Baurecht

Verwirkung der Nachbarklage bei anderweitiger Kenntniserlangung der nicht amtlich bekanntgegebenen Baugenehmigung

Aktenzeichen  AN 3 K 20.01230

Datum:
3.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38185
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 58 Abs. 2, § 70  Abs. 1, § 74 Abs. 1 S. 2
BGB § 242

 

Leitsatz

1. Nachbarn stehen zueinander in einem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis, das nach Treu und Glauben von ihnen besondere Rücksichten gegeneinander fordert. Aus dem nachbarlichen Gegenseitigkeits- und Gemeinschaftsverhältnis resultiert etwa die Pflicht, Einwendungen gegen ein Bauvorhaben möglichst ungesäumt vorzutragen, um auf diese Weise wirtschaftlichen Schaden vom Bauherrn abzuwenden oder möglichst gering zu halten.   (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Nachbar muss dieser Verpflichtung dadurch nachkommen, dass er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden soll, weil er mit seinen Einwendungen länger als notwendig gewartet hat. Die Dauer des Zeitraums der Untätigkeit des Berechtigten, von der an im Hinblick auf die Gebote von Treu und Glauben von einer Verwirkung/einer unzulässigen Rechtsausübung die Rede sein kann, hängt dabei entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat der Nachbar von der erteilten Baugenehmigung, obschon sie ihm nicht amtlich bekanntgegeben worden ist, auf andere Weise zuverlässig Kenntnis erlangt, so muss er sich in aller Regel nach Treu und Glauben bezüglich der Widerspruchseinlegung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der zuverlässigen Kenntniserlangung amtlich bekanntgegeben worden. Denn nach Treu und Glauben muss ihn diese Kenntniserlangung regelmäßig in gleicher Weise wie eine amtliche Bekanntmachung zur Geltendmachung seiner Einwendungen in angemessener Frist veranlassen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gegenstand vorliegender Klage ist die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.
Die Drittanfechtungsklage ist bereits unzulässig, da die Klägerin ihre verfahrensrechtlichen Nachbarrechte im Hinblick auf den Zeitablauf unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles verwirkt hat (unzulässige Rechtsausübung, § 242 BGB analog.)
I.
Die Drittanfechtungsklage eines Nachbarn kann unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung bzw. unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB anlog), welcher auch verfahrensrechtliche Rechte unterliegen, unzulässig sein (BVerwG, U.v. 25.1.1974 – IV C 2.72 – BVerwGE 44, 294/301).
Nachbarn stehen zueinander in einem nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis, das nach Treu und Glauben von ihnen besondere Rücksichten gegeneinander fordert. Aus dem nachbarlichen Gegenseitigkeits- und Gemeinschaftsverhältnis resultiert etwa die Pflicht, Einwendungen gegen ein Bauvorhaben möglichst ungesäumt vorzutragen, um auf diese Weise wirtschaftlichen Schaden vom Bauherrn abzuwenden oder möglichst gering zu halten. Der Nachbar muss dieser Verpflichtung dadurch nachkommen, dass er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden soll, weil er mit seinen Einwendungen länger als notwendig gewartet hat. Die Dauer des Zeitraums der Untätigkeit des Berechtigten, von der an im Hinblick auf die Gebote von Treu und Glauben von einer Verwirkung/einer unzulässigen Rechtsausübung die Rede sein kann, hängt dabei entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BayVGH, B.v. 21.3.2012 – 14 ZB 11.2148 – juris; VG Ansbach, U.v. 17.4.2020 – AN 3 K 18.00985; U.v. 17.6.2020 – AN 9 K 19.0091 – juris).
Das BVerwG führt hierzu mit Urteil vom 25. Januar 1974 (Az. IV C 2/72) aus:
„Hat der Grenznachbar von der dem Bauwilligen erteilten Baugenehmigung, obschon sie ihm nicht amtlich bekanntgegeben worden ist, auf andere Weise zuverlässig Kenntnis erlangt, so muss er sich in aller Regel nach Treu und Glauben bezüglich der Widerspruchseinlegung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der zuverlässigen Kenntniserlangung amtlich bekanntgegeben worden. Denn mit Rücksicht auf das bezeichnete Nachbarschaftsverhältnis muss ihn diese Kenntniserlangung nach Treu und Glauben in aller Regel in gleicher Weise wie eine amtliche Bekanntmachung der Genehmigung zur Geltendmachung seiner Einwendungen in angemessener Frist veranlassen. Die Frist zur Einlegung des Widerspruchs richtet sich deshalb für ihn vom Zeitpunkt der zuverlässigen Kenntniserlangung an regelmäßig nach den Fristvorschriften der §§ 70 Abs. 1 und 58 Abs. 2 VwGO. Sofern ihm – wie fast immer – mit der anderweitigen Kenntniserlangung von der Genehmigung nicht zugleich eine amtliche Rechtsmittelbelehrungerteilt wird, muss er also seinen Widerspruch regelmäßig innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO einlegen; ein später eingelegter Widerspruch ist unzulässig. Gleiches gilt nach Treu und Glauben regelmäßig für den Fall, dass der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis hätte haben müssen, weil sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber – etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde – Gewissheit zu verschaffen. Dann läuft für ihn die Frist des § 70 Abs. 1 i. Verb. m. § 58 Abs. 2 VwGO für die Einlegung des Widerspruchs von dem Zeitpunkt ab, in dem er zuverlässige Kenntnis von der Genehmigung hätte erlangen müssen.“
