Baurecht

Sanierungssatzung, Verkehrssicherheit, Ermessensfehler, Dienstleistung, Kaufvertrag

Aktenzeichen  W 5 K 20.497

Datum:
29.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30663
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 24 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 28 Abs. 2 S. 1, § 136, § 182, § 185
BGB § 138 Abs. 1, § 575
VwGO § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, § 101 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, § 114 S. 1, S. 2, § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3, § 167
GO Art. 52 Abs. 2 S. 1
ZPO § 708 Nr. 11, § 711
GKG § 52 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2017 über die Ausübung des Vorkaufsrechts wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Über die vorliegende Klage konnte im Einverständnis mit den Parteien gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die zulässige Klage hat Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig.
Der Kläger wendet sich gegen den auch ihn belastenden Verwaltungsakt der Ausübung des Vorkaufsrechts durch die Beklagte. Das Vorkaufsrecht wird durch Verwaltungsakt gegenüber dem Veräußerer ausgeübt (§ 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB). Gegen diesen Verwaltungsakt steht auch dem Kläger als Käufer die Anfechtungsklage zu; er kann durch die Ausübung des Vorkaufsrechts in eigenen Rechten verletzt sein (vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg/ Krautzberger, BauGB, Stand: 138. EL Mai 2020, § 28 Rn. 26).
2. Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Bescheid vom 26. Oktober 2017 ist aufzuheben, da die Ausübung des Vorkaufsrechts wegen Nichtausübung des Ermessens ermessensfehlerhaft ist. In den Gründen des Bescheids kommt nicht zum Ausdruck, dass Ermessenserwägungen angestellt wurden. Eine Heilung ist nicht erfolgt.
Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB steht der Gemeinde beim Kauf von Grundstücken in einem förmlich festgesetzten Sanierungsgebiet und städtebaulichen Entwicklungsbereich ein Vorkaufsrecht zu. Die Entscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts liegt gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB im Ermessen der Gemeinde, d.h. sie kann bei Vorliegen der Voraussetzungen ihr Recht ausüben, muss dies aber nicht tun (vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 24 Rn. 66). Ob die gesetzlichen Ausübungsvoraussetzungen erfüllt sind, beurteilt sich nach den konkreten Erwägungen der Gemeinde im Zeitpunkt der Ausübung des Vorkaufsrechts. Gemäß § 114 Satz 1 VwGO prüft das Gericht, ob der Verwaltungsakt deswegen rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Nach § 114 Satz 2 VwGO kann eine Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Letzteres setzt jedoch voraus, dass die Verwaltungsbehörde grundsätzlich erkannt hat, dass ihr ein Ermessen zusteht und dies auch ausgeübt hat.
Ob die Ermessensausübung im Einzelfall pflichtgemäß oder fehlerhaft erfolgte, lässt sich nur anhand der nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG erforderlichen Begründung des Bescheids ermitteln (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 114 Rn. 14 ff.). Eine bezüglich der Ermessensausübung fehlende oder unzureichende Begründung indiziert einen Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch, sofern sich nicht aus den Umständen anderes ergibt.
Im vorliegenden Fall enthält der Bescheid lediglich Ausführungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausübung des Vorkaufsrechts. Dass die Ausübung des Vorkaufsrechts eine Ermessensentscheidung darstellt, kommt im Bescheid an keiner Stelle zum Ausdruck. Weder wird das Wort „Ermessen“ gebraucht noch finden sich inhaltlich Erwägungen zu den öffentlichen Interessen und den gegenläufigen Interessen des Klägers am Erwerb des Grundstücks. Vielmehr deutet die Formulierung: „Zur Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung innerhalb des Sanierungsgebiets im Altort E. macht die Gemeinde E. daher von ihrem Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 BauGB Gebrauch […].“ darauf hin, dass die Beklagte für die Ausübung des Vorkaufsrechts die Rechtfertigung durch das Wohl der Allgemeinheit (§ 24 Abs. 3 BauGB) als ausreichend erachtet. Dies lässt auf einen Ermessensnichtgebrauch schließen.
