Baurecht

Obdachlosenunterkunft im Gewerbegebiet gebietsunverträglich

Aktenzeichen  M 11 SN 19.2878

Datum:
28.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34674
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 1
BauNVO § 8 Abs. 3 Nr. 2

 

Leitsatz

Eine Obdachlosenunterkunft ist als Anlage für soziale Zwecke in einem Gewerbegebiet gebietsunverträglich (Rn. 25).
1. Nach dem Leitbild der Baunutzungsverordnung ist ein Gewerbegebiet den produzierenden und artverwandten Nutzungen vorbehalten. Mit einer Obdachlosenunterkunft, die eine „wohnähnliche“ Nutzung darstellt, ist das nicht vereinbar. (Rn. 26 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Obdachlosenunterkunft erfüllt – ebenso wie Unterkünfte für Asylbewerber – nicht die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien für die Annahme einer Wohnnutzung. Um eine solche handelt es sich nämlich nur dann, wenn eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gegeben sind. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 14. Juni 2019 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. April 2019 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt, je zur Hälfte.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Nutzungsänderung eines ehemaligen Wasserturms in eine Obdachlosenunterkunft.
Das streitgegenständliche Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung …burg liegt westlich der …straße in einem ehemaligen Bahnareal. Es besteht im Wesentlichen aus einem Wegestück, an dessen Ende sich ein Wasserturm befindet. Eigentümerin ist die beigeladene Gemeinde. Das nördlich und westlich angrenzende Grundstück Fl.Nr. … steht im Eigentum der Antragstellerin. Es ist mit einem Gebäude bebaut, in dem der Ehemann der Antragstellerin eine Heizungs- und Sanitärfirma betreibt und in dem sich auch eine Betriebsleiterwohnung befindet. Das 1997 genehmigte Gebäude der Antragstellerin ist unmittelbar an den Wasserturm gebaut worden. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … „…berg …str. …str.“ aus dem Jahr 2006, der als Art der baulichen Nutzung für die beiden Grundstücke ein Gewerbegebiet (GE) festsetzt. Unmittelbar südlich der Grundstücke und östlich der Straße setzt der Bebauungsplan Mischgebiete (MI) fest.
Die Beigeladene stellte unter dem 28. Juni 2018 einen Bauantrag. Mit Beschluss des Gemeinderats vom 10. Juli 2018 erteilte die Gemeinde das gemeindliche Einvernehmen. Mit Schreiben vom 9. Juli 2018 und vom 6. August 2018 wandte sich die Antragstellerin mit Einwendungen an die Gemeinde und das Landratsamt. Der Wasserturm werde von der Beigeladenen widerrechtlich zu Wohnzwecken genutzt. Eine Obdachlosenunterkunft wirke sich negativ auf den Heizungs- und Sanitärbetrieb aus, da Müll, Lärm und ein Imageschaden zu befürchten seien.
Mit Bescheid vom 18. April 2019, der Antragstellerin zugestellt am 16. Mai 2019, erteilte das Landratsamt der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Das Vorhaben sei im festgesetzten Gewerbegebiet als Anlage für soziale Zwecke ausnahmsweise zulässig. Bei dem ehemaligen Wasserturm mit nachgewiesener Wohnnutzung sei von einer legalen Errichtung auszugehen, weil das Vorhaben zum damaligen Zeitpunkt dem Fachrecht (Eisenbahnrecht) unterlegen habe. Wegen des zwischenzeitlichen Bebauungsplanverfahrens sei von einer eisenbahnrechtlichen Entwidmung des betroffenen Grundstücks auszugehen, sodass das Gebäude erstmals den gesetzlichen Abstandsflächenregelungen unterfalle. Die geplante Obdachlosenunterkunft sei auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in Richtung Norden und Westen zum Grundstück Fl.Nr. … könne aufgrund des vorhandenen Gebäudebestandes zugelassen werden. Der Wasserturm mit einer Wohn- bzw. wohnähnlichen Nutzung durch den Bahnwärter und seine Familie habe bereits vor der Errichtung des Nachbargebäudes auf dem Grundstück Fl.Nr. … bestanden. Auch dieses halte die Abstandsflächen nicht ein. Eine Abweichung von den Brandschutzvorschriften bezüglich der nördlichen Außenwand könne erteilt werden, da es sich nur um bestehende Öffnungen im Flur- bzw. Treppenhausbereich handle, in denen sich keine Brandlasten befänden.