Nach diesen Grundsätzen, die im Falle der Entbehrlichkeit eines Widerspruchsverfahrens auch für das Klageverfahren Anwendung finden, trat der Zustand der Verwirkung im vorliegenden Fall mit dem Ablauf einer einmonatigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO) ein: Die Klägerin erlangte unstrittig am 28. Juni 2019 sichere Kenntnis vom Inhalt der Baugenehmigung, welche mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:versehen war. Die Klage wäre demnach spätestens am 29. Juli 2019 zu erheben gewesen (§§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 und 2 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB), ging jedoch erst am 29. Juni 2020 bei Gericht ein.
Dabei ist in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Klägerin am 28. Juni 2019 eine Ausfertigung der Baugenehmigung nebst ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung:erlangte und sie deshalb wie bereits dargelegt so zu behandeln ist, als sei für sie eine einmonatige Klagefrist gelaufen, das Zeitmoment derart ausschlaggebend, dass in der Regel kein weiteres besonderes Umstandsmoment auf Seiten der Beigeladenen erforderlich ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2019 – 15 ZB 18.979 – juris). Dies gilt umso mehr, als die Monatsfrist nicht nur (deutlich) verstrichen war, sondern bis zur Klageerhebung sogar nahezu ein Jahr vergangen war.
Hinzu kommt im vorliegenden Fall – unter Hervorhebung der Tatsache, dass das Rechtsinstitut der Verwirkung Ausfluss eines besonderen Vertrauensverhältnisses unter Nachbarn darstellt -, dass die Beigeladene aufgrund der im Baugenehmigungsverfahren erfolgten Nachbarbeteiligung nach Art. 66 BayBO und angesichts des konkreten Zeitablaufes davon ausgehen durfte, dass die Klägerin nicht mehr gegen die Baugenehmigung vorgehen wird. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass sich die Klägerin vor Erteilung der Baugenehmigung an einer abwehrenden Petition der Anwohner beteiligt hatte, nach Kenntniserlangung von der Baugenehmigung dem Bauvorhaben jedoch in keiner Weise mehr entgegentrat. Die Pflicht, ihre Einwendungen ungesäumt vorzutragen, trifft die Klägerin als Nachbarin unabhängig davon, dass der Name ihres verstorbenen Ehemannes auf der Postzustellungsurkunde genannt war: Es kommt insoweit alleine auf ihre sichere Kenntnis von der Baugenehmigung an. Im Übrigen war für die Klägerin, die zum damaligen Zeitpunkt bereits Grundstückseigentümerin und Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes gewesen ist, klar erkennbar, dass die Baugenehmigung sie als Nachbarin betrifft. Auch wenn die Beigeladene von der Rodung des Baugrundstücks abgesehen also die Baumaßnahmen noch nicht umgesetzt hatte, als die Klage erhoben wurde, treten zum Zeitmoment durchaus konkrete Einzelfallumstände hinzu, die nach ihrer Gesamtheit keinen Zweifel an einer prozessualen Verwirkung der klägerischen Rechte lassen.
Darauf, ob trotz der Adressierung an … von einer wirksamen Zustellung nach Art. 66 Abs. 1 Satz 6 BayBO i.V.m. Art. 4 VwZG an die Klägerin am 28. Juni 2019 ausgegangen werden kann, kommt es daher für die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage nicht an.
II.
Ergänzend sei angemerkt, dass die Verwirkung vorliegend auch die materiellen Nachbarrechte der Klägerin umfasst, sodass die Klage darüber hinaus unbegründet wäre.
Grundsätzlich kann sich die Klägerin als Nachbarin auf eine Verletzung von drittschützenden Abstandsflächenvorschriften (hier Art. 6 Abs. 3 und Abs. 6 BayBO) oder des Gebotes der Rücksichtnahme berufen. Auch diese materiellen Rechte können jedoch nach den oben genannten Grundsätzen verwirkt werden, wenn ihre Geltendmachung aufgrund des Zeitablaufs und (ggf.) weiterer hinzutretender Umstände eine Verletzung des auf Beigeladenenseite geschaffenen Vertrauens darauf, dass die Klägerin keine Nachbarrechte mehr geltend machen wird, darstellt (BayVGH, B.v. 28.3.1990 – 20 B 89.3055 – juris).
Wie oben zum Verfahrensrecht der Klägerin dargelegt, treten zum für sich genommen bereits eindeutigen Zeitmoment konkrete Einzelfallumstände hinzu, die nach ihrer Gesamtheit keinen Zweifel an einer – auch materiellen – Verwirkung lassen, sodass sich die Klägerin auf eine ggf. Verletzung ihrer Nachbarrechte nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht berufen könnte.
III.
Die Klage war somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Da sich die Beigeladene durch Antragstellung am Prozessrisiko beteiligt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten ebenfalls der Klägerin aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708  Nr. 11, 711 ZPO.


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