Baurecht

Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot wegen der Höhe des Vorhabens

Aktenzeichen  M 8 K 13.1449

Datum:
29.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 34 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Ein Vorhaben, dass in einer beengten Umgebung das Nachbargebäude deutlich überragt und auf dieses eine einmauernde Wirkung hat, verstößt gegen das Gebot der Rücksichtnahme. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Das Gericht konnte über die Klage ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 20. Januar 2014 zum Übergang in das schriftliche Verfahren ihr Einverständnis erteilt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
II.
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg, da der Klägerin kein Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids für die Aufstockung des Rückgebäudes zusteht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1. Das beantragte Bauvorhaben ist in beiden abgefragten Varianten planungsrechtlich unzulässig, da es gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich im Hinblick auf das übergeleitete Bauliniengefüge entlang der …straße nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Im Begriff des „Sicheinfügens“ eines Vorhabens in die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist auch das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme als ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal enthalten (BVerwG, U.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98, NVwZ 1999, 879 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2326 – juris Rn. 10 m. w. N.).
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründen, wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er eine Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist.
In der Rechtsprechung zum Rücksichtnahmegebot ist anerkannt, dass eine Verletzung auch dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U. v. 13.3.1981 – 4 C 1/78, DVBl. 1981, 928 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U. v. 23.5.1986 – 4 C 34/85, NVwZ 1987, 34 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem zweigeschossigen Wohnanwesen; BayVGH, B. v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770, BayVBl. 2009, 751 – juris Rn. 23; B. v. 5.7.2011 – 14 CS 11.814 – juris Rn. 21). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind u. a. die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Eine „erdrückende Wirkung kommt dann in Betracht, wenn die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d. h. dort ein gefühltes „Eingemauertsein“ oder eine „Gefängnishofsituation“ hervorruft (vgl. BayVGH, U.v. 11.04.2011 – 9 N 10.1373 – juris Rn. 56).
2. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist zu der Beantwortung der Einzelfragen im Bescheid von 4. März 2013 Folgendes festzustellen:
2.1 Frage 1
Das geplante Vorhaben ist in beiden abgefragten Varianten planungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB unzulässig, da es gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Von dem Vorhaben geht gegenüber dem Nachbaranwesen …straße 15-15 b eine „einmauernde“ bzw. „abriegelnde“ Wirkung aus. Mit der Verwirklichung der geplanten Aufstockung erreicht das klägerische Rückgebäude eine Höhe von insgesamt 16,46 m an der westlichen Grundstücksgrenze. Damit würde das Rückgebäude der Klägerin das Nachbargebäude …straße 15 a um ca. 7,56 m überragen, was eine Höhendifferenz von nahezu 3 Geschossen bedeutet.
Bei Verwirklichung des Vorhabens in der Variante B wird an der Grenze zu dem Nachbargrundstück …straße 15 zusätzlich ein 15,93 m hoher Verbindungsbau errichtet, so dass auf einer Länge von ca. 8 m entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze eine zusätzliche, 15,93 m hohe Mauer entstehen würde.
Mit der Höhenentwicklung von 16,46 m wirkt das Rückgebäude der Klägerin fast doppelt so hoch, wie das Nachbargebäude …straße 15 a. Im Hinblick auf die ohnehin schon sehr beengten baulichen Verhältnisse im Quartierinneren wird die bestehende Situation auf dem westlich angrenzenden Nachbargrundstück noch deutlich verschlechtert, da der westliche Nachbar sich einer 7,56 m hohen und ca. 17 m breiten Wand unmittelbar an der östlichen Grundstücksgrenze gegenüber sehen würde. Das im Vergleich zu dem Nachbargebäude …straße 15 a fast doppelt so hohe Vorhabengebäude würde das Anwesen …straße 15-15 b derart „abriegeln“ und „einmauern“, dass dort der Eindruck einer „Gefängnishofsituation“ entstehen würde.