Am 14. Juni 2019 hat die Antragstellerin Klage gegen den Bescheid des Landratsamts erhoben. Zugleich beantragt sie,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 14. Juni 2019 gegen den Baugenehmigungsbescheid des Antragsgegners vom 18. April 2019 (Aktenzeichen: … …*) zu Nutzungsänderung eines ehemaligen Wasserturms (Bahnanlage) in eine Obdachlosenunterkunft anzuordnen.
Zur Begründung wird vorgetragen, dass das Gebäude seit einigen Jahren leer stehe und seitdem weder (formell rechtmäßig) zu Wohn- noch zu Bahnzwecken genutzt worden sei. Das Gebäude der Beigeladenen mit einer Traufhöhe von ca. 12,20 m sei mit seiner östlichen Außenwand kommun an die westliche Außenwand des Wohngebäudes der Antragstellerin auf einer Länge von ca. 6 m angebaut. Es halte zur nördlichen und westlichen Grundstücksgrenze hin einen Abstand von ca. 2 m ein. Das auf dem Grundstück Fl.Nr. … befindliche nördliche Gebäude werde als Gewerbebetrieb für den Heizungsbau mit Werkstätte und Lagerhalle genutzt. Der unmittelbar an den Wasserturm angrenzende südliche Gebäudeteil mit einer Traufhöhe von ca. 6,10 m werde zu Wohnzwecken des Betriebsleiters und seiner Familie genutzt. Eine Obdachlosenunterkunft sei im Gewerbegebiet gebietsunverträglich und somit weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig. Die beabsichtigte wohnähnliche Unterbringung von Obdachlosen stehe im Widerspruch zu der allgemeinen Zweckbestimmung eines Gewerbegebiets. Obdachlosenunterkünfte seien zwar als Anlagen für soziale Zwecke zu qualifizieren. Sie seien jedoch dem Wohnen ähnlich. Ein Beispiel für die beabsichtigte dauerhafte/langfristige Unterbringungsdauer sei etwa die seit dem Jahr 2014 erfolgende Unterbringung eines Obdachlosen im streitgegenständlichen Gebäude durch die Beigeladene, bisher jedenfalls ohne baurechtliche Gestattung. Das Vorhaben sei außerdem wegen seiner Aufnahmekapazität auf drei Vollgeschossen dem Umfang nach unzulässig. Schließlich sei es auch unzulässig, weil durch seine Zulassung der Gebietscharakter kippen würde. Es handle sich um die einzige mittels Bebauungsplan überplante Gewerbefläche innerhalb des Ortsteils, deren Erhalt daher besonders schützenswert sei. Das Vorhaben sei darüber hinaus im konkreten Einzelfall unzulässig. Der Betrieb auf dem Grundstück der Antragstellerin habe mit immissionsschutzrechtlichen Anordnungen zu rechnen, um gegenüber der heranrückenden wohnähnlichen Nutzung einen ausreichenden Lärmschutz zu gewährleisten. Dies sei eine unzumutbare Belastung für den Gewerbebetrieb und verstoße damit gegen das Rücksichtnahmegebot. Bei der erteilten Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften sei nicht berücksichtigt worden, dass der soziale Wohnfriede durch die erhöhten Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück der Antragstellerin gestört werde. Dass der Turm zu irgendeinem Zeitpunkt vom Bahnwärter und seine Familie bewohnt worden sein soll, könne dabei keine Rolle spielen, da diese Nutzung, sofern sie überhaupt in zulässiger Weise erfolgt sei, lange aufgegeben worden sei und insoweit keinen Bestandsschutz mehr genieße. Diverse Meldebescheinigungen würden nicht dazu führen, dass eine im Wasserturm stattfindende Wohnnutzung als rechtmäßige und seit jeher bestehende Vorbelastung anzusehen sei. Bei der erteilten Abweichung von den Brandschutzvorschriften sei nicht berücksichtigt worden, dass es auch aus Flur- bzw. Treppenhausbereichen heraus zu Brandüberschlägen durch Öffnungen in Brandwänden kommen könne, insbesondere wenn sich die Öffnung lediglich in einer Entfernung von ca. 2 m zur nachbarlichen Grundstücksgrenze befinde. Schließlich sei die Baugenehmigung wegen Fehlens bzw. Unvollständigkeit der Bauvorlagen im Hinblick auf den Nachbarschutz zu unbestimmt. Aus der Baugenehmigung lasse sich nicht mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen, was Gegenstand der Obdachlosenunterkunft sein solle, insbesondere sei nicht erkennbar, wie viele Personen maximal in dem Wasserturm unterkommen sollen. Dies gehe wieder aus den Plänen noch aus der zugrundeliegenden Betriebsbeschreibung hervor. Ersichtlich sei lediglich, dass zwei Zimmer eingezeichnet seien.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird unter Verweis auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vorgetragen, dass die angefochtene Baugenehmigung keine nachbarlichen Rechte verletze.
Die Beigeladene beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird vorgetragen, dass das Vorhaben nicht gebietsunverträglich sei. Obdachlosenunterkünfte würden lediglich der vorübergehenden Unterbringung obdachlos gewordener Menschen dienen. Hierzu wird auch auf die beabsichtigte Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung der Beigeladenen verwiesen. Sie seien anders als etwa ein Seniorenpflegeheim nicht auf eine längere wohnähnliche Verweildauer ausgerichtet. Ein Kippen des Gebietscharakters sei nicht zu befürchten, da auf allen anderen Grundstücken eine gewerbliche Nutzung stattfinde und das Vorhaben schon wegen seiner sehr geringen Größe von 6,38 m x 3,28 m Grundfläche zu unbedeutend sei. Daher würden durch die Zulassung keine unzumutbaren Zustände für die Antragstellerin geschaffen. Das Vorhaben verfüge lediglich über zwei Einzelzimmer mit jeweils ca. 5 m² sowie eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsbad mit jeweils ca. 2 m². Es handle sich um eine typische Notunterkunft, die schon ihrer Größe und Ausstattung nach nicht auf eine längere Verweildauer ausgerichtet sei. Dass sich ein Obdachloser dort bereits seit 2014 aufhalte, treffe zwar zu, sei aber auch der Beigeladenen völlig unverständlich. Unzumutbare Belastungen im Sinne von Betriebseinschränkungen seien nicht zu befürchten. Zum einen müsse der Heizungs- und Sanitärbetrieb bereits auf die Wohnbebauung im südlich und östlich angrenzenden Mischgebiet Rücksicht nehmen. Zum anderen sei ein solcher Betrieb, der auch viele Arbeiten vor Ort bei Kunden durchführe, nicht besonders lärmintensiv, jedenfalls nicht in den Nachtstunden. Auf dem Grundstück der Antragstellerin selbst befinde sich zudem eine Betriebsleiterwohnung. Ein ausreichender Sozialabstand sei auch durch die Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften gewährleistet. Lediglich die Fenster des Treppenhauses seien nach Norden zum Grundstück der Antragstellerin hin ausgerichtet. Die Zimmer der Aufenthaltsräume (Bewohnerzimmer, Küche) seien demgegenüber nach Süden ausgerichtet. Darüber hinaus sei es treuwidrig, wenn sich die Antragstellerin auf Abstandsflächenüberschreitungen berufe, selbst aber an zwei Seiten und deutlich größer dimensioniert an die gemeinsame Grundstücksgrenze gebaut habe. Hinsichtlich der Abweichung von den Brandschutzvorschriften wird auf den Bescheid verwiesen. Die Baugenehmigung sei schließlich nicht zu unbestimmt. In der Planzeichnung sei für jedes der beiden sehr kleinen Zimmer ein Bett eingezeichnet. Die Unterkunft werde damit von maximal zwei Personen genutzt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakte in diesem sowie im zugehörigen Klageverfahren M 11 K 19.2877 Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Er ist zulässig und begründet.
Gemäß § 212a Abs. 1 BauGB hat die Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Jedoch kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen. Hierbei kommt es auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn an der sofortigen Ausnutzung der Baugenehmigung mit den Interessen des Dritten, keine vollendeten, nur schwer wieder rückgängig zu machenden Tatsachen entstehen zu lassen, an. Im Regelfall ist es unbillig, einem Bauwilligen die Nutzung seines Eigentums durch Gebrauch der ihm erteilten Baugenehmigung zu verwehren, wenn eine dem summarischen Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechende vorläufige Prüfung des Rechtsbehelfs ergibt, dass dieser letztlich erfolglos bleiben wird. Ist demgegenüber der Rechtsbehelf offensichtlich begründet, so überwiegt das Interesse des Antragstellers. Sind die Erfolgsaussichten offen, so kommt es darauf an, ob das Interesse eines Beteiligten es verlangt, dass die Betroffenen sich so behandeln lassen müssen, als ob der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar sei. Bei der Abwägung ist den Belangen der Betroffenen umso mehr Gewicht beizumessen, je stärker und je irreparabler der Eingriff in ihre Rechte wäre (BVerfG, B.v. 18.07.1973 – 1 BvR 155/73, 1 BvR 23/73 – BVerfGE 35, 382; zur Bewertung der Interessenlage vgl. auch BayVGH, B.v. 14.01.1991 – 14 CS 90.3166 – BayVBl 1991, 275).
Die im Eilverfahren auch ohne Durchführung eines Augenscheins mögliche Überprüfung der Angelegenheit anhand der Gerichtsakten sowie der vorliegenden Behördenakten ergibt, dass die Klage der Antragstellerin aller Voraussicht nach Erfolg haben wird. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung ist voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie kann sich erfolgreich auf eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs berufen (a.). Daher überwiegt das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse (b.).
a. Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet oder in einem faktischen Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben unabhängig von den damit verbundenen tatsächlichen Beeinträchtigungen oder Störungen zur Wehr zu setzen (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151 = NJW 1994, 1546; U.v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 – BVerwGE 101, 364 = NVwZ 1997, 384; B.v. 2.2.2000 – 4 B 87/99 – NVwZ 2000, 679; B.v. 18.12.2007 – 4 B 55/07 – NVwZ 2008, 427). Diese Voraussetzungen liegen vor, da das streitgegenständliche Vorhaben nach der Art der baulichen Nutzung planungsrechtlich unzulässig ist.
Nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO können im festgesetzten Gewerbegebiet ausnahmsweise Anlagen für soziale Zwecke zugelassen werden. Dabei ist jedoch stets zu beachten, dass der Verordnungsgeber diese Anlagen in erster Linie und in der Mehrzahl anderen Baugebieten zugeordnet und dort als allgemein zulässige Anlagen (vgl. §§ 4, 4a, 5, 6 und 7 BauNVO) qualifiziert hat (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 134. EL August 2019, § 8 BauNVO Rn. 43).
aa) Die Obdachlosenunterkunft ist – wovon auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen – eine Anlage für soziale Zwecke (vgl. auch VG München, U.v. 14.3.2005 – M 8 K 04.4552 – juris Rn. 23).
Obdachlosenunterkünfte dienen der vorübergehenden Unterbringung Nichtsesshafter oder anderer Obdachloser und als Schlafstätten (Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, 4. Aufl. 2019, § 3 Rn. 27). Ebenso wie bei Unterkünften für Asylbewerber, die nach ganz überwiegender Meinung ebenfalls Anlagen für soziale Zwecke sind (vgl. nur BVerwG, B.v. 4.6.1997 – 4 C 2/96 – NVwZ 1998, 173 = juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 09.12.2015 – 15 CS 15.1935 – ZfBR 2016, 169 = juris Rn. 18; VG München, B.v. 23.5.2016 – M 11 S 16.1363 – juris Rn. 63) erfüllt eine Obdachlosenunterkunft nicht die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien für die Annahme einer Wohnnutzung. Um eine solche handelt es sich nämlich nur dann, wenn eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gegeben sind (vgl. BVerwG, B.v. 25.3.1996 – 4 B 302/95 – NVwZ 1996, 893 = juris Rn. 12). Bei der im Bauplanungsrecht gebotenen typisierenden Betrachtungsweise ergeben sich keine durchgreifenden Unterschiede zwischen der Unterbringung von Asylbewerbern und Obdachlosen (vgl. hierzu und zum Folgenden VG Köln, U.v. 11.1.2012 – 23 K 1277/11 – juris Rn. 31). Beide Personengruppen werden aus Notsituationen heraus und aufgrund des Umstandes, dass sie über keine eigene Wohnung verfügen, in Unterkünften untergebracht. In jedem Fall ist dies nicht auf Dauer angelegt, sondern soll durch den Umzug in eine eigene Wohnung oder durch die Beendigung des Aufenthalts beendet werden. Dass dabei aufgrund der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls eine kürzere oder längere staatliche Unterbringung erforderlich ist und angeordnet wird, ist für beide Personengruppen gleichermaßen möglich. Zudem spricht auch bei jeder Form der staatlichen Unterbringung Vieles dafür, dass eine umfassende Möglichkeit der Eigengestaltung der Haushaltsführung nicht gegeben ist.
Die streitgegenständliche Obdachlosenunterkunft ist als vorübergehende Unterbringung obdachlos gewordener Menschen konzipiert (vgl. auch § 1 Abs. 1 Satz 1 der beabsichtigten Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung der Beigeladenen, Blatt 63 ff. der Behördenakte). Folglich fehlt es an einer auf Dauer angelegten Häuslichkeit. Dagegen spricht nicht notwendigerweise der Umstand, dass sich offenbar eine obdachlose Person seit 2014 in dem Wasserturm aufhält. Es zeigt aber, dass im Einzelfall auch eine längere staatlich angeordnete Unterbringung erforderlich werden kann. Gegen die Annahme einer Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sprechen das aus den Eingabeplänen ersichtliche Gemeinschaftsbad und die Gemeinschaftsküche.
bb) Die Obdachlosenunterkunft ist jedoch gebietsunverträglich.
Auch wenn Obdachlosenunterkünfte als Anlagen für soziale Zwecke im bauplanungsrechtlichen Sinn angesehen werden können, so sind sie ebenso wie Asylbewerberunterkünfte (vgl. VG München, U.v. 3.6.2014 – M 1 K 14.339 – juris Rn. 17 ff.; BayVGH, U.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832 – juris Rn. 16 m. zahlr. w. N.; a.A. noch die ältere Rechtsprechung, vgl. etwa OVG Lüneburg, B.v. 25.3.1993 – 6 M 1207/93 – NVwZ-RR 1993, 532) mit dem Charakter eines Gewerbegebiets unvereinbar.
