Baurecht

Unerheblichkeit der Wirksamkeit eines Bebauungsplans bei Nachbarklage wegen Verletzung des Rücksichtnahmegebots

Aktenzeichen  M 9 K 15.3732

Datum:
21.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 30, 34 Abs. 1
BauNVO BauNVO § 15

 

Leitsatz

Ob ein Bebauungsplan gegen das Abwägungsgebot, insbesondere den Trennungsgrundsatz und das Gebot der Konfliktbewältigung im Rahmen des vorbeugenden Immissionsschutzes, verstößt, ist für den Erfolg einer auf Verletzung des Rücksichtnahmegebots gestützten Nachbarklage wegen Lärmbelästigung unerheblich, wenn es auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans gar nicht ankommt, weil das Gebot der Rücksichtnahme im Geltungsbereich eines wirksamen Bebauungsplans aus § 30 BauGB iVm § 15 BauNVO folgt und im Falle der Unwirksamkeit des Bebauungsplans Teil des Tatbestandsmerkmals des Einfügens im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kostenschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Klage ist zulässig. Zugunsten der Klägerin wird davon ausgegangen, dass diese klagebefugt ist, § 42 VwGO, da nicht völlig ausgeschlossen ist, dass sie durch Lärmimmissionen in eigenen Rechten verletzt wird. Die Frage der Relevanz von Lärmerhöhungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle betrifft die Frage, ob die vorgetragene Verletzung eigener Rechte tatsächlich besteht und ist Gegenstand der Begründetheitsprüfung.
Die Klage ist als Nachbarklage jedoch unbegründet. Die Baugenehmigung des Beklagten vom … März 2016 verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Eine Klage des Nachbarn gegen eine Baugenehmigung kann nur dann Erfolg haben, wenn diese gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind und wenn dieser in einem eigenen schutzwürdigen Recht verletzt wird. Zu diesen Nachbarrechten, denen drittschützende Wirkung zukommt, gehört das hier allein in Betracht kommende Gebot der Rücksichtnahme.
Im vorliegenden Verfahren ist es entgegen dem klägerischen Vortrag unerheblich, ob der Bebauungsplan Nr. 23/H vom … Dezember 2013 „Gewerbegebiet … südlich der Bahnlinie, westlich der …straße und nördlich der Kreisstraße …“ vom … Dezember 2013 hinsichtlich der Festsetzungen für die FlNr. … und den Immissionskontingenten an einem Abwägungsfehler nach § 1 Abs. 7 BauGB leidet oder nicht.
Ein Verstoß gegen das Abwägungsgebot, insbesondere den Trennungsgrundsatz und das Gebot der Konfliktbewältigung im Rahmen des vorbeugenden Immissionsschutzes, ist für den Erfolg einer Nachbarklage unerheblich, wenn es wie hier, auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans gar nicht ankommt. Für das Gebot der Rücksichtnahme gilt im Geltungsbereich eines wirksamen Bebauungsplans § 30 BauGB i. V. m. § 15 BauNVO. Im Falle der Unwirksamkeit des Bebauungsplans ist das Gebot der Rücksichtnahme Teil des Tatbestandsmerkmals des Einfügens im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB. Für die hier klägerseits vorgetragene Lärmbelastung infolge der Reflexionswirkung der an die Bahngleise angrenzenden Nordwand der …-Halle ist daher die Wirksamkeit des Bebauungsplans unerheblich.
Nach den hier vorliegenden schalltechnischen Stellungnahmen ist die durch die Reflexionswirkung verursachte Lärmerhöhung um 0,2 dB(A) (Landratsamt), um 0,5 dB(A) im Mittel (A… vom …01.2013 und …10.2014) oder um 0,9 dB(A) maximal (B. vom …11.2015) marginal und liegt immer unterhalb der Hörbarkeitsschwelle. Die Grenze der Unzumutbarkeit wird damit nicht erreicht.
Nach dem Gutachten B. vom … November 2015 ist das Grundstück der Klägerin bereits durch den Schienenlärm erheblich vorbelastet. Die zusätzlichen Lärmimmissionen sind bei einer Schallreflexionserhöhung im Bereich unterhalb der Hörbarkeitsschwelle nicht geeignet, eine Unzumutbarkeit der …-Halle für die Klägerin und damit eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zu begründen. Die Grenze der Unzumutbarkeit kann nur erreicht oder überschritten sein, wenn eine Lärmerhöhung auch hörbar ist. Dies ist bei einer Erhöhung von unter 1 dB(A) nicht der Fall, weil die Wahrnehmbarkeitsgrenze für Lärmsteigerungen bei einer Pegelerhöhung um 3 dB(A), mindestens 2 dB(A) erfordert.
