – BayVBl 2011, 147, juris Ls.).
bb) Das Vorhaben verletzt die Kläger auch nicht in sonstigen nachbarschützenden Rechten. Es verstößt insbesondere nicht gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO.
(1) Das Vorhaben liegt im Geltungsbereich des Bebauungs- und Baulinienplans „… Teilgebiet VII … … …“. Der nach § 173 Abs. 3 BBauG 1960 übergeleitete Plan enthält lediglich Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen. Es handelt sich damit um einen einfachen Bebauungsplan i.S.v. § 30 Abs. 3 BauGB, weil die Voraussetzungen eines qualifizierten Bebauungsplans gem. § 30 Abs. 1 BauGB nicht erfüllt sind. Im Geltungsbereich eines einfachen Bebauungsplans richtet sich die Zulässigkeit des Vorhabens im Übrigen nach § 34 oder § 35 BauGB. Im vorliegenden Fall richtet sie sich nach § 34 BauGB, weil die Vorhabengrundstücke unstreitig in einem in Zusammenhang bebauten Ortsteil i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB liegen. Die Eigenart der näheren Umgebung entspricht – davon gehen auch die Verfahrensbeteiligten aus – einem faktischen Mischgebiet gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO. Denn in der näheren Umgebung befinden sich neben Wohngebäuden westlich des Vorhabens auch eine Reihe gewerblich genutzter Gebäude. Die Gewerbebetriebe liegen in unmittelbarer Umgebung nördlich des Vorhabens auf den Grundstücken FlNr. 50, 48 (Bank und Zahnarztpraxis) und östlich des Vorhabens auf den Grundstücken FlNr. 41, 42 und 588 (Friseur, Reisebüro sowie Inseratabteilung der örtlichen Zeitung).
(2) Das Vorhaben verstößt nicht gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO.
Die Kläger wenden ein, dass sich das Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ob dies der Fall ist, kann offenbleiben, weil daraus nicht zwingend eine Verletzung in drittschützenden Rechten folgt. Da der Gebietserhaltungsanspruch auf die Art der baulichen Nutzung beschränkt ist (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 136. EL Oktober 2019, § 34 Rn. 143), kann ein Nachbar in einem faktischen Baugebiet Verstöße gegen die Größe eines Vorhabens nur dann mit Erfolg einwenden, wenn das Vorhaben gegen das in § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot („Umfang“) verstößt. Ein solcher Verstoß ist nicht bereits dann anzunehmen, wenn das Vorhaben gegen das Gebot des Sich-Einfügens verstößt; es muss vielmehr den Nachbarn infolge der Größe durch eine „abriegelnde“ oder „erdrückende Wirkung“ unzumutbar beeinträchtigen. Nur in diesem Fall sind die Bestimmungen über das Maß der baulichen Nutzung ausnahmsweise nachbarschützend (vgl. BayVGH, U.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 7; B.v. 2.2.2019 – 9 CS 18.2305 – juris Rn. 14; B.v. 14.1.2009 – 1 ZB 08.97 – juris Rn. 17; VGH BW, B.v. 20.3.2012 – 3 S 223/12 – juris Ls.; VG München, U.v. 5.4.2016 – M 1 K 15.3286 – juris Rn. 20).
Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot setzt voraus, dass das Vorhaben den Nachbarn infolge der Größe durch „abriegelnde“ oder „erdrückende Wirkung“ unzumutbar beeinträchtigt. Eine solche erdrückende Wirkung scheidet regelmäßig von vornherein dann aus, wenn das Vorhaben die Abstandsflächen einhält. Dies bedeutet aber nicht umgekehrt, dass eine Überschreitung der Abstandsflächen regelmäßig eine einmauernde Wirkung mit sich bringt. Vielmehr kommt es auf eine Gesamtschau des Einzelfalls unter Einschluss des Zuschnitts und der Lage der klägerischen Grundstücke an (vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 13; B.v. 14.10.2010 – 15 ZB 10.1 … – BayVBl 2011, 413, juris Rn. 6). Eine „abriegelnde“ oder „erdrückende“ Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 20; VG München, U.v. 5.4.2016 – M 1 K 15.3286 – juris Rn. 20). Das Vorhaben muss dem benachbarten klägerischen Grundstück förmlich „die Luft nehmen“, weil es derart übermächtig ist, dass das Wohngebäude nur noch oder überwiegend wie von einem „herrschenden“ Gebäude dominiert und ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 20; OVG NRW, B.v. 10.1.2013 – 2 B 1216/12.NE – juris Rn. 21). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 2.10.2018 – 2 ZB 16.2168 – juris Rn. 4; B.v. 11.2.2019 – 1 ZB 16.1046 – juris Rn. 5). Als Beispiele sind zu nennen ein zwölfgeschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zum zweigeschossigen Nachbarwohnhaus (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – DVBl 1981, 928, juris Rn. 32 ff.) oder eine 11,5 m hohe Siloanlage im Abstand von 6 m zu einem Wohnanwesen (vgl. BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – DVBl 1986, 1271, juris Rn. 2 und 15). Für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes besteht grundsätzlich dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher als das betroffene Gebäude ist (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 1 ZB 16.1046 – juris Rn. 5; B.v. 20.4.2010 – 2 ZB 07.3200 – juris Rn. 3).
