Baurecht

Sperrung und Renaturierung einer für den öffentlichen Verkehr genutzten privaten Grundstücksfläche

Aktenzeichen  M 2 K 17.600, M 2 K 17.624

Datum:
17.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2484
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 14 Abs. 1
VwGO § 43
BGB § 275 Abs. 2, § 902 Abs. 1 S. 1, § 903 S. 1
BayStrWG Art. 6 Abs. 1, Abs. 3, Art. 67 Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

1 Das berechtigte Interesse an der Feststellung, zur Sperrung und Beseitigung einer faktisch für den öffentlichen Verkehr genutzten, nicht gewidmeten Wegefläche berechtigt zu sein, kann sich daraus ergeben, dass der Betroffene anderenfalls eine unzulässige Selbsthilfe oder verbotene Eigenmacht begeht. (Rn. 12 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Kann eine zwischen den Beteiligten streitige Frage sachgerecht und ihrem Rechtsschutzinteresse voll Rechnung tragend durch ein Feststellungsurteil geklärt werden, ist die Feststellungsklage nicht subsidiär gegenüber einer Leistungsklage. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die erstmalige Anlegung eines Bestandsverzeichnisses entfaltet regelmäßig nur für solche Grundstücke die Rechtswirkung der Widmungsfunktion, deren Flurnummern in der Eintragung genannt sind. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
4 Eine faktische oder konkludente Widmung kennt das Bayerische Straßen- und Wegerecht nicht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Kläger berechtigt sind, ihre Grundstücke FlNr. … (Kläger zu 1) und FlNr. … (Kläger zu 2), jeweils der Gemarkung …, ab dem 1. Januar 2018 für den öffentlichen Verkehr zu sperren sowie den Straßenkörper zu entsiegeln und zu renaturieren, wobei der Beginn der Sperrung der Beklagten mindestens einen Monat im Voraus schriftlich anzukündigen ist.
II. Die Beklagte hat jeweils die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässigen Feststellungsklagen (I.) haben auch in der Sache Erfolg (II. und III.).
I.
Die Klagen sind nach § 43 Abs. 1 VwGO zulässig.
Die Kläger haben ein verfassungsrechtlich in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelndes berechtigtes Interesse an der Feststellung, zur Sperrung und Beseitigung des Straßenkörpers der S…straße auf ihren Grundstücken berechtigt zu sein. Dabei handelt es sich um ein nach dem Öffentlichen Recht zu behandelndes Rechtsverhältnis zwischen den Klägern und der Beklagten in Bezug auf einen konkreten und gegenwärtigen (straßenrechtlichen) Sachverhalt (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2014 – 8 B 12.2268 – juris Rn. 33 f.).
Liegt eine Wegefläche, die faktisch für den öffentlichen Verkehr genutzt wird, auf einer nicht gewidmeten Grundstücksfläche, handelt es sich um eine tatsächlich-öffentliche Verkehrsfläche. Eine solche Fläche, bei der zumindest aus Sicht der Verkehrsteilnehmer nach den objektiv erkennbaren äußeren Umständen von einer Freigabe zur öffentlichen Verkehrsnutzung auszugehen ist, unterliegt dem Straßenverkehrsrecht, mit der Folge, dass der Grundstücksberechtigte keine Verkehrshindernisse errichten darf (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 27 StVO). Zur Vermeidung der Ausübung unzulässiger Selbsthilfe (§ 229 BGB) oder verbotener Eigenmacht (§ 858 BGB) bei der Sperrung einer tatsächlich-öffentlichen Verkehrsfläche ist der betroffene Grundstückseigentümer oder sonstige Berechtigte darauf verwiesen, zur Wahrnehmung seiner Rechte die vorgesehenen behördlichen und gerichtlichen Mittel zu ergreifen und auf diesem Weg gegen den Straßenbaulastträger die Befugnis zur Ausübung seiner Eigentümerrechte durchzusetzen (vgl. BayVGH, U.v. 26.2.2013 – 8 B 11.1708 – juris Rn. 22 und 31 ff.; VG München, U.v. 13.10.2015 – M 2 K 15.1586 – juris). So liegt der Fall auch hier, da die maßgeblichen Teilflächen der streitgegenständlichen Grundstücke, die im Eigentum der Kläger stehen, als tatsächlich-öffentliche Verkehrsfläche in der Baulast der Beklagten genutzt werden.
