Baurecht

Nachbarklagen gewerblicher Betriebe gegen Wohnnutzung im Kerngebiet

Aktenzeichen  9 ZB 20.213

Datum:
6.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20924
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 31
BauNVO § 7, § 15

 

Leitsatz

1. Maßstab für die Gebietsverträglichkeit eines Bauvorhabens ist nicht nur das Nachbar- bzw. Baugrundstück, sondern die Wahrung der allgemeinen Zweckbestimmung im jeweiligen Baugebiet. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur (§ 7 Abs. 1 BauNVO). Sie dienen darüber hinaus in beschränktem Umfang auch dem Wohnen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 3 K 18.2386, AN 3 K 19.2376 2019-12-05 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Anträge auf Zulassung der Berufung werden abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 30.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin ist Eigentümerin verschiedener Grundstücke, auf denen sich insbesondere ein Einkaufszentrum mit Stellplätzen sowie eine Ladenpassage befindet, und wendet sich jeweils gegen eine der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung zur Sanierung und Umnutzung des Gebäudes „H* …straße …“ zu einer Kindertagesstätte, den Teilabriss der Innenhofbebauung, den Neubau eines Wohngebäudes mit sechs Wohneinheiten im Innenhof sowie den Neubau eines Wohngebäudes mit 13 Wohneinheiten an der W* … … auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung E* … Die hiergegen erhobenen Klagen wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5. Dezember 2019 ab. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass der Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin nicht verletzt werde und das Bauvorhaben keinen unzumutbaren Belästigungen oder Störungen durch die von den Betrieben der Klägerin ausgehenden Emissionen ausgesetzt sei. Mit ihren Anträgen auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die Anträge auf Zulassung der Berufung haben keinen Erfolg. Es liegen weder die von der Klägerin geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Die Rechtssache hat auch nicht die von der Klägerin behauptete grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
1. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was der Kläger innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel hier nicht.
a) Die Klägerin ist der Ansicht, das Verwaltungsgericht habe einen fehlerhaften Obersatz gebildet. Entgegen dem Vortrag im Zulassungsvorbringen ergibt sich aus den Urteilsgründen aber nicht, dass das Verwaltungsgericht bei der Prüfung des § 31 BauGB einen falschen Prüfungsmaßstab angewendet hätte. Das Verwaltungsgericht hat das Bauvorhaben als Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO behandelt und ist zutreffend davon ausgegangen, dass das hier nach dem Bebauungsplan Nr. 253 der Beklagten festgesetzte Kerngebiet „auch in beschränktem Umfang dem Wohnen“ dient (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – juris Rn. 11). Darüber hinaus hat es zutreffend im Rahmen der Gebietsverträglichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14.10 – juris Rn. 14 ff.) auf die Wohnnutzungen im Plangebiet und nicht nur auf das Baugrundstück abgestellt. Denn Maßstab für die Gebietsverträglichkeit des Bauvorhabens ist nicht nur das Nachbar- bzw. Baugrundstück, sondern die Wahrung der allgemeinen Zweckbestimmung im jeweiligen Baugebiet (vgl. BVerwG, U.v. 21.3.2002 – 4 C 1.02 – juris Rn. 12).
b) Dem Zulassungsvorbringen lässt sich nicht entnehmen, dass das Verwaltungsgericht den Gewerbelärm fehlerhaft (nicht) berücksichtigt hätte. Das Verwaltungsgericht hat die Emissionen des Lesecafés sowie die Situierung des Bauvorhabens berücksichtigt und darauf abgestellt, dass die besonders schutzwürdigen Räume vom umliegenden Gewerbelärm abgeschirmt errichtet würden. Es hat ferner darauf abgestellt, dass die immissionsschutzfachlichen Stellungnahmen vom 1. März 2018 und vom 13. September 2018 auf die Anlagengeräusche und die Emissionen anliegender Gewerbe eingehen. Dem tritt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert entgegen; vielmehr werden in den immissionsschutzfachlichen Stellungnahmen bei Beurteilung der Anlagengeräusche ausdrücklich Lärmimmissionen durch zahlreiche Betriebe sowie unter dem Punkt „Emissionen anliegender Gewerbe“ ausdrücklich die „H* …straße …“, unter deren Adresse sich die Altstadtpassage der Klägerin befindet, genannt und bewertet. Anhaltspunkte oder Ausführungen dazu, welche (weiteren) Emissionen von den Betrieben der Klägerin ausgehen, die Einfluss auf die Gebietsverträglichkeit oder die Beurteilung des Rücksichtnahmegebots haben könnten, lassen sich dem Zulassungsvorbringen nicht entnehmen. Soweit im Zusammenhang mit verhaltensbezogenem Lärm darauf abgestellt wird, dass dieser aufgrund des Innenstadtcharakters durch Personen im öffentlichen Raum auftrete, ist insoweit kein Verstoß gegen Nr. 7.4 TA Lärm dargelegt. Denn maßgebend ist die Frage, ob entsprechender Lärm noch dem Ziel- oder Quellverkehr des Gewerbebetriebs zurechenbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 9.4.2003 – 6 B 12.03 – juris Rn. 10). Hiermit setzt sich das Zulassungsvorbringen aber nicht auseinander.