Selbst wenn man aufgrund der Auseinandersetzung des Gemeinderats in den Gemeinderatssitzungen vom 22. September 2017 (Bl. 60 f. d.A.) und 12. Oktober 2017 (Bl. 62 d.A.) mit den gegen die Ausübung des Vorkaufsrechts sprechenden Argumenten, d.h. vor allem aufgrund der Vermietung des streitgegenständlichen Anwesens, nicht von einem Ermessensausfall ausgehen sollte, ist eine fehlerfreie Ermessensausübung durch die Beklagte nicht zu erkennen.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Ausübung des Vorkaufsrechts ist zwar im Regelfall bereits durch das tatbestandliche Wohl der Allgemeinheit indiziert. Das private Interesse des Käufers, das Grundstück zu erwerben, muss demgegenüber im Regelfall zurücktreten (vgl. BayVGH, U.v. 9.3.2000 – 2 B 96.467 – juris). Die Gemeinde muss jedoch Gründe, die zugunsten eines Erwerbers gegen die Ausübung des Vorkaufsrechts streiten, zumindest dann in ihre Ermessenserwägungen einstellen, wenn diese Gründe über das allgemeine Interesse an der Aufrechterhaltung des ursprünglich geschlossenen Kaufvertrages hinausgehen und der Gemeinde bekannt sind bzw. bekannt sein müssten (vgl. VG Würzburg, U.v. 4.7.2002 – W 5 K 01.379 sowie U.v. 23.7.2015 – W 5 K 14.1105 – beide juris).
Vorliegend lässt die dem Ausübungsbescheid beigegebene Begründung eine sachgerechte Überprüfung, ob die Inanspruchnahme des Grundstücks durch das Wohl der Allgemeinheit auch bei umfassender Einbeziehung der Interessen des Klägers gerechtfertigt ist, nicht zu. Eine Auseinandersetzung mit der besonderen Situation des Klägers als Betroffener des Bescheids hat nicht stattgefunden. Einer solchen Auseinandersetzung hätte es aber bedurft. Der Kläger ist langjähriger Bewohner und Mieter des streitgegenständlichen Hauses. Er hat in einem besonderen Vertrauensverhältnis mit der vormals Beigeladenen, seiner Vermieterin, gestanden. Er hat sich um das Anwesen in ihrer Abwesenheit gekümmert und aller Wahrscheinlichkeit nach schon erhebliche Aufwendungen getätigt. Trotz dieser Gründe, die der Beklagten bekannt waren bzw. hätten bekannt sein müssen, hat diese sich lediglich mit der Frage der Wirksamkeit des bestehenden Mietvertrags im Hinblick auf den Abschluss „auf Lebenszeit“ (Bl. 3 d.A.) beschäftigt, wobei selbst diese Erwägungen keinen Eingang in den streitgegenständlichen Bescheid gefunden haben.
Offen bleibt hierbei auch, ob und wann von Seiten der Beklagten eine Umgestaltung des Grundstücks beabsichtigt ist, noch ob und wie lange der Kläger (einstweilen) als Mieter im Anwesen verbleiben kann oder ob die Beklagte ein Vorgehen gemäß § 182 BauGB (Aufhebung des Mietverhältnisses) beabsichtigt und wie sich in diesem Fall die Frage der im Raum stehenden Entschädigung nach § 185 BauGB auf die Ermessensentscheidung der Gemeinde auswirkt. Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Belangen des Klägers hätte aber Anlass bestanden.
Da eine Erwähnung der privaten Interessen des Klägers vollständig fehlt, hat in den Gründen des Bescheids auch keine Abwägung stattgefunden, so dass vorliegend von einem Ermessensnichtgebrauch auszugehen ist.
Eine Nachholung der Ermessensausübung gemäß § 114 Satz 2 VwGO hat im vorliegenden Fall nicht stattgefunden und ist beim vollständigen Fehlen von Ermessenserwägungen ausgeschlossen (VG München, U.v. 17.12.2014 – M 9 K 13.4815 – juris Rn. 25 m.w.N.). Die Ausführungen im gerichtlichen Verfahren durch die Beklagtenseite sind ungeachtet dessen bereits deshalb keine Ergänzung von Ermessenserwägungen, da der Hinweis auf den langfristigen Mietvertrag des Klägers und die formelhaften Ausführungen zum gemeindlichen Ermessen (vgl. Schriftsatz der Beklagtenbevollmächtigten vom 8. Mai 2018) dazu nicht genügen. Es kann daraus insbesondere nicht hinreichend sicher festgestellt werden, dass bei Erlass des Bescheids das erforderliche Entschließungsermessen ausgeübt wurde.
Ungeachtet dessen, dass vorliegend aufgrund der Regelungen in der Sanierungssatzung grundsätzlich die Inanspruchnahme des Grundstücks durch das Wohl der Allgemeinheit gerechtfertigt werden kann, war der Bescheid wegen der fehlenden Abwägung mit den Interessen des Klägers und dem damit verbundenen Ermessensfehler aufzuheben. Es kommt deshalb auch nicht mehr darauf an, dass der in nicht öffentlicher Sitzung gefasste Beschluss des Gemeinderats nach der Rechtslage in Bayern nicht gegen Art. 52 Abs. 2 Satz 1 GO verstößt (BayVGH, B.v. 8.4.2015 – 15 ZB 13.2564 – BeckRS 2015, 44401). Für die Entscheidung unerheblich ist deshalb außerdem, dass die Sanierungssatzung hinreichend konkret die Sanierungsziele nennt und insoweit auch nach längerer Zeit die Ausübung des Vorkaufsrechts rechtfertigen würde (BVerwG, B.v. 15.3.1995 – 4 B 33/95 – juris; BayVGH, U.v. 6.2.2015 – 2 B 13.2570 – juris).
Der Bescheid vom 26. Oktober 2017, mit dem die Beklagte ihr Vorkaufsrecht ausgeübt hat, ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger als drittbetroffenen Käufer in seinen Rechten.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Nachdem die Beigeladenenseite keinen Antrag gestellt und kein Kostenrisiko übernommen hat, kommt es nicht in Betracht, ihre gegebenenfalls entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen nach § 162 Abs. 3 VwGO der Beklagten aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.


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