Dem Feststellungsbegehren steht auch nicht die grundsätzliche Subsidiarität der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO entgegen, da das Rechtsschutzziel – Feststellung der Berechtigung zur Sperrung und Beseitigung der auf den klägerischen Grundstücken betroffenen Wegeflächen einschließlich deren Renaturierung – in seinem Umfang und Ziel durch eine auf Verpflichtung zur entsprechenden Duldung der Beklagten gerichtete allgemeine Leistungsklage nicht ebenso gut (oder gar besser) erreicht werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2014 – 8 B 12.2268 – juris Rn. 36). Die Feststellungsklage bietet insoweit für die Kläger die Möglichkeit des Rechtsschutzes mit erhöhter Effektivität, da das Feststellungsbegehren zum Bestehen eines Duldungsanspruchs einschließlich sämtlicher damit einhergehenden (straßen-)rechtlichen Einzelfragen vorliegend, anders als in den Fällen der Geltendmachung eines öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruches, selbst den Kern des Rechtsschutzbegehrens bildet und es dabei letztlich um die Gesamtbeurteilung des zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnisse geht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO 23. Aufl. 2017, § 43 Rn 29 m.w.N.). Denn die Feststellungsklage ist auf die umfassende Klärung des Bestehens und des Umfangs des zwischen den Klägern und der Beklagten streitigen straßenrechtlichen Rechtsverhältnisses gerichtet. Kann die zwischen den Parteien streitige Frage sachgerecht und ihrem Rechtsschutzinteresse voll Rechnung tragend durch ein Feststellungsurteil geklärt werden, verbietet es sich, den Kläger auf eine Leistungsklage – hier stünde wohl ein Anspruch der Kläger gegen die Beklagten inmitten, der darauf gerichtet ist, die begehrten Maßnahmen zu dulden, – zu verweisen, in deren Rahmen das Rechtsverhältnis, an dessen selbständiger Feststellung er ein berechtigtes Interesse hat, zum einen nur Teilbzw. Vorfrage wäre und zum anderen die weiteren Elemente des geltend zu machenden Anspruchs gegebenenfalls auch nur untergeordnete Bedeutung hätten (BVerwG, U.v. 26.3.2015 – 7 C 17.12 – juris Rn. 17). So liegt es mit Blick auf das vorstehend Erörterte auch hier. Dazu kommt endlich noch, dass sich vorliegend ein auf § 43 Abs. 2 VwGO gründendes Postulat der Notwendigkeit der Umstellung der erhobenen Feststellungsklagen auf Leistungsklagen, gerichtet auf Verpflichtung der Beklagten zur bloßen Duldung der begehrten Grundstückssperrungen u.ä., sich lediglich in semantischer Förmelei erschöpfte, und auch daher nicht zu überzeugen vermag.
II.
Die Feststellungsanträge sind auch begründet.
Die Kläger sind im Rahmen ihrer aus dem Eigentumsrecht folgenden Rechtsmacht (Art. 14 Abs. 1 GG, § 903 Satz 1 BGB) berechtigt, die Allgemeinheit von der Nutzung der auf ihren Grundstücken befindlichen Teilflächen der S…straße auszuschließen und diese zu sperren, zu entsiegeln und zu renaturieren. Nach § 903 Satz 1 BGB kann der Eigentümer einer Sache, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Im Öffentlichen Recht gilt nichts anderes. Umfasst wird der Anspruch gegenüber dem Störer, hier der Beklagten, jedenfalls die Maßnahmen zu dulden, die nötig sind, die rechtswidrige Eigentumsstörung zu beseitigen (vgl. BVerwG, B.v. 12.7.2013 – 9 B 12.13 – juris Rn. 4).
Das Recht der Kläger zum Ausschluss der Allgemeinheit von der Nutzung der S…straße durch Sperrung der in ihrem Eigentum stehende Teilflächen für den öffentlichen Verkehr ist nicht durch die Eröffnung des Gemeingebrauchs (Art. 14 BayStrWG) infolge einer öffentlich-rechtlichen Widmung oder Widmungsfiktion – nur letztere steht mit Blick auf Art. 67 Abs. 4 BayStrWG vorliegend im Raum – eingeschränkt.
Die von der Beklagten im Zuge der S…straße als tatsächlich-öffentliche Verkehrsfläche in Anspruch genommenen Teilflächen der klägerischen Grundstücke gelten nicht nach Art. 67 Abs. 4 BayStrWG als gewidmet. Maßgeblich für die Eigenschaft der streitbefangenen Wegefläche als öffentliche Verkehrsfläche sind – mangels vorliegend unstreitig nicht erfolgter späterer Widmung nach Art. 6 BayStrWG – sonach die Eintragung im Zuge der Erstanlegung im Bestandsverzeichnisses der Beklagten nach Art. 67 Abs. 3 BayStrWG. Liegt eine solche Eintragung unanfechtbar vor, so gilt die Zustimmung nach Art. 6 Abs. 3 Alt. 3 BayStrWG als erteilt und die Widmung (Art. 6 Abs. 1 BayStrWG) als verfügt. Ist eine Straße demgegenüber nicht in das Bestandsverzeichnis aufgenommen, gilt sie nach Art. 67 Abs. 5 BayStrWG nicht als öffentliche Straße. Dabei entfalte die erstmalige Anlegung eines Bestandsverzeichnisses regelmäßig nur für solche Grundstücke die Rechtswirkung der Widmungsfunktion, deren Flurnummern in der Eintragung auch genannt sind (vgl. aktuell BayVGH, B.v. 21.12.2017 – 8 ZB 17.1189 – juris Rn. 20; B.v. 15.3.2017 – 8 ZB 15.1610 – juris Rn.11 f.). Eine faktische oder konkludente Widmung kennt das Bayerische Straßen- und Wegerecht hingegen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2017 aaO; B.v. 21.4.2016 – 8 B 15.129 – juris Rn. 21).
Ausnahmen von dem vorgenannten Grundsatz, dass nur bei Benennung der jeweiligen Flurgrundstücksnummer im Zuge der erstmaligen Anlegung des Bestandsverzeichnisses von der entsprechenden Eintragung auch die Rechtswirkung nach Art. 67 Abs. 4 BayStrWG ausgelöst wird, können allerdings dann in Betracht kommen, wenn Verlauf und Umfang eines Wegs trotzdem eindeutig festliegen, etwa durch den Beschrieb im Bestandsverzeichnis oder auch durch die Darstellung in einem Lageplan oder in einer Karte, wobei kleinere Unklarheiten im Einzelfall hingenommen werden können (vgl. BayVGH, B.v. – 8 ZB 17.1189 – juris Rn. 20; B.v. 15.3.2017 – 8 ZB 15.1610 – juris Rn. 11 f. m.w.N).
Vorliegend sind in der Eintragung im Bestandsverzeichnis weder die Flurnummern der beiden Grundstücke der Kläger – FlNr. … und FlNr. … – genannt noch ist infolge der akten- oder offenkundigen Existenz sonstiger relevanter Erkenntnisquellen, namentlich z.B. einer Übersichtkarte nach § 16 Abs. 3 VerzVO, ausnahmsweise die notwendige Angabe der Flurnummern entbehrlich.
Der neben der Nennung der Flurnummern in der Eintragung vom 15. Februar 1962 enthaltene Beschrieb erschöpft sich in der Angabe des östlichen bzw. westlichen Anfangs- und Endpunkt des Straßenzug sowie in der kilometrierten Bezifferung der Teilstrecke, gibt aber nach Aktenlage sonst keinerlei Anhaltspunkte, ob und gegebenenfalls wo konkret die großflächigen landwirtschaftlichen Grundstücke der Kläger durch den Straßenzug in Anspruch genommen werden. Es sind keine ausreichenden weiteren Merkmale vorhanden, die hinreichend unmissverständlich auf einem bestimmten Wegeverlauf hindeuten und somit dazu führen könnten, dass es sich bei den Grundstücken der Kläger lediglich um Lücken in der Beschreibung handelt, deren Überbrückung sich in konkreter Weise aufdrängen würde. Auch kann – jedenfalls gilt dies für die klägerischen Grundstücke – keine Bestimmung des Wegeverlaufs durch offenkundige zusätzliche Umstände – wie etwa topographische Merkmale – getroffen werden (vgl. zu einer solchen Fallgestaltung mit Blick auf ein Brückengrundstück: BayVGH, B.v. 21.12.2017 – 8 ZB 17.1189 – juris Rn. 21). Vorliegend handelt es sich vielmehr um einen Fall der Nichterwähnung zweier wesentlicher Wegegrundstücke im Straßenzug der S…straße mit einer jeweils nicht unerheblichen Ost-West-Erstreckung (bei FlNr. … ca. 150m, bei FlNr. … ca. 100m, abgegriffen jeweils aus den im Internet verfügbaren amtlichen Karten der bayerischen Vermessungsverwaltung), bei denen sich mit Blick auf die Verbindung zu den weiteren, östlichen und westlichen gelegenen Wegegrundstücken ein Rückschluss auf einen bestimmten Wegeverlauf nicht aufdrängt. Im Gegenteil wäre es insbesondere bei dem Grundstück FlNr. … ohne weiteres auch denkbar, dass der Straßenverlauf weiter südlich auf diesem Grundstück, gegebenenfalls sogar auf dem südlichen Nachbargrundstücken FlNr. … zu liegen käme, ohne dass damit ein sinnvoller wegemäßiger Anschluss an die östlich und westlich gelegenen, in der Eintragung vom 15. Februar 1962 genannten Grundstücke FlNr. … und FlNr. … völlig ausgeschlossen wäre. Gleiches gilt für das Grundstück FlNr. …, da auch dort ein Wegeverlauf auf dem südlichen Nachbargrundstücken FlNr. … denkbar wäre, um die Lücke zwischen den in der Eintragung aufgeführten, östlich und westlich benachbart gelegenen Grundstücken FlNr. … und … zu schließen. Hierzu wären jeweils lediglich gewisse Verschwenkungen der S…straße, die in ihrem gegenwärtigen Verlauf ebenfalls bereits keineswegs geradlinig, sondern mehrfach gekurvt von Westen nach Osten zu liegen kommt, erforderlich.
Mithin liegt keine Ausnahme von der regelfällig konstitutiven Notwendigkeit der Nennung der Flurgrundstücksnummer im Bestandsverzeichnis vor, da auch eine Zusammenschau sämtlicher in der Eintragung im Bestandsverzeichnis vorhandenen Angaben keine ausreichende Klarheit über den Wegeverlauf auf den Grundstücken der Kläger bringt und weitere offenkundige zusätzliche Umstände, insbesondere relevantes Kartenmaterial (vgl. § 16 Abs. 3 VerzVO) oder nach den Umständen des Einzelfalls relevante besondere, namentlich topographische Gegebenheiten, die in den Verfahrensakten ausreichend Niederschlag gefunden hätten, zur Klärung des Wegeverlaufs jedenfalls über die hier streitigen Grundstücke nicht inmitten stehen. Die Betroffenheit der Grundstücke der Kläger ist mithin ohne die Flurnummernbezeichnung im Bestandsverzeichnis nicht ausnahmsweise noch ausreichend klar und unmissverständlich erkennbar.
Es fehlt somit an einer Widmung bzw. Widmungsfiktion (Art. 67 Abs. 4 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Alt. 3 und Abs. 1 BayStrWG) der hier streitigen Flächen. Durch die Herstellung und Unterhaltung der S…straße durch die Beklagte und ihre Nutzung als tatsächlich-öffentlicher Weg ist für die Kläger als Eigentümer mithin ein rechtswidriger Zustand geschaffen worden, der bis in die Gegenwart fortdauert. Die Beklagte ist nach Art. 54 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG Trägerin der Straßenbaulast für den ausgebauten öffentlichen Feld- und Wald Weg „S…straße“ und daher als zuständige Straßenbaubehörde (Art. 58 Abs. 2 Nr. 3 BayStrWG) auch richtige Adressatin der hier streitbefangenen Ansprüche.
III.
Den vorgenannten, nach § 902 Abs. 1 Satz 1 BGB unverjährbaren (vgl. BVerwG, B.v. 12.7.2013 – 9 B 12.13 – juris Rn. 4) Anspruch haben die Klägern weder verwirkt noch wäre seine Durchsetzung für die Beklagte unzumutbar.
1. Die Kläger haben das Recht auf Widerruf der Zustimmung zur Nutzung der S…straße als tatsächlich-öffentliche Wegefläche auf den in ihrem Eigentum stehenden Grundstücksflächen nicht verwirkt.
Nachdem dem Bayerischen Straßen- und Wegegesetz – wie vorstehend ausgeführt – eine faktische oder konkludente Widmung nicht bekannt ist und ein Grundstückseigentümer in Ausübung seines Eigentumsrechts grundsätzlich jederzeit die Zustimmung zur Nutzung einer Fläche durch die Allgemeinheit als tatsächlich-öffentlicher Weg widerrufen oder einschränken kann, sind die außergerichtliche Vorgehensweise der Kläger und ihr nunmehr verfolgtes Rechtsschutzbegehren nicht als Verstoß gegen den auch im Öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB entsprechend) zu beanstanden. Die als Unterfall dieses Grundsatzes als Rechtsinstitut anerkannte Verwirkung hat zwei tatbestandliche Voraussetzungen, die kumulativ gegeben sein müssen (vgl. Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 53 Rn. 23). Zum einen muss das Recht über längere Zeit nicht geltend gemacht worden sein, nachdem dies dem Rechtinhaber möglich war (Zeitmoment); zum anderen müssen besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment).
Die Kläger geben an, erst im Jahr 2015 aufgrund ausdrücklicher Nachfrage bei der Beklagten erfahren zu haben, dass die S…straße nicht auf Grundstücken der Beklagten, sondern auf den Klägern gehörenden solchen verläuft. Selbst wenn man mit der Beklagten davon ausgeht, dass zumindest der Kläger zu 1 jedenfalls seit dem Jahr 2011 Kenntnis von der rechtlichen Situation gehabt hat, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch aus einem über einen längeren Zeitraum hinweg bestehenden Einverständnis mit der Benutzung eines Wegs durch die Allgemeinheit kann regelmäßig nicht auf eine Verwirkung des Widerrufsrechts geschlossen werden. Die Treuwidrigkeit einer Rechtsausübung ergibt sich vor allem aus einer Verletzung des Vertrauensschutzes und setzt unter anderem voraus (vgl. Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs aaO Rn. 23 f.), dass der von der Rechtsausübung Betroffene, hier also die Beklagte, infolge eines Verhaltens des Berechtigten, hier der Kläger, darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde. Als Vertrauensgrundlage reicht das reine Schweigen oder Nichtstun, also der bloße, selbst extrem lange Zeitablauf in der Regel allerdings nicht aus. Der Umstand also, dass die Kläger bzw. deren Rechtsvorgänger nach dem Vortrag der Beklagten die seit Jahrzehnten existierende S…straße über einen nicht unerheblichen Zeitraum auf ihren Grundstücken geduldet haben, ist mithin als solches von Rechts wegen unerheblich. Für ein positives Verhalten der Kläger, etwa eine ausdrücklich duldende Willensäußerung oder ein erkennbar bewusstes Absehen von der Geltendmachung des Widerrufsrechts, obwohl dies aufgrund der Umstände zu erwarten gewesen wäre, mit dem die Begründung einer schützenswerten Vertrauensgrundlage der Beklagten einhergehen würde, ist nichts ersichtlich. Zudem fehlt es auch am Vorliegen der daneben ebenfalls notwendigen besonderen Umstände, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen ließen (Umstandsmoment). Weder der Umstand, dass der angestrebte Rückbau nach Auffassung der Beklagten zu keiner erheblichen Verbesserung der Situation der Kläger führen würde, noch, dass mit der Klage die Zerstörung der bestehenden Straßenführung einhergeht, noch, dass die Beklagte auf den Straßenunterhalt erhebliche Vermögensdispositionen getroffen hat, begründen die im vorstehenden Sinne notwendigen besonderen Umstände, die ein die Annahme eines treuwidrigen Verhaltens zuließen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist hinsichtlich des Gewichts von staatlicher Seite geschaffener sog. „vollendeter Tatsachen“ bei der Beseitigung entsprechender rechtswidriger Zustände anerkannt, dass sich faktische Macht gegenüber dem Bürger nicht deshalb durchsetzt, weil sie bereits vollzogen wurde, sondern weil sie von der Rechtsordnung hierzu legitimiert ist. Der Gesetzgeber regelt durch das einfachgesetzliche Verfahren, hier durch das Widmungsrecht im Bayerischen Straßen- und Wegegesetz, im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nicht nur Inhalt und Schranken des Eigentums; vielmehr sollen derartige Verfahren auch durch ihre spezifische Ausgestaltung – gewissermaßen im Vorfeld der materiellen Entscheidung –den Betroffenen Grundrechtsschutz vermitteln (vgl. BVerwG, U.v. 26.8.1993 – 4 C 24.91 – juris Rn. 52). Mithin ist es vorliegend im Lichte von Art. 14 Abs. 1 GG nicht Sache der Beklagten, die ökonomische Sinnhaftigkeit des klägerischen Begehrens im Hinblick auf die zukünftige Verwendung ihrer Grundstücke zu hinterfragen; auch vermag sie sich außerhalb des normativen Kontextes, der sich für das Vorliegen der notwendigen Widmungsvoraussetzungen aus Art. 6 Abs. 3, Art. 67 Abs. 3 und 4 BayStrWG ergibt, nicht auf den faktischen Bestand der S…straße und die hierfür getätigten Investitionen und Aufwendungen, die von der Beklagten zudem auch weder konkret beziffert bzw. noch auch nur überschlägig angegeben wurden, zu berufen.
2. Der klägerische Anspruch ist auch nicht wegen Unzumutbarkeit ausgeschlossen. Die Beklagte kann nicht für sich in Anspruch nehmen, eine Sperrung der streitbefangenen Wegegrundstücke im Zuge der S…straße sei ihr, jedenfalls nach – wie beantragt – rechtzeitiger vorheriger Ankündigung, nicht zumutbar.
Es ist zwar anerkannt, dass im Einzelfall ein öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, dessen tatbestandliche Voraussetzungen an sich vorliegen, ausnahmsweise ausgeschlossen sein kann, wenn die Beseitigung mit unverhältnismäßigen, vernünftigerweise nicht zumutbaren Aufwendungen verbunden wäre (vgl. beispielsweise BayVGH, B.v. 5.11.2012 – 8 ZB 12.116 – juris Rn. 11 ff.). Entsprechendes ist anzunehmen, wenn ein in seinem Eigentum Verletzter eine Fortdauer der Eigentumsstörung an seinem Grundstück selbst beseitigen will und dazu – wie hier – entsprechenden gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nimmt.
Nach § 275 BGB, der in der vorliegend Sachverhaltskonstellation entsprechende Anwendung findet (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2012 aaO), kann der Schuldner die Leistung verweigern, soweit diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat. Es muss sich sonach bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Leistungsinteresse des Gläubigers und dem mit der Anspruchserfüllung verbundenen Aufwand des Schuldners ein grobes Missverhältnis ergeben, das ein besonders krasses, nach Treu und Glauben untragbares Ausmaß erreicht. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Die Beklagte, die sich zur Begründung der Unzumutbarkeit maßgeblich auf die in Bau und Unterhaltung der S…straße investierten finanziellen Mittel und das Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Wegeverbindung beruft, hat, wie bereits ausgeführt, die für ihre Investitionen und Aufwendungen bereits nicht beziffert oder auch nur näherungsweise angegeben. Es fehlt sonach von Seiten der insoweit beweispflichtigen Beklagten bereits an einem substantiierten Vortrag, der Grundlage der vorstehend beschriebenen Abwägung der gegenläufigen Interessen der Beteiligten sein könnte. Wie vorstehend bereits im Rahmen der Prüfung des Umstandsmoments im Rahmen der Verwirkung im Einzelnen ausgeführt, kann durch die Schaffung „vollendeter Tatsachen“ unter Einsatz gegebenenfalls auch nicht unerheblicher öffentlicher Mittel staatlicherseits kein rechtmäßiger Zustand erzwungen werden.
Des Weiteren hat – auch unabhängig vom Vorstehenden – nach § 275 Abs. 2 Satz 2 BGB die Berücksichtigung des Verschuldens bei der Interessenabwägung zur Folge, dass in den Fällen eines grob fahrlässigen Überbaus ein Ausschluss des Beseitigungsanspruchs nur mehr ausnahmsweise in Betracht kommen kann, weil die Abwägung bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit in der Regel dazu führt, dem Überbauenden die entsprechende Einrede zu versagen (BayVGH, B.v. 5.11.2012 aaO Rn. 15 m.w.N.). So liegt der Fall auch hier, da die Beklagte beim (Aus-)Bau der S…straße offensichtlich insoweit grob fahrlässig gehandelt hat, als sie für den Straßenbau die Grundstücke der Kläger in Anspruch genommen hat, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein. Auch eine Gemeinde verhält sich, nicht anders als ein privater Grundstückseigentümer, der bewusst im Bereich der Grundstücksgrenze baut, in der Regel dann grob fahrlässig, wenn sie sich vor der Bauausführung nicht ausreichend darüber vergewissert, dass die für die Bebauung vorgesehene Fläche ihr gehört bzw. sich die Inanspruchnahme einer für den öffentlichen Wegebau vorgesehenen Fläche im Rahmen der ihr nach Art. 6 Abs. 3, Art. 67 Abs. 3 und 4 BayStrWG eröffneten rechtlichen Möglichkeiten bewegt. Die Beklagte hat nichts dazu vorgetragen, aus welchem Grund sie beim Bau bzw. Ausbau der S…straße von ihrer entsprechenden Berechtigung zur Inanspruchnahme für den öffentlichen Wegebau ausgegangen ist; auch insoweit ist die Beklagte, in deren Sphäre das entsprechende Verhalten fällt, als beweisbelastet einzustufen. Einen entsprechenden Beweis der Wahrung ihrer Sorgfaltspflichten ist sie indes schuldig geblieben.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der S…straße nach ihrer bisherigen Klassifizierung lediglich um einen ausgebauten öffentlichen Feld- und Wald Weg nach Art. 53 Nr. 1, Art. 54 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG handelt, während die von ihr indes offenkundig tatsächlich erfüllte Verkehrsfunktion die einer Gemeindeverbindungs Straße (Art. 46 Nr. 1 BayStrWG), die zum Ortsteil … im Gebiet der Nachbargemeinde … führt, ist.
Gemäß Art. 53 Nr. 1 BayStrWG sind die öffentlichen Feld- und Waldwege Straßen, die der Bewirtschaftung von Feld- und Waldgrundstücken dienen. Zwar ist die Bewirtschaftung von Feld- und Waldgrundstücke nicht mit land- und forstwirtschaftlicher Benutzung gleichzustellen, sodass der Gemeingebrauch an ihnen nicht auf einen beschränkten Personenkreis begrenzt wird, insbesondere auch nicht auf die Personen, die den Weg zur Bewirtschaftung der Grundstücke nutzen, und mithin ihr Widmungszweck auch die Benutzung beispielsweise zu (untergeordneten) Freizeit- und Erholungszwecken erfasst (vgl. BayVGH, U.v. 20.12.2016 – 8 B 15.884 – juris Rn. 34; B.v. 27.2.2014 – 8 ZB 12.2268 – juris Rn. 39). Nach Art. 46 Nr. 1 BayStrWG dienen Gemeindeverbindungsstraßen hingegen dem nachbarlichen Verkehr der Gemeinden oder der Gemeindeteile untereinander oder deren Verbindung mit anderen Verkehrswegen. Ausgehend von dieser Zweckbestimmung können sie von jedermann regelmäßig mit Kraftfahrzeugen aller Art im Rahmen des Gemeingebrauchs unentgeltlich befahren werden (Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BayStrWG).
Das daraus für die S…straße mit Blick auf Art. 7 BayStrWG resultierende Umstufungserfordernis erkennt die Beklagte in ihrem Schreiben an die Klägerbevollmächtigten vom 14.7.2016 an. Dazu kommt, dass sich der notwendige Ausbauzustand, insbesondere die einschlägigen Straßenquerschnitte, von ausgebauten öffentlichen Feld- und Waldwegen und Gemeindeverbindungsstraßen erheblich unterscheiden (vgl. einerseits § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Merkmale für ausgebaute öffentliche Feld- und Waldwege und andererseits die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen – RASt 06). Daraus folgt, dass die Beklagte ohnehin für den gesamten Straßenzug der S…straße für den Fall, dass sie an ihr verkehrsfunktional im Sinne einer Gemeindeverbindungs Straße festzuhalten gedenkt, eine straßentechnische Umbzw. Ausbauplanung, die gegebenenfalls auch mit zusätzlicher Inanspruchnahme von (anliegenden) Grundstücksflächen verbunden sein kann, zumindest zu erwägen haben wird, um einen entsprechend angemessenen Ausbauzustand unter Beachtung der Verkehrsfunktion einer Gemeindeverbindungs Straße und unter Wahrung der hierfür einschlägigen Regeln der Technik (vgl. insbesondere Nr. 2.4 und vorliegend wohl Nr. 5.2.5 RASt 06) zu gewährleisten. Damit wird – wie ausgeführt – die Umstufung nach Art. 7 BayStrWG einherzugehen haben, die, falls durch sie eine zusätzliche Rechtsbeeinträchtigung für die ihr Grundeigentum Betroffenen ausgelöst wird, auch der entsprechenden Zustimmung nach Art. 6 Abs. 3 BayStrWG bedarf (vgl. Zeitler/Häußler in: Zeitler, BayStrWG, Stand Mai 2017 Art. 7 Rn. 9). Auch aus der somit weder rechtlich noch tatsächlich ausreichend gewährleisteten Qualität der S…straße als Gemeindeverbindungs Straße folgt folglich eine Relativierung des Vertrauensschutzes der Beklagten an der Wahrung des Bestandes.
Aufgrund sämtlicher vorgenannter Umstände ist der Vertrauensschutz der Beklagten an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes, den sie maßgeblich selbst geschaffen hat, als gering einzustufen. Das Verlangen der Kläger, mag es aus Sicht der Beklagten auch wenig nachvollziehbar sein, fußt auf der privatautonomen Inanspruchnahme der Eigentümerbefugnisse, die verfassungsrechtlich in Art. 14 Abs. 1 GG wurzeln, und steht unter Berücksichtigung aller vorstehend erörterten Umstände des Einzelfalls keinesfalls in einem besonderen Missverhältnis zu dem insoweit hintanzustellenden Interesse der Beklagten an der Bewahrung der S…straße als tatsächlich-öffentlichen Verkehrsweg.
Nach alledem war zu entscheiden wie beantragt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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