c) Soweit die Klägerin eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots geltend macht, bleiben die Anträge auf Zulassung der Berufung ebenfalls erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat darauf abgestellt, dass bezüglich des Einkaufszentrums „K* …“ der Klägerin schon keine heranrückende Wohnbebauung vorliege; dem tritt das Zulassungsvorbringen nicht entgegen. Bezüglich der Altstadtpassage der Klägerin stellt das Verwaltungsgericht auf eine abschirmende Bauweise des Bauvorhabens, die Entfernung sowie Einschränkungen aufgrund von (immissionsschutzrechtlichen) Auflagen aus der gaststättenrechtlichen Erlaubnis vom 16. Oktober 2018 ab; dem tritt das Zulassungsvorbringen ebenfalls nicht substantiiert entgegen. Unabhängig davon, dass nicht zu beanstanden ist, dass das Verwaltungsgericht die Beweislast für eine uneingeschränkte Baugenehmigung bei der Klägerin, die sich auf deren Geltung ohne einschränkende Nebenbestimmungen beruft, verortet (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.1993 – 4 B 120.93 – juris Rn. 5), kommt es hierauf aufgrund der obigen Aspekte nicht entscheidungserheblich an. Darüber hinaus stellt das Rücksichtnahmegebot auf die (Un-) Zulässigkeit im Einzelfall ab und zwar sowohl für die allgemein zulässigen als auch für die ausnahmsweise zulässigen Bauvorhaben (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Oktober 2020, § 15 BauNVO Rn. 6). Dass das Verwaltungsgericht hierbei von einem falschen Prüfungsmaßstab ausgegangen sei, legt das Zulassungsvorbringen nicht dar.
2. Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Die im Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen lassen sich, soweit sie überhaupt entscheidungserheblich sind, ohne weiteres und mit zweifelsfreiem Ergebnis im Zulassungsverfahren klären. Besondere Schwierigkeiten im Sinne offener Erfolgsaussichten eines Berufungsverfahrens ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht; die unterschiedliche Bewertung des vorliegenden Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht und die Beklagte genügt hierfür nicht (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493 – juris Rn. 26). Dass sich die Gewerbebetriebe der Klägerin auf mehreren verschiedenen Grundstücken in unterschiedlicher Höhenlage befinden, durch eine öffentliche Straße getrennt und über eine Passerelle verbunden sind, zeigt per se keine besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten auf. Gleiches gilt in rechtlicher Hinsicht für die Einordnung von Gewerbelärm, der im Rahmen von Bauvorhaben regelmäßig Gegenstand baurechtlicher Klagen ist; im Übrigen hat das Verwaltungsgericht zutreffend auf ein vermindertes Schutzniveau der Wohnbebauung im Kerngebiet abgestellt (vgl. BayVGH, U.v. 5.7.2017 – 2 B 17.824 – juris Rn. 43). Auch der Prüfungsmaßstab des § 31 Abs. 1 BauGB sowie die Frage der Gebietsverträglichkeit ist nach obigen Maßstäben und entsprechend der obigen Ausführungen nicht per se rechtlich schwierig. Die Rechtssache weist insoweit keine entscheidungserheblichen Fragen auf, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereiten, sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren herausheben (vgl. BayVGH, B.v. 2.2.2021 – 9 ZB 18.1513 – juris Rn. 12 m.w.N.).
Die Trennung von Verfahren nach § 93 Satz 2 VwGO steht im Ermessen des Gerichts. Besondere rechtliche Schwierigkeiten ergeben sich hieraus nicht, zumal die Geltendmachung von Nachbarrechten für zum Baugrundstück unterschiedlich gelegene Grundstücke auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Dass infolge der Trennung der Verfahren durch das Verwaltungsgericht der Sachentscheidung ein Fehler anhaftet (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 93 Rn. 8), ist weder dargelegt noch ersichtlich.
3. Die Rechtssache hat nicht die von der Klägerin geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete, noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr eine allgemeine, über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 2.3.2021 – 9 ZB 19.793 – juris Rn. 15).
Die Frage, ob ein Kerngebiet auch durch „Wohnen“ geprägt wird, ist weder entscheidungserheblich, noch klärungsbedürftig. Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur (§ 7 Abs. 1 BauNVO). Sie dienen darüberhinaus in beschränktem Umfang auch dem Wohnen (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – juris Rn.11).
Im Übrigen formuliert das Zulassungsvorbringen schon keine konkreten Fragen. Maßgebend für die Anwendung von Nr. 7.4 TA Lärm ist die Frage, ob Lärm noch dem Ziel- oder Quellverkehr des Gewerbebetriebs zurechenbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 9.4.2003 – 6 B 12.03 – juris Rn. 10). Die Frage ist damit nicht entscheidungserheblich. Das Verwaltungsgericht hat dies hier bezüglich verhaltensbezogenem Lärm von Passanten verneint; ob dies zutreffend ist, ist eine Frage des Einzelfalls und einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Ebenso ist die Frage des Prüfungsmaßstabs des § 31 Abs. 1 BauGB nicht klärungsbedürftig (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1998 – 4 C 16.97 – juris Rn. 16; U.v. 2.2.2012 – 4 C 14.10 – juris Rn. 14 ff.; U.v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 – juris Rn. 18 ff.; vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 31 Rn. 25).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene einen wesentlichen Beitrag im Zulassungsverfahren geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2021 – 9 C 20.214).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit dieser Entscheidung werden die angegriffenen Urteile des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben