Baurecht

nähere Umgebung, überbaubare Grundstücksfläche, Bebauungstiefe

Aktenzeichen  2 ZB 21.1562

Datum:
10.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3140
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
BauNVO § 23

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 8 K 19.3921, M 8 K 19.3922 2021-04-12 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 12.500,– Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung nach §§ 124, 124a Abs. 4 VwGO hat keinen Erfolg, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht vorliegen.
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts begegnet im Rahmen der dargelegten Zulassungsgründe keinen ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Senat teilt die Auffassung des Erstgerichts, dass die Ablehnung des Bauantrags mit Bescheid vom 11. Juni 2019 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO).
a) Das Erstgericht hat offengelassen, ob das übergeleitete Bauliniengefüge des Bebauungsplans (§ 173 Abs. 3 Bundebaugesetz – BBauG -, § 233 Abs. 3 BauGB) mit der dort vorhandenen rückwärtigen Baugrenze wirksam ist, weil eine Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens im Weg der Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB ausscheidet. Der Senat hat große Zweifel, ob das Bauliniengefüge angesichts der mittlerweile zahlreich vorhandenen Durchbrechungen nicht funktionslos geworden ist. Jedenfalls ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass eine Befreiung bei einer unterstellten Wirksamkeit ausscheidet, weil die Grundzüge der Planung im Sinn von § 31 Abs. 2 Halbs. 1 BauGB berührt sind, nicht zu beanstanden. In der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze kann ein Grundzug der Planung gesehen werden. Im Bauliniengefüge ist ein straßennaher Bauraum festgesetzt, der erkennbar dazu dient, eine Bebauung mit beschränkter Tiefe in dem Geviert zu ermöglichen und gleichzeitig das Geviertsinnere von Bebauung freizuhalten. Dass bei einer unterstellten fortwirkenden Ordnungsfunktion des Bauliniengefüges dieser Grundsatz der Planung durch eine Befreiung nicht berührt sein sollte, wird vom Zulassungsschriftsatz nicht substantiiert dargelegt.
Im Übrigen ist die Klägerin auch der Auffassung, dass die ihrer Ansicht nach tatsächlich überholte festgesetzte rückwärtige Baugrenze nicht als eigenständiger Grund für die Klageabweisung herangezogen hätte werden dürfen. Konsequenz daraus ist, dass sich die Zulässigkeit ihres Bauvorhabens allein nach § 34 BauGB bemisst.
b) Hinsichtlich der Ablehnung des Bauvorhabens wegen des fehlenden Einfügens in die nähere Umgebung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthält das Urteil eine Mehrfachbegründung. Das Vorhaben würde dem Verwaltungsgericht zufolge sowohl eine Baugrenze als auch die Bebauungstiefe überschreiten. Der Senat teilt jedenfalls die zweite Begründung des Erstgerichts.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich auch nach der „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass es insoweit auf die konkrete Größe der Grundfläche des in Frage stehenden Vorhabens und auch auf seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung, also auf den Standort des Vorhabens ankommt (vgl. BVerwG, B.v. 12.8.2019 – 4 B 1/19 – juris; B.v. 22.9.2016 – 4 B 23.16 – juris). Ob eine rückwärtige Bebauung eines Grundstücks zulässig ist, hängt im Wesentlichen davon ab, in welchem Umfang die den Maßstab bildenden umliegenden Grundstücke eine rückwärtige Bebauung aufweisen (BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – juris Rn. 7). Zur näheren Konkretisierung kann insofern auf die Begriffsbestimmungen in § 23 BauNVO zur „überbaubaren Grundstücksfläche“, die wiederum gemäß § 23 Abs. 4 BauNVO auch durch Festsetzung der Bautiefe bestimmt werden kann, zurückgegriffen werden (BVerwG, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50.08 – ZfBR 2009, 693). Nach § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO ist die Bebauungstiefe von der tatsächlichen Straßengrenze aus zu ermitteln (vgl. BVerwG, B.v. 12.8.2019 – 4 B 1.19 – juris). Konsequenz ist daher, dass die Reichweite der näheren Umgebung auf diejenigen Grundstücke beschränkt ist, die durch die gleiche Erschließungsstraße erschlossen sind und in der Regel auch auf der gleichen Straßenseite liegen (vgl. Johlen in Berliner Kommentar zum BauGB, Stand April 2021, § 34 Rn. 36; OVG Lüneburg, B.v. 26.8.2019 – 1 LA 41/19 – juris).
An diese Grundsätze hat sich das Verwaltungsgericht gehalten und ist unter dem Eindruck des Augenscheins zu dem Ergebnis gekommen, dass die nähere Umgebung durch die Anwesen T. … straße 2 im Süden bis zum Anwesen T. … straße 16 im Norden zu bilden ist. Diese bilde eine abgrenzbare städtebauliche Struktur in Form einer einzeiligen Bebauung, die von der T. … straße erschlossen werde. Die maximale Bebauungstiefe werde durch die Anwesen T. … straße 8 und 10/10a vorgegeben und würde von dem streitgegenständlichen Vorhaben deutlich überschritten. Dies ist für den Senat anhand der vorliegenden Karten und Luftbilder nachvollziehbar. Ob von dem Grundsatz, dass die nähere Umgebung bei der Bebauungstiefe auf diejenigen Grundstücke beschränkt ist, die durch die gleiche Erschließungsstraße erschlossen sind und in der Regel auch auf der gleichen Straßenseite liegen, eine Ausnahme zu machen ist, wenn sich gegenüberliegende Bebauungszeilen „verzahnen“, kann hier offenbleiben. Denn für die von der Klägerin angeführten Anwesen G. … straße 21a und 23, die im Nordosten des Baugrundstücks liegen, kann eine solche „Verzahnung“ hinsichtlich der Bebauungstiefe nicht festgestellt werden. Aus den dem Senat vorliegenden Plänen wird deutlich, dass sich hier die im Nordosten liegende Bebauungszeile nicht verzahnen, sondern vielmehr der vom Erstgericht im Augenschein festgestellte Grünbereich eine Prägung des Baugrundstücks hinsichtlich der Bautiefe durch die im Nordosten liegende Bebauungszeile verhindert.
Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das Verwaltungsgericht angenommen hat, dass das Vorhaben aufgrund seiner Vorbildwirkung zu städtebaulichen Spannungen führen würde und deshalb bauplanungsrechtlich unzulässig ist. Diesen Ausführungen ist die Klägerin nicht substantiiert entgegengetreten. Vielmehr hat sie ausdrücklich festgestellt, dass es ihrer Auffassung nach auf die Ausführungen unter 2.3 (Rn. 44 bis 46) des Urteils nicht ankäme.
2. Die erstinstanzliche Entscheidung weicht nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab und beruht deshalb nicht auf einer solchen Abweichung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Die Rüge der Divergenz erfordert die Darstellung eines Widerspruchs zwischen zwei abstrakt formulierten Rechtssätzen. Der eine Rechtssatz muss der angegriffenen Entscheidung entnommen werden und dort tragend sein, der andere – von dem abgewichen worden sein soll – muss einem Judikat eines in der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gericht entnommen werden und dort ebenfalls tragend gewesen sein. Die Klägerin entnimmt der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs den Rechtssatz, wonach bei einer höchst unterschiedlichen Bebauung ohne gemeinsame vordere oder hintere Gebäudeflucht nicht von einer faktischen vorderen bzw. rückwärtigen Baugrenze gesprochen werden könne, es vielmehr wegen der einschränkenden Wirkung auf das Grundeigentum für die Annahme einer solchen faktischen Baugrenze hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation bedürfe und die vorhandene Bebauung kein „bloßes Zufallsprodukt“ ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert sein dürfe. Das Verwaltungsgericht hat jedoch seine Entscheidung nicht nur mit Blick auf eine Überschreitung der Baugrenze begründet, sondern kumulativ damit, dass die Bebauungstiefe überschritten worden sei. Jedenfalls dieser zweite Begründungsstrang ist, wie oben dargelegt wurde, nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung erfolgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben