Baurecht

Versagung der Baugenehmigung für Einfamilienhaus – Mangelndes Einfügen in die nähere Umgebung

Aktenzeichen  M 29 K 17.4194

Datum:
11.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41554
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34

 

Leitsatz

1. Die nähere Umgebung ist für jedes der in § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB angeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann. Bei den Kriterien Nutzungsmaß und überbaubare Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart. Entscheidend bleiben in jedem Fall die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die nähere Umgebung kann so beschaffen sein, dass die Grenze zur ferneren Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Bestimmung des sich aus der vorhandenen Bebauung ergebenden Maßstabs ist grundsätzlich alles in den Blick zu nehmen, was in der maßgeblichen näheren Umgebung tatsächlich vorhanden ist. Auszusondern sind u.a. solche baulichen Anlagen, die nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen. Auszusondern sind auch solche baulichen Anlagen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Einstufung einer baulichen Anlage als Fremdkörper bzw. „Ausreißer“, die sich besonders deutlich von der übrigen Bebauung in der näheren Umgebung unterscheidet, kommt in Bezug auf die überbaubare Grundstücksfläche etwa dann in Betracht, wenn der zu beurteilende Baukörper nach seiner Lage zur Erschließungsstraße ganz erheblich anders angeordnet ist als alle übrigen Baukörper. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Dier Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung hat. Der Bescheid der Beklagten vom 24. August 2017 ist deshalb rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich im Hinblick auf das übergeleitete Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
1.1. Das Bauvorhaben der Klägerin fügt sich hinsichtlich der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die nähere Umgebung ein.
Mit dem Merkmal der „Grundstücksfläche, die überbaut werden soll“, ist neben der konkreten Größe der Grundfläche der baulichen Anlage ihre räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung gemeint. Zur Konkretisierung des der Umgebungsbebauung zu entnehmenden Maßstabs kann dabei auf die in § 23 BauNVO enthaltenen Begriffsbestimmungen zur Baulinie, Baugrenze und Bebauungstiefe zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2016 – 4 B 23.16 – juris Rn. 6, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – juris Rn. 9, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50.08 – juris Rn. 4). Die Prüfung richtet sich u.a. darauf, ob der maßgebenden Umgebungsbebauung eine faktische Baugrenze oder Baulinie zu entnehmen ist oder ob die grundsätzlich von der jeweiligen Erschließungsstraße aus zu bestimmende Bebauungstiefe (s. § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO), die mit dem Vorhaben verwirklicht wird, dort ein Vorbild hat. Dabei muss die Betrachtung auf das Wesentliche zurückgeführt und alles außer Acht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr als Fremdkörper erscheint (BVerwG, B.v. 22.9.2016 a.a.O.).
Maßgeblicher Beurteilungsrahmen für das Vorhaben ist die nähere Umgebung. Berücksichtigt werden muss hier die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder beeinflusst (BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m.w.N.). Daraus folgt, dass nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks zu berücksichtigen ist, sondern auch die weitere Bebauung der Umgebung, soweit diese noch prägend auf das Baugrundstück wirkt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: 128. EL, 2/2018, § 34 Rn. 36). Wie weit die wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. In der Regel gilt bei einem, inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben als Bereich gegenseitiger Prägung das Straßengeviert und die gegenüberliegende Straßenseite (BayVGH, B.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4, U.v. 10.7.1998 – 2 B 96.2819 – juris Rn. 25, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19, U.v. 24.7.2014 – 2 B 14.1099 – juris Rn. 20).
Dabei ist jedoch die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB angeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – NVwZ-RR 1998, 539; BayVGH, U.v. 18.7.2013 a.a.O. Rn. 19). Bei den Kriterien Nutzungsmaß und überbaubare Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart (BayVGH, B.v. 16.12.2009 – 1 CS 09.1774 – juris Rn. 21 m.w.N.). Entscheidend bleiben in jedem Fall die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall. Bestehende Sichtbeziehungen sind zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, U.v. 1.3.2017 – 2 A 46/16 – juris Rn. 35 ff. m.w.N.).
Meist wird sich die Bebauung in einem Quartier bzw. bei größeren Quartieren in einem entsprechenden Teil des Gevierts nach den oben genannten Grundsätzen wechselweise prägen. Eine andere Beurteilung ist nur dann gerechtfertigt, wenn innerhalb des Quartiers unterschiedliche Bau- und Nutzungsstrukturen vorhanden sind, die sich auch klar voneinander trennen lassen (BayVGH, B.v. 19.4.2017 – 9 ZB 15.1590 – juris Rn. 5). Die nähere Umgebung kann so beschaffen sein, dass die Grenze zur ferneren Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen. Der Grenzverlauf der näheren Umgebung ist nicht davon abhängig, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennlinie (Straße, Schienenstrang, Gewässerlauf, Geländekante etc.) entkoppelt ist. Eine solche Linie hat bei einer beidseitig andersartigen Siedlungsstruktur nicht stets eine trennende Funktion. Umgekehrt führt ihr Fehlen nicht dazu, dass benachbarte Bebauungen stets als miteinander verzahnt anzusehen sind und insgesamt die nähere Umgebung ausmachen (BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74/03 – juris).
1.1.1. Entgegen der Auffassung der Beklagten besteht an der von ihr hierfür angeführten G1. Str. im Hinblick auf die Bebauung an ihrer Südseite keine faktische Baugrenze, die es rechtfertigen würde, die Frage der zulässigen Bebauungstiefe allein nach der dort vorhandenen Bebauung zu beurteilen. Es kommt nämlich nach Auffassung des Gerichts in Anbetracht der über 30 m tief in das Grundstück FlNr. 75/22 auf Höhe G1. Straße 59 hineinragenden Bebauung nicht in Betracht, eine Baugrenze ausgehend von der Bebauung auf den Grundstücken G1. Straße 75, 73 und 53 sowie der genehmigten und schon im Bau befindlichen straßenseitigen Bebauung auf dem streitgegenständlichen Grundstück FlNr. 75/47 zu bilden und hieraus hinreichende Anhaltspunkte für eine städtebaulich verfestigte Situation abzuleiten. In dem beschriebenen Bereich lässt sich mangels deutlich erkennbaren Ordnungsprinzips hinsichtlich der als prägend anzusehenden Bebauung eine einheitliche Begrenzung der überbaubaren Grundstücksfläche, die mehr ist als ein bloßes „Zufallsprodukt“ ohne eigenen städtebaulichen Aussagewert (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 15 ZB 14.1542 – juris Rn. 12), nicht erkennen.
Die hinter dem Gebäude G1. Str. 59 im Wesentlichen unter der Geländeoberkannte errichtete Bebauung kann bei der Betrachtung auch nicht ausgenommen werden. Bei der Bestimmung des sich aus der vorhandenen Bebauung ergebenden Maßstabs ist grundsätzlich alles in den Blick zu nehmen, was in der maßgeblichen näheren Umgebung tatsächlich vorhanden ist. Zwar prägt nicht jede vorhandene Bebauung deren Charakter. Vorhandene Bebauung kann als Fremdkörper erscheinen, der die Umgebung nicht prägt. Auszusondern sind insoweit unter anderem solche baulichen Anlagen, die nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen. Dies ist namentlich dann anzunehmen, wenn eine singuläre Anlage in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht. In Betracht kommen insbesondere solche baulichen Anlagen, die nach ihrer – auch äußerlich erkennbaren – Zweckbestimmung in der näheren Umgebung einzigartig sind. Sie erlangen die Stellung eines „Unikats“ umso eher, je einheitlicher die nähere Umgebung im Übrigen baulich genutzt ist. Trotz ihrer deutlich in Erscheinung tretenden Größe und ihres nicht zu übersehenden Gewichts in der näheren Umgebung bestimmen sie nicht deren Eigenart, weil sie wegen ihrer mehr oder weniger ausgeprägt vom übrigen Charakter der Umgebung abweichenden Struktur gleichsam isoliert dastehen (BVerwG, U.v. 15.2.1990 – 4 C 23/86 – juris Rn. 15). Auszusondern sind darüber hinaus auch solche baulichen Anlagen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild (Ausdehnung, Höhe, Zahl usw.) nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, die der Betrachter also nicht oder nur am Rande wahrnimmt (BVerwG, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50/08 – juris Orientierungssatz u. Rn. 6).
Die hier in Rede stehende Bebauung hinter dem Gebäude G1. Str. 59 ist zwar nicht auf dem amtlichen Lageplan eingetragen, jedoch auf den in der Akte befindlichen Luftbildern zu ersehen und – dies hat der Augenschein vom klägerischen Grundstück aus ergeben, anders als überdeckte Unterkellerungen oder die ebenfalls auf dem Grundstück zwar vorhandene, jedoch überdeckte Tiefgarage, deutlich in ihrer Dimension wahrzunehmen. Sie überragt – nicht nur im Bereich der Oberlichter – zum Teil auch die Geländeoberkante. Der auf Kellergeschossebene situierten, dennoch aber sichtbaren Bebauung im hinteren Bereich des Grundstücks FlNr. 75/22 ist zwar hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung durchaus Unikatscharakter zuzubilligen. In Bezug auf die Frage der Existenz einer faktischen Baugrenze kann ihr nach dem Eindruck, den das Gericht beim Augenschein gewonnen hat, jedoch prägende Wirkung nicht abgesprochen werden. Dazu ist die sonstige Bebauung entlang der Straße hinsichtlich der Bebauungstiefe nicht homogen genug. Sie weist Vor- und Rücksprünge auf. Die Hinterlandbebauung auf FlNr. 75/22 erscheint als ein solcher – wenn auch relativ weit – in das Grundstück hineinragender Vorsprung. Aufgrund der Fläche, die sie im Vergleich zum Hauptgebäude einnimmt, kann sie selbst dann, wenn sie Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO wäre, auch nicht als derart untergeordnet angesehen werden, dass sie den Eindruck einer faktischen Baugrenze bei etwa 25 m Bebauungstiefe nicht unterbinden würde.
1.1.2. Letztlich kann die Frage einer faktischen Baugrenze an der Südseite der G1. Str. aber sogar offen gelassen werden, da das streitgegenständliche Bauvorhaben selbst bei Einbeziehung des gesamten Gevierts, in dem sich das betroffene Grundstück befindet, im Fall seiner Realisierung eine Bebauungstiefe aufweisen würde, die mit dem vorgegebenen Rahmen nicht mehr zu vereinbaren wäre.
Verneint man – wie hier geschehen – die Existenz einer hinteren faktischen Baugrenze an der Südseite der G1. Str., ist nach Auffassung des Gerichts hinsichtlich des Merkmals der überbaubaren Grundstücksfläche das gesamte Quartier G1. Str. im Norden, S.str. im Westen, H1. Str. und G2.str. im Süden sowie T.str. im Osten als der maßgebliche Bereich mit gegenseitiger Prägung anzusehen. Derart deutliche Unterschiede zwischen der südlichen Bebauung entlang der G1. Str. und der sich hieran wiederum südlich anschließenden und vom Baugrundstück auch optisch wahrnehmbaren Bebauung entlang der G2.str., die es rechtfertigen würden, jeweils andersartige Siedlungsstrukturen anzunehmen, vermag das Gericht – anders als hier unstreitig in Bezug auf die nordseitige Bebauung an der G1. Str. – nicht zu erkennen.
Die Beklagte stellt in Bezug auf ihre Einschätzung einer anderen baulichen Struktur auf das hier einzig in Betracht kommende Kriterium der Grundfläche, die überbaut werden darf, ab, weil die parallel zur G1. Str. verlaufende Bebauung entlang der G2.str. auf sechs Grundstücken in den jeweils hinteren Grundstücksbereich verschobene Baukörper aufweist. Eine ähnlich große Bebauungstiefe wie bei den Grundstücken mit den FlNrn. 75/28 und 75/120 bis 75/123 lässt sich allerdings auch auf dem Grundstück FlNr. 75/22 an der G1. Str. 59 feststellen. Selbst wenn man diese Bebauung aus der Betrachtung ausnehmen wollte, wäre jedenfalls zu berücksichtigen, dass es an der G2.str. auch mehrere große Baukörper gibt, die an der vorderen Baugrenze errichtet sind und entsprechend deutlich weniger tief in das Geviertsinnere hineinragen. Es lässt sich somit kein ausreichend andersartiger, homogener Bereich innerhalb des Gevierts feststellen. Wegen der Einbettung der parallel zur G1.str. verlaufenden G2.str. in die auf dieser Höhe liegende östliche Bebauung an der S.str., der westlichen Bebauung am nach Süden abknickenden Teil der G2.str. und der westlichen Bebauung an der T.str., die ebenso wie die Bebauung südlich der G1. Str. und auf dem Grundstück FlNr. 75/124 (G2.str. 4 und 6) jeweils an der vorderen Baugrenze orientiert ist und geringere Bebauungstiefen aufweist, ist es im Übrigen auch nicht möglich, eine eindeutige Abgrenzung verschiedener Baustrukturen, etwa im Sinne einer Unterteilung des Gevierts in einen nördlichen und einen südlichen Teil vorzunehmen.