Durch die Verwirklichung des Vorhabens in der Variante B wird diese bereits durch die Variante A ausgelöste „einmauernde“ und „abriegelnde“ Wirkung des Vorhabens auf das westliche Nachbargrundstück noch erheblich verschärft, da bei dieser Vorhabenvariante zusätzlich eine fünfgeschossig wirkende Mauer an der östlichen Grundstücksgrenze entstehen würde. Das nur knapp 15 m breite Nachbargrundstück Fl.Nr. … wird an seiner Ostseite mit über 15 m hohen Mauern auf der gesamten Länge der östlichen Grundstücksgrenze vollständig abgeriegelt.
Diese nachteiligen Einwirkungen des streitgegenständlichen Vorhabens auf das Nachbaranwesen …straße 15, können dem Eigentümer des Nachbargrundstücks nicht mehr zugemutet werden, weshalb das Vorhaben gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt.
Im Hinblick darauf kann vorliegend offen bleiben, ob das geplante Vorhaben sich nach den übrigen Kriterien des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, da die geplante Höhenentwicklung im Inneren des Quartiers …straße, …straße, …straße und …straße durchaus vorzufinden ist.
Im Übrigen ist anzumerken, dass sich die hier gegebene bauliche Situation von der Situation auf dem östlichen Nachbargrundstück …straße 11 wesentlich unterscheidet, weshalb das streitgegenständliche Vorhaben einer anderen rechtlichen Beurteilung unterliegt. Während das auf dem östlichen Nachbargrundstück genehmigte Gebäude sich an die fünfgeschossige rückwärtige Bebauung des Nachbargrundstücks …straße 9 anschließt, so dass zwischen diesen Gebäuden keine wesentliche Höhendifferenz bestehet, überragt das streitgegenständliche Vorhabengebäude das westliche Nachbargebäude um nahezu 3 Geschosse und wirkt deshalb doppelt so hoch. Damit entsteht auf dem westlichen Nachbargrundstück …straße 15 eine erstmalige Belastung, die in dem klägerseits geschilderten Vergleichsfall nicht gegeben war.
Auch die Einwirkung des östlichen Nachbargebäudes (…straße 11) auf das klägerische Grundstück ist mit der des Vorhabengebäudes auf das westliche Nachbargrundstück (…straße 15) nicht vergleichbar. Das genehmigte Nachbargebäude …straße 11 ist an der westlichen Grundstücksgrenze in einem Abstand von ca. 7 m zu der klägerischen Grundstücksgrenze situiert. Dagegen soll das streitgegenständliche Vorhabengebäude unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze mit der Fl.Nr. … errichtet werden.
2.2 Frage 2
Da das Bauvorhaben in beiden abgefragten Varianten gegen das Bauplanungsrecht verstößt (vgl. Frage 1 unter 2.1), kommt eine Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen vor der östlichen Außenwand nach Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht in Betracht.
2.3 Frage 3
Grundsätzlich wäre nach der neueren Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 11.11.2015 – 2 CS 15.1251 – juris) für das von der südlichen Grundstücksgrenze zurückversetzte Terrassengeschoss – auch im Falle einer planungsrechtlich zulässigen Grenzbebauung – eine Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsfläche erforderlich, die mangels einer nach Art. 63 Abs. 1 BayBO erforderlichen atypischen grundstücksbezogenen Situation vorliegend wohl ohnehin nicht in Betracht käme (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2015 – 2 CS 15.1251 – juris Rn. 9).
Darauf kommt es jedoch vorliegend nicht entscheidend an, da eine Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsfläche vor der südlichen Außenwand schon wegen fehlender planungsrechtlicher Zulässigkeit des Bauvorhabens zu verneinen ist (vgl. Ziffer 2.1).
2.4 Frage 4
Es ist bereits fraglich, ob die Frage 4 den erforderlichen Vorhabenbezug aufweist (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 14.2.2008 – 15 B 06.3463 – juris).
Mit dieser Frage wird planungsrechtliche Zulässigkeit eines westlichen Grenzanbaus abgefragt. Damit ist die Frage 4 – jedenfalls in ihrem ersten Satz – ausschließlich auf die Ausforschung der geltenden Rechtslage ohne Bezug zu einem konkreten Bauvorhaben gerichtet.
Bezogen auf das im Vorbescheidsverfahren abgefragte Vorhaben ist ein Grenzanbau planungsrechtlich unzulässig, da ein Verstoß gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme vorliegt.
Aus demselben Grund kann auch keine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO in Aussicht gestellt werden.
2.5. Frage 5
Für ein planungsrechtlich unzulässiges Bauvorhaben kommt keine Abweichung wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO in Betracht (vgl. Ziffer 2.1).
3. Die Klage war mit Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO vollumfänglich abzuweisen.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.


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