Im vorliegenden Fall folgt das Gericht der Einschätzung des Technischen Umweltschutzes des Landratsamtes und den schlüssigen und nachvollziehbaren Berechnungen des Lärmgutachtens A… zu den Schallreflexionen vom … Januar 2013 (Bl. 110 Behördenakte), wonach die höchste Pegelerhöhung in einer Entfernung von ca. 150 m nördlich der Bahntrasse durch Schallreflexionen maximal 0,625 dB(A) beträgt. Das von der Klägerin vorgelegte Lärmgutachten B. vom … November 2015 ging, wie auf Nachfrage des Gerichts ausdrücklich bestätigt wurde, von den zulässigen Maßen des Bebauungsplans, nämlich von der Länge des Baufensters an der Nordseite entlang der Bahn, aus. Dies hat zur Folge, dass die Lärmpegelerhöhung für das hier vorliegende Bauvorhaben falsch berechnet wurde. Die Nordwand der …-Halle beträgt ca. 514 m² statt der anhand der im Gutachten genannten Maße errechneten 1.937 m², da sie ausweislich der Baugenehmigung und dem Ergebnis des Augenscheins eine Länge an der Nordseite von 49 m bei einer Wandhöhe von 10,5 m hat. Das Gutachten B. geht von einer Länge von ca. 155 m und einer Wandhöhe von 12,5 m aus. Die Folge der geringeren Reflexionsfläche ist eine geringere Erhöhung des Beurteilungspegels, der nach den überzeugenden Ausführungen des Technischen Umweltschutzes des Landratsamts deshalb wohl noch niedriger ist als von A… errechnet wurde, nur ca. 0,2 dB(A) beträgt und deshalb nicht hörbar ist.
Soweit der Bevollmächtigte der Klägerin vorträgt, durch die Pegelerhöhung als Folge der Reflexionswirkung der …-Halle werde erstmals der gesundheitsgefährdende Lärmwert von 60 dB(A) nachts bei Zugrundelegung der für den Eisenbahnlärm maßgeblichen Schall 03 in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Bebauungsplans geltenden Fassung überschritten, ist dies für die vorliegende Nachbarklage der falsche Ansatz. Da es auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht ankommt, ist auch nicht der Zeitpunkt des Erlasses des Bebauungsplans maßgeblich, sondern das Bauvorhaben. Nach der mittlerweile geltenden Schall 03 neu sind die Nachtwerte von 60 dB(A), ab denen die grundrechtliche Zumutbarkeitsschwelle überschritten ist, am Wohnhaus der Kläger längst auch ohne die …-Halle, erreicht. Im Hinblick auf diese Lärmvorbelastung sieht der für die Klägerin geltende Bebauungsplan Nr. 74 „alter Ortskern …“ von je her Schallschutzmaßnahmen für die Wohnbebauung entlang der Gleise vor. Da die Lärmerhöhung durch die Reflexionen des Schienenlärms nicht hörbar ist, handelt es sich lediglich um einen irrelevanten Pegelbeitrag im Vergleich zum Bahnlärm. Die von der Klägerseite zur Frage der Abwägungserheblichkeit einer ansonsten irrelevanten Lärmerhöhung im Rahmen von Normenkontrollverfahren zur Wirksamkeit von Bebauungsplänen angeführten Rechtsprechung bei einer Vorbelastung im gesundheitsgefährdenden Bereich betrifft Baumaßnahmen an Straße und Schiene und damit die Verursachung einer Lärmerhöhung, nicht jedoch Abwehransprüche eines Dritten gegen unhörbare Lärmerhöhungen durch Bauvorhaben, die weder als Anlage noch als Verkehrsweg als Lärmquelle eigene Emissionen verursachen (BayVGH, B. v. 18.8.2016 – 15 B 14.1623 – juris Rn. 19 m. w. N.).
Die Klage war daher mit Kostenfolge des § 154 VwGO abzuweisen.
Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selber, da sie keinen Antrag gestellt haben, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 15.000,00 festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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