Das streitgegenständliche Vorhaben verletzt zwar die Abstandsflächen (vgl. (a)), eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme folgt hieraus jedoch nicht (b).
(a) Das Vorhaben verletzt die Abstandsflächen nach Westen und Süden.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden die Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gem. Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe und beträgt 1 H, mindestens drei Meter (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO). Die Abstandsflächen müssen gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem Grundstück selbst liegen.
Nach den Eingabeplänen beträgt der Abstand des Vorhabens zu den Grundstücken der Kläger 2) bis 6) nach Westen etwa 3,20 m. Um die Abstandsflächen einzuhalten, wurde Raum-, Decken- und Fußbodenhöhe von der Beigeladenen so geplant, dass sie zusammengerechnet im Erdgeschoss eine Höhe von 3,20 m und im 1. Obergeschoss eine Höhe von 6,20 m aufweisen. Fälschlicherweise unberücksichtigt blieben bei der Berechnung der Abstandsflächen jedoch die Terrassenumwehrungen im 1. und 2. Obergeschoss mit einer Höhe von knapp 0,90 m. Da diese aber abstandsflächenrelevant sind (vgl. BayVGH, B.v. 26.3.2015 – 2 ZB 13.2395 – juris Rn. 2; VG München, U.v. 17.12.2015 – M 11 K 14.3554 – juris Rn. 38), ergibt sich hinsichtlich des Erd- und 1. Obergeschosses eine Wandhöhe von ca. 4,10 m bzw. 7,10 m (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 BayBO). Die Abstandsflächen werden somit nach Westen um ca. 0,90 m nicht eingehalten und verstoßen gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO, weil sie nicht vollständig auf dem Vorhabengrundstück liegen.
Der Verstoß wirkt sich auch auf die nach Süden und Osten zu beachtenden Abstandsflächen aus, weil die Beigeladene diesbezüglich von ihrer Privilegierung aus Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO Gebrauch gemacht hat. Nach der Vorschrift genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m die Hälfte der nach Abs. 5 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m. Aus der Beschränkung auf zwei Außenwände und dem Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 5 BayBO folgt, dass vor den übrigen Außenwänden die volle Abstandstiefe einzuhalten ist. Hält ein Gebäude vor drei oder mehr Außenwänden die volle Tiefe nicht ein, kommt die Privilegierung des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO insgesamt nicht zur Anwendung und führt dazu, dass die volle Abstandsfläche nach Art. 6 Abs. 5 BayBO vor allen Außenwänden eingehalten werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2000 – GrS 1/1999 – NVwZ-RR 2001, 291, juris Ls.; U.v. 25.5.1998 – 2 B 94.2682 – BayVBl 1999, 246, juris Rn. 45; Dhom/Franz/Rauscher in Simon/Busse, BayBO, 135. EL Dezember 2019, Art. 6 Rn. 365). Durch die Verletzung der Abstandsflächen nach Westen hält das Vorhaben vor drei Außenwänden, nämlich nach Osten, Süden und Westen die volle Abstandsfläche gem. Art. 6 Abs. 5 BayBO nicht ein. Folglich kann das 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Halbs. 1 BayBO nicht angewendet werden, was dazu führt, dass auch die Abstandsflächen nach Osten und nach Süden überschritten werden und unzulässigerweise auf benachbarten Grundstücken liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO). Im Hinblick auf die Abstandsflächen nach Süden wurden zudem die Terrassenumwehrungen im 1. und 2. Obergeschoss – wie bei der Berechnung der Abstandsflächen nach Westen hin – nicht mit in die Berechnung der Wandhöhe für das Erdgeschoss und das 1. Obergeschoss miteinbezogen. Die Abstandsflächen liegen deshalb teilweise sogar noch ca. 0,90 m weiter auf dem Grundstück FlNr. 587 der Klägerin zu 1).