Von maßgeblicher Bedeutung für die Frage, welche Vorhaben mit der allgemeinen Zweckbestimmung eines Baugebiets unverträglich sind, sind die Anforderungen des jeweiligen Vorhabens an ein Gebiet, die Auswirkungen des Vorhabens auf ein Gebiet und die Erfüllung des spezifischen Gebietsbedarfs. Entscheidend ist, ob ein Vorhaben dieser Art generell geeignet ist, ein bodenrechtlich beachtliches Störpotenzial zu entfalten, das sich mit der Zweckbestimmung des Baugebiets nicht verträgt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass im Geltungsbereich eines ausgewiesenen Baugebiets grundsätzlich auf jedem Baugrundstück die nach dem Katalog der Nutzungsarten der jeweiligen Baugebietsvorschrift zulässige Nutzung möglich sein soll. Das typische Störpotenzial kann nicht nur im Störgrad, sondern auch in der Störempfindlichkeit eines Vorhabens liegen (BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 17). Gewerbegebiete dienen nach § 8 Abs. 1 BauNVO vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen gearbeitet wird. Nach dem Leitbild der Baunutzungsverordnung ist ein Gewerbegebiet den produzierenden und artverwandten Nutzungen vorbehalten. Es steht Gewerbebetrieben aller Art und damit verschiedenartigsten betrieblichen Betätigungen offen, die vom kleinen Betrieb bis zu industriellen Großbetrieben reichen können, sofern es sich um nicht erheblich belästigende Gewerbebetriebe handelt (BVerwG, a.a.O. Rn. 18).
Mit einer Obdachlosenunterkunft, die ebenso wie die Unterbringung von Asylbewerbern eine „wohnähnliche“ Nutzung (vgl. BayVGH, B.v. 13.6.2017 – 1 ZB 14.1286 – juris Rn. 10; U.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832 – juris Rn. 16) darstellt, ist das nicht vereinbar. Sie steht in keinem funktionalen Zusammenhang mit oder für eine der im Gewerbegebiet zulässigen Hauptnutzungsarten. Im Gegenteil kann die Störempfindlichkeit einer solchen Unterkunft zu einem gewerbebegrenzenden Störpotential führen und damit der Zweckbestimmung gerade dieser Baugebietsart zuwiderlaufen. Daran vermag auch der Hinweis auf die Betriebsleiterwohnung auf dem Grundstück der Antragstellerin nichts zu ändern. Die von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO als ausnahmsweise zulassungsfähig erklärten Wohnungen, „die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber (…) untergeordnet sind“, genießen die Vorteile ihrer betriebsnahen Unterbringung nur unter Inkaufnahme des von den Gewerbetrieben ausgehenden Störpotentials. Damit ist die Unterbringung von Asylbewerbern oder Obdachlosen nicht vergleichbar, da sie gerade nicht dieser Vorteilserlangung dient.
An der Gebietsunverträglichkeit der Obdachlosenunterkunft ändert sich auch durch das Argument nichts, dass die Gewerbebetriebe ohnehin auf die südlich und östlich angrenzenden Mischgebiete Rücksicht zu nehmen hätten. Auf die konkrete Bebauung in der Nachbarschaft kommt es nicht an. Die Gebietsverträglichkeit ist der Einzelfallprüfung auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO vorgelagert (BVerwG, U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 17).
Ebenso kommt es nicht darauf an, ob in dem Wasserturm bereits früher eine legale Wohnnutzung durch den Bahnwärter und seine Familie stattgefunden hat. Ein etwaiger Bestandsschutz könnte durch die Aufgabe der Nutzung erloschen sein. Jedenfalls unterscheidet sich eine Wohnnutzung aber von der Nutzung als Obdachlosenunterkunft durch die Freiwilligkeit des Aufenthalts (s.o. Rn. 22).
Ist das streitgegenständliche Vorhaben demnach bereits allgemein gebietsunverträglich, so kommt es auf konkrete Beeinträchtigungen oder die konkrete Ausführung des Vorhabens nicht mehr an. Auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Abweichungen von den Abstandsflächen- und Brandschutzvorschriften sowie die Frage der Unbestimmtheit der Baugenehmigung bedürfen keiner Entscheidung mehr.
b. Obwohl die Unterbringung von Obdachlosen eine bedeutende Aufgabe zum Wohl der Allgemeinheit darstellt, deren sofortige Erfüllung von besonderem öffentlichem Interesse ist, überwiegt wegen der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorliegend das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse. Das bedeutet, dass die derzeitige Nutzung vorläufig nicht legalisiert werden kann.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und Abs. 8 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Der Streitwert beträgt die Hälfte des im Hauptsacheverfahren voraussichtlich anzusetzenden Streitwerts.


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