Baurecht

Verbescheidungsanspruch bei Versagung einer Tekturgenehmigung für ein planabweichend ausgeführtes Vorhaben

Aktenzeichen  M 11 K 16.1495

Datum:
10.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 6, Art. 55 Abs. 2, Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 2
BauGB BauGB § 34 Abs. 1

 

Leitsatz

Aufgrund des der Regelung des Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BayBO zugrunde liegenden Zwecks hat das Verwaltungsgericht keine Befugnis, die Bauaufsichtsbehörde dazu zu verpflichten, eine Baugenehmigung zu erteilen, die die Behörde selbst wegen Verstoßes gegen das Abstandsflächenrecht für rechtswidrig hält. (Rn. 25 – 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamts … vom 03.03.2016, Az.: … verpflichtet, den Bauantrag der Kläger vom 10.01.2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu ¼, der Beklagte zu ¾ zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat teilweise Erfolg.
1. Bezogen auf den Hauptantrag ist die zulässige Klage unbegründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung. Dies folgt aus dem Hinweis der Vertreterin des Landratsamts in der mündlichen Verhandlung, dass falls das Hauptgebäude und das Garagengebäude als zwei getrennte Gebäude beurteilt werden, dann nach ihrem Dafürhalten die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO nicht eingehalten seien.
Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Halbsatz 2 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde einen Bauantrag auch dann ablehnen, wenn das Vorhaben gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Aus dem Zusammenhang mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO geht hervor, dass mit den sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften solche gemeint sind, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren nicht zu prüfen sind (Art. 59 Satz 1 BayBO). Nach – soweit ersichtlich – einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. z. B. Wolf in: Simon/Busse, BayBO, 122. EL, Stand: Januar 2016, Art. 59 Rn. 96 ff. m. w. N.) kann die Bauaufsichtsbehörde weitgehend frei entscheiden, ob sie von der Ablehnungsbefugnis – die ihr Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO eröffnet – Gebrauch macht oder nicht. Das gilt unabhängig davon, ob der Wortlaut „dürfen“ in dieser Vorschrift lediglich eine schlichte Befugnis zum Ausdruck bringt, einen Bauantrag wegen der Unvereinbarkeit des Bauvorhabens mit außerhalb des jeweiligen bauaufsichtlichen Prüfprogramms liegenden Vorschriften abzulehnen, oder eine „echte“ behördliche Ermessensentscheidung beinhaltet (Jäde, Bayerisches Bauordnungsrecht, 2013, Rn. 222). Denn selbst wenn entgegen der wohl herrschenden Meinung Letzteres angenommen würde, könnten die Kläger einen etwaigen Entschluss des Beklagten, den Änderungsbauantrag wegen der vom Beklagten geltend gemachten Abstandsflächenverstöße abzulehnen, als solchen nicht rügen.
Zu beachten ist insbesondere, dass die Einführung des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO der Beseitigung der verfahrensrechtlichen Widersprüchlichkeit diente, dass einerseits u.a. die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO bei Nichtsonderbauten nicht mehr zum Prüfprogramm gehören, andererseits ein bauaufsichtliches Einschreiten aufgrund der Verpflichtung des Bauherrn gemäß Art. 55 Abs. 2 BayBO die öffentlich-rechtlichen Vorschriften einzuhalten, weiterhin möglich blieb. Mit der Einführung des vereinfachten Prüfprogramms war zwar eine Entlastung der Bauaufsichtsbehörden bezweckt. Jedoch war nicht beabsichtigt, wie auch eindeutig aus Art. 55 Abs. 2 BayBO hervorgeht, die Bauaufsichtsbehörden dazu zu zwingen, sehenden Auges rechtswidrige Baugenehmigungen zu erteilen, um dann in einem zweiten Schritt bauaufsichtlich gegen diesen rechtswidrigen Zustand einzuschreiten. Das der Behörde insoweit eingeräumte Ermessen soll mithin bereits anlässlich des Baugenehmigungsverfahrens ausgeübt werden (vgl. Wolf in: Simon/Busse, BayBO, 122. EL, Stand: Januar 2016, Art. 59 Rn. 84 f.).
Unabhängig vom Vorliegen der sonstigen Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Halbsatz 1 BayBO, scheidet ein Verpflichtungsausspruch hinsichtlich der beantragten Baugenehmigung daher aus. Das Gericht hat nämlich, aufgrund des der Regelung des Art, 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO zugrundeliegenden Zwecks, keine Befugnis die Bauaufsichtsbehörde dazu zu verpflichten, eine Baugenehmigung zu erteilen, die die Behörde selbst wegen Verstoßes gegen das Abstandsflächenrecht für rechtswidrig hält. Steht, wie hier, zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine Abstandsflächenverletzung im Raum, muss es letztlich bei der Bauaufsichtsbehörde verbleiben, zum einen zu prüfen, ob das Vorhaben die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO tatsächlich verletzt und zum anderen, ob sie von der Befugnis – das Gericht folgt insoweit der wohl herrschenden Meinung – den Bauantrag abzulehnen, Gebrauch macht.
2. Bezogen auf den Hilfsantrag ist die zulässige Klage begründet. Die Kläger haben einen Anspruch, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu verbeschieden zu werden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Abgesehen von der Frage der Abstandsflächenrechtsverletzung, die der Behörde gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO im Rahmen der andernfalls gebundenen Entscheidung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO eine Ablehnungsbefugnis gibt, ist die Sache spruchreif.
Das Vorhaben fügt sich gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, insbesondere auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung.
Dabei kann letztlich offen bleiben, wie der Beklagte im Detail zu der zugrunde gelegten Grundfläche des streitgegenständlichen Vorhabens von 470 Quadratmeter kam. Selbst bei Zugrundelegung dieser Zahl hält sich das Vorhaben nämlich im von der Umgebung vorgegebenen Rahmen. Der Augenschein hat ergeben, dass auch das Gebäude … … 30 zur näheren Umgebung i.S.d § 34 Abs. 1 BauGB gehört. Zwar kann bei der Beurteilung der Frage, was zur näheren Umgebung i.d.S. gehört, u.a. einem Weg oder einer Straße aufgrund topographischer Besonderheiten eine trennende Wirkung zukommen, da hierbei sinngemäß die gleichen Grundsätze wie im Rahmen der Abgrenzung von Innenbereich nach § 34 BauGB und Außenbereich nach § 35 BauGB anzuwenden sind (Mitschang/Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 13. Auflage 2016, § 34, Rn. 21). Der Straße … … kommt vorliegend jedenfalls aber keine trennende Wirkung dergestalt zu, dass das Gebäude … … 30 nicht mehr zur näheren Umgebung gehören würde. Im Bereich des Gebäudes … … 30 verläuft diese Straße noch auf nahezu derselben Höhe wie die …straße, in der das Vorhabengrundstück liegt, sodass auch das Gebäude … … 30 auf derselben Höhe wie die …straße und die Auffahrt zum Grundstück der Kläger gelegen ist. Erst hinter dem Gebäude … … 30 verläuft diese Straße abschüssig nach unten. Zwischen dem Gebäude … … 30 und dem Vorhabengrundstück besteht zudem Sichtkontakt. Das Vorhabengrundstück wird mithin auch durch das Grundstück, auf dem das Gebäude … … 30 steht, geprägt. Dieses Gebäude weist laut Flächenberechnung aus dem Bayernatlas, die der Klagebegründung vom 9. Juni 2016 beigefügt ist, eine Grundfläche von ca. 485 Quadratmeter auf und übersteigt daher die vom Landratsamt angenommen 470 Quadratmeter auf dem klägerischen Grundstück. Es wirkt dem optischen Eindruck nach auch nicht kleiner. Das Einfügen nach § 34 Abs. 1 BauGB ist insoweit somit zu bejahen.
Auch bezüglich der Höhe und der Geschossigkeit fügt sich das Vorhaben nach § 34 Abs. 1 BauGB ein. Im Rahmen des Augenscheins wurde festgestellt, dass das Vorhaben, das im Rohbau bereits im Wesentlichen errichtet ist, dreigeschossig in Erscheinung tritt. Die vom Landratsamt monierte Viergeschossigkeit im Bereich des Fitnesslichtgrabens, die nur sehr eingeschränkt von einer bestimmten Perspektive aus wahrnehmbar ist, lässt nicht den Schluss zu, dass das Gebäude insgesamt nach seinem die Umgebung prägenden Gesamteindruck eine viergeschossige Wirkung besitzt. Das Gebäude … … 30, das zur prägenden näheren Umgebung gehört (s.o.), besitzt drei Vollgeschosse, sowie ein großzügig ausgebautes Dachgeschoss. Das Anwesen … … 29, das ebenfalls zur näheren Umgebung gehört, tritt ebenso dreigeschossig in Erscheinung. Aus den insoweit allein entscheidenden örtlichen Verhältnissen (vgl. BVerwG, B. v. 27.06.2006 – 4 B 55.06) folgt, dass hinsichtlich der Höhe der Gebäude, entgegen der Auffassung des Beklagten, vorliegend nicht auf die Traufhöhe, sondern auf die Firsthöhe der Gebäude in der näheren Umgebung abzustellen ist. Die Gebäude in der näheren Umgebung, allen voran die Anwesen … … 29, … … 30, …straße 4 und …straße 6 verfügen jeweils über großzügig ausgebaute Dachgeschosse. Die Anwesen … … 29 und …straße 4 verfügen zudem über größere, auffällige Bauelemente im Dachbereich (Türme und Zwerchgiebel), die die Höhe des Haupthauses übersteigen und die in diesen Bereichen – vom Beklagten unbestritten – zu einer höheren Wandhöhe als beim klägerischen Vorhaben, das zudem nur ein Flachdach besitzt, führen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 3, 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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