Den durch die Umgebungsbebauung im Geviert vorgegebenen Rahmen hält das Vorhaben hinsichtlich der Bebauungstiefe nicht ein.
Wie bereits erwähnt, ist die Bebauungstiefe entsprechend § 23 Abs. 4 Satz 2 BauNVO grundsätzlich von der Straßengrenze der Erschließungsstraße zu ermitteln (VG München, U.v. 9.10.2017 – M 8 K 16.2971 – juris Rn. 24 w.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172/97 – juris RdNr. 7). Maßgeblich ist die Straße, von der das Grundstück erschlossen wird und der es dann in der Regel auch seiner Bezeichnung nach zugeordnet ist. Kurven und Winkel spiegeln sich in der Bebauungstiefe wieder. Wie auch sonst bei dem an faktische bauliche Gegebenheiten anknüpfenden § 34 BauGB, kommt es auf die Verläufe der katastermäßigen, in der Örtlichkeit als solche nicht in Erscheinung tretenden Grundstücks- und Parzellengrenzen nicht an (OVG Saarl, U.v. 27.5.2014 – 2 A 2/14 – juris, Rn. 42; vgl. BeckOK, Spannowski/Hornmann/Kämper, BauNVO, 14. Edition Stand 15.6.2018, § 23 Rn. 59); Bönker/Bischopink, BauNVO, 1. Aufl. 2014, § 23 Rn. 29). Die Einstufung einer baulichen Anlage als Fremdkörper bzw. „Ausreißer“, die sich besonders deutlich von der übrigen Bebauung in der näheren Umgebung unterscheidet, kommt in Bezug auf die überbaubare Grundstücksfläche etwa dann in Betracht, wenn der zu beurteilende Baukörper nach seiner Lage zur Erschließungsstraße ganz erheblich anders angeordnet ist als alle übrigen Baukörper (OVG LSA, B.v. 7.8.2017 – 2 M 64/17 – juris Rn. 11).
Nach Auffassung des Gerichts ist für die Ermittlung der zulässigen Bebauungstiefe die im Eck der G2.str. befindliche Bebauung auf dem Grundstück FlNr. 75/133 (Haus Nr. 22) auszuklammern. Denn hier lässt sich für das Grundstück aufgrund der besonderen Lage und der daraus resultierenden erheblich anderen Anordnung zur Erschließungsstraße im Vergleich zu allen anderen Grundstücken keine eindeutige Bebauungstiefe ermitteln, auf die zuverlässig Bezug genommen werden könnte. Messungen, die den dortigen Verlauf der Straße berücksichtigen und somit von der G2.str. aus rechtwinklig ansetzen, treffen nicht auf Hauptbebauung auf dem Grundstück. Allenfalls sachgerecht wäre, von einer Hilfslinie aus zu messen, die ausgehend von der nördlichen Seite der G2.str. nach Westen weiter gezogen wird. Dies würde eine Bebauungstiefe von ca. 36 m (abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan 1:1500) ergeben.
Lässt man das vorstehend erörterte Eckgrundstück außen vor oder misst von der Hilfslinie aus, lassen sich im Geviert somit keine Bebauungstiefen finden, die die beim Bauvorhaben vorgesehene Bebauungstiefe von 41,4 m erreichen. Abgesehen vom Grundstück FlNr. 75/133 lassen sich die größten Bebauungstiefen bei den Gebäuden G2.straße 8, 10, 12, 14 und 16 (FlNrn. 75/123, 75/122, 75/121, 75/120 und 75/28) mit jeweils nicht über 35 m (abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan 1:1000) feststellen.
1.1.3. Das Vorhaben fügt sich auch nicht – trotz Rahmenüberschreitung – ausnahmsweise in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Vielmehr wäre es geeignet, bodenrechtlich beachtliche und ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen (vgl. dazu BVerwG, U.v. 21.11.1980 – 4 C 30.78 – BRS 36 Nr. 56, U.v. 17.6.1993 – 4 C 17/91 – BRS 55 Nr. 72), weil von ihm für die Grundstücke, die über unbebautes Hinterland verfügen, eine negative Vorbildwirkung ausgehen würde. Würde die von der Klägerin geplante Bebauungstiefe verwirklicht, wären aufgrund ihrer Größe insbesondere nahezu alle südlich an der G1. Str. gelegenen Grundstücke im rückwärtigen Bereich noch in den Dimensionen eines zusätzlichen Hauptgebäudes bebaubar. Eine Ausnahme bildet hier nur das Grundstück FlNr. 75/20. Begrenzungen bestünden im Gegensatz zur jetzigen Situation einzig noch aufgrund der einzuhaltenden Abstandsflächen. Die Zulassung des Vorhabens des Klägers würde somit eine erhebliche Veränderung provozieren, nämlich hin zu einer für das Gebiet bis dahin untypischen Baudichte.
1.2. Nach alledem kann an sich offen bleiben, ob sich das Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde. Wäre diese Frage entscheidungserheblich, würde die Kammer sie im Übrigen aber in Bezug auf das Verhältnis von bebauter Fläche zu Freifläche, das bei offener Bebauung auch als Bezugsgröße zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung relevant ist (BVerwG, B.v. 23.3.1994 – 4 C 18/92 – NVwZ 1994, 106, B.v. 14.3.2013 – 4 B 49/12 – und B.v. 3.4.2014 – 4 B 12/14 – jeweils juris), ebenfalls verneinen.
Auch hinsichtlich des im Rahmen des Maßes der baulichen Nutzung zu prüfenden Verhältnisses von Freifläche zu bebauter Fläche ist nach den oben dargestellten Kriterien der Rechtsprechung zur maßgeblichen näheren Umgebung auf das Geviert abzustellen.
Im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB sind in erster Linie solche Maßfaktoren relevant, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen. Damit ist eine Berücksichtigung der Maßfaktoren der BauNVO zwar nicht ausgeschlossen, sie werden allerdings vielfach nur eine untergeordnete bis gar keine Bedeutung für die Frage des Einfügens haben, weil sie in der Örtlichkeit häufig nur schwer ablesbar sind (BVerwG, B.v. 14.3.2013 a.a.O.). Auch das Verhältnis bebauter Fläche zur Freifläche manifestiert sich deshalb im maßgeblichen Quartier weniger im Rahmen der Maßzahlen entsprechend § 16 Abs. 2 BauNVO, sondern vor allem dadurch, wie diese Bezugsgrößen nach außen deutlich werden.
Vorliegend zeichnet sich die maßgebliche Umgebung des Bauvorhabens durch eine im Verhältnis zur jeweiligen Grundstücksgröße eher zurückhaltende Bebauung und die Existenz größerer Freiflächen aus. Das Eckgrundstück FlNr. 75/20 (G1. Str. 75) weicht von dieser Ordnung zwar in gewisser Weise ab. Die bebaute Fläche nimmt im Vergleich zur Freifläche einen erkennbar größeren Anteil ein. Dennoch bricht das Bauvorhaben mit der vorhandenen Struktur noch einmal deutlich, denn als Freifläche auf dem Grundstück verblieben im Fall seiner Realisierung im Wesentlichen nur noch die Grundstücksbereiche, auf die die notwendigen Abstandsflächen des im vorderen Bereich des Grundstücks genehmigten und bereits im Bau befindlichen Mehrfamilienhauses sowie des hier streitgegenständlichen Einfamilienhauses fallen. Eine vergleichbare Reduktion der Freiflächen findet sich offensichtlich auf keinem der übrigen Grundstücke im Quartier.
Aufgrund der massiven baulichen Verdichtung unter Verlust von Freiflächen kann dem Vorhaben auch eine unerwünschte Vorbildwirkung und die damit verbundene Erzeugung von bodenrechtlichen Spannungen durch die – hierdurch eröffnete – mögliche Nachverdichtung in der maßgeblichen Umgebung nicht abgesprochen werden. Eine entsprechende bauliche Ausnutzung wie auf dem klägerischen Grundstück käme im Fall der Verwirklichung des Vorhabens auf einer Vielzahl anderer Grundstücke im Geviert in Betracht.
2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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