(b) Trotz der Nichteinhaltung der Abstandsflächen sind die Kläger nicht in ihrem Rücksichtnahmegebots gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB verletzt.
Im Hinblick auf die klägerischen Grundstücke ist ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot trotz Überschreitung der Abstandsflächen zu verneinen. Das Vorhaben weist nach den genehmigten Eingabeplänen drei Geschosse, eine Firsthöhe von 10,61 m und eine Länge von ca. 38 m nach Süden sowie eine Breite von ca. 30 m nach Westen und ca. 12 m nach Osten auf. Der Abstand des Vorhabens zum südlich gelegenen Wohngebäude auf dem der Klägerin zu 1) gehörenden Grundstück FlNr. 587 beträgt ca. 12,4 m. Das Wohngebäude ist auf allen Seiten von Gartenfläche umgeben ist und weist laut Bauantrag eine Geschossfläche von E + 1 sowie eine Firsthöhe von 10,50 m auf. Zudem steigt das Gelände nach Angabe der Beklagten nach Süden hin an, sodass das Wohngebäude auf dem Grundstück FlNr. 587 ca. 0,80 m höher als der Vorhabenstandort liegt. Ein Geländeanstieg lässt sich anhand der Karten der Bayerischen Vermessungsverwaltung nachvollziehen. Folglich würde das Wohngebäude das Vorhaben bei nahezu gleicher Firsthöhe aufgrund der Topographie sogar überragen. Da eine „erdrückende“ Wirkung jedoch grundsätzlich erst dann angenommen wird, wenn der Baukörper erheblich höher als das betroffene Gebäude liegt, ist ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot im Hinblick auf die Klägerin zu 1) zu verneinen.
Der Abstand des Vorhabens zu den westlich gelegenen Wohngebäuden auf den Grundstücken FlNr. …/11, …/14, …/15 und …/16, die im Eigentum der Kläger zu 2) bis 6) stehen, beträgt ca. 7,2 m. Die Wohngebäude weisen laut den Bauanträgen eine Geschossfläche von E + 1 und eine Firsthöhe von 8,25 m auf. Der Unterschied zum Vorhaben beträgt damit nur ein Geschoss und 2,36 m hinsichtlich der Höhe. Der Baukörper ist damit jedenfalls nicht erheblich höher als die betroffenen Wohngebäude. Zudem ist die Sicht der Kläger zu 2) bis 6) durch das Vorhaben nur nach Osten und damit auf die Seite eingeschränkt, auf der die asphaltierte Zufahrt zu den jeweiligen Anwesen erfolgt (Grundstück FlNr. …/17). Nach Westen, wo die Gärten und Terrassen der Wohngebäude liegen, ist weiterhin eine freie Sicht gegeben. Gegen eine „erdrückende“ Wirkung des Vorhabens spricht des Weiteren die „pyramidenförmige“ Bebauung der westlichen Außenwand. Auch wenn die Abstandsflächen aufgrund der Nichtberücksichtigung der Terrassenumwehrungen nicht eingehalten wurden, geht von ihnen im Vergleich zu einer Außenwand, an die sofort das Gebäudeinnere anschließt, eine optisch weniger bedrängende Wirkung aus. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Wohngebäude auf den Grundstücken FlNr. …/11, …/14, …/15 und …/16 als Reihenhäuser errichtet wurden und der gesamte Baukörper von Norden nach Süden eine Länge von ca. 34 m – und damit eine größere Länge als die westliche Außenwand mit ca. 30 m – aufweist, was dazu führt, dass die Wohngebäude der Kläger zu 2) bis 6) ausgehend von der L.-Allee selbst als „Riegel“ wahrgenommen werden. Von einer dominanten Wirkung des Vorhabens in Bezug auf die westlich gelegenen Wohngebäude kann daher nicht gesprochen werden. Eine unzumutbare Beeinträchtigung und damit ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ist deshalb auch hinsichtlich der Grundstücke der Kläger zu 2) bis 6) nicht gegeben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 und 2 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Mit der Stellung eines Antrags hat sich die Beigeladene dem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt. Es entspricht daher billigem Ermessen, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten von den Klägern erstattet erhält, § 162 Abs. 3 VwGO.
3. Der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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