Baurecht

Vorausleistungen auf Erschließungsbeiträge

Aktenzeichen  AN 3 K 20.01110

Datum:
20.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31544
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
KAG Art. 5a Abs. 1, Abs. 7
BauGB § 34, § 125 Abs. 2, § 127 Abs. 2 Nr. 1, § 130 Abs. 2 S. 3, § 133 Abs. 2, Abs. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4

 

Leitsatz

1. Wie weit eine einzelne Anbaustraße reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich nach dem Gesamteindruck und den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Frage, ob eine Erschließungsanlage trotz einer Engstelle ihre Erschließungsfunktion erfüllen kann, muss die gesamte Erschließungsanlage und nicht allein die Engstelle betrachtet werden. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
3. Straßen mit einer Breite von unter 6 m entsprechen auch in ländlichen Gegenden zur reibungslosen Abwicklung des Begegnungsverkehrs nicht den Anforderungen an eine ausreichende Erschließung. (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
4. Hat die Gemeinde von den Grundstückseigentümern iRd Baugenehmigung Straßensicherungskosten erhoben, ist dies ein Indiz dafür, dass die Straße nicht erstmals hergestellt war. (Rn. 70) (redaktioneller Leitsatz)
5. Zur Annahme einer Erschließungseinheit reicht es nicht aus, dass mehrere selbstständige Anlagen miteinander verbunden sind und ein siedlungsmäßig oder sonst sichtbares abgrenzbares System darstellen. Erforderlich ist vielmehr ein besonderer funktionaler Zusammenhang. (Rn. 81) (redaktioneller Leitsatz)
6. Hat der Beitragspflichtige vor Inkrafttreten einer Fristenregelung zur Erhebung von Beiträgen bereits einen Beitragsbescheid erhalten, so ist kein Platz für ein schutzwürdiges Vertrauen, nach Jahren keinen Beitrag mehr bezahlen zu müssen. (Rn. 92) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Entscheidung konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne (weitere) mündliche Verhandlung ergehen.
I. Die Klage ist zulässig, insbesondere liegt ein wirksamer Übergang der Anfechtungsklage auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO vor, nachdem sich der ursprünglich angefochtene Vorausleistungsbescheid sowohl hinsichtlich des festsetzenden Teiles als auch des Leistungsgebotes durch Erlass des endgültigen Beitragsbescheides erledigt hat. Dem Kläger steht prozessual auch ein berechtigtes Interesse an einer Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorausleistungsbescheides insoweit zur Seite, als er dieselben Einwendungen auch gegen die endgültige Heranziehung geltend machen konnte (vgl. hierzu etwa BayVGH, U.v. 3.7.2006 – 6 B 03.2544 – juris).
Der Klageantrag ist gemäß § 88 VwGO dahingehend sachgerecht auszulegen, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorausleistungsbescheides der Beklagten vom 20. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2020 begehrt wird.
II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Der streitgegenständliche Vorausleistungsbescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Regierung von Mittelfranken ist rechtmäßig. Der Kläger wurde durch diesen Bescheid in seinen Rechten nicht verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Satz 1 VwGO.
1. Rechtsgrundlage des inmitten stehenden Vorausleistungsbescheides für die erstmalige Herstellung des … sind Art. 5a KAG i.V.m. §§ 127 ff. BauGB i.V.m. der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen in der Stadt … vom 15. Dezember 1999 in der Fassung der 10. Satzung zur Änderung der Satzung vom 1. August 2018 (EBS).
Bedenken bezüglich der Rechtmäßigkeit der Erschließungsbeitragssatzung sind weder klägerseits vorgetragen noch sonst ersichtlich, so dass von ihrer Gültigkeit auszugehen ist (in ständiger Rechtsprechung vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.6.1997 – 6 ZS 97.1305 – juris).
2. Nach § 133 Abs. 3 Satz 1 BauGB, § 14 EBS können Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag bis zur Höhe des voraussichtlichen Erschließungsbeitrages erhoben werden.
Im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen für die Erhebung von Vorausleistungen auf Erschließungsbeiträge gemäß § 133 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 BauGB vor, was voraussetzt, dass eine Beitragspflicht für die erstmalig herzustellende, aber noch nicht endgültig fertiggestellte Erschließungsanlage nicht bereits entstanden ist. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist die Situation im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung.
Entsprechend der grundlegenden Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 1. Juni 2011 – 6 BV 10.2467 (BayVBl. 2012, 206 ff. zum Straßenausbaubeitragsrecht) setzt die Erhebung einer Vorausleistung mit Blick auf ihr Wesen als eine Zahlung, die vor Entstehung der endgültigen (sachlichen) Beitragspflicht „auf den Beitrag“ und zur Verrechnung mit der endgültigen Beitragsschuld (§ 133 Abs. 3 Satz 2 BauGB) erbracht wird, ferner voraus, dass eine wirksame Beitragssatzung vorhanden ist und die Gemeinde alle weiteren, ihr obliegenden rechtlich relevanten Entscheidungen getroffen hat, die für die Bestimmbarkeit der Höhe der zukünftigen (endgültigen) Beitragsforderung erforderlich sind. Die nach § 125 BauGB erforderlichen planungsrechtlichen Voraussetzungen hingegen müssen erst im Zeitpunkt der endgültigen Beitragserhebung erfüllt sein (vgl. etwa BayVGH, B.v. 17.10.2000 – 6 ZB 00.1276 – juris Rn. 15 m.w.N.), so dass der klägerische Einwand insoweit fehlgeht.
Die genannten Voraussetzungen liegen hier vor und rechtfertigen die streitgegenständliche Vorausleistung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach. Insbesondere war im vorliegenden Fall die Beitragspflicht zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung noch nicht entstanden, da eine endgültige Herstellung der inmitten stehenden Erschließungsanlage noch nicht vorlag. Denn dies setzt voraus, dass der Erschließungsbeitrag mit Hilfe der letzten Unternehmerrechnung der Höhe nach ermittelt werden kann, was zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht gegeben war.
a) Der … wird durch die vorausleistungspflichtigen Baumaßnahmen erstmalig als voll funktionsfähige Erschließungsanlage hergestellt.
aa) Wie weit eine einzelne Anbaustraße im Sinne von Art. 5a Abs. 1 KAG i.V. mit § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB reicht und wo eine andere Verkehrsanlage beginnt, bestimmt sich nach dem Gesamteindruck, den die jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter vermitteln. Zu fragen ist dabei, inwieweit sich die zu beurteilende Straße als augenfällig eigenständiges Element des örtlichen Straßennetzes darstellt. Mithin hat sich der ausschlaggebende Gesamteindruck nicht an Straßennamen, Grundstücksgrenzen oder dem zeitlichen Ablauf von Planung und Bauausführung auszurichten, sondern, ausgehend von einer natürlichen Betrachtungsweise, an der Straßenführung, der Straßenlänge, der Straßenbreite und der Straßenausstattung (ständige Rechtsprechung; vgl. etwa BVerwG, U.v. 10.6.2009 – 9 C 2.08 – NVwZ 2009, 1369/1370; BayVGH, U.v. 30.11.2009 – 6 B 08.2294 – juris Rn. 16; U.v. 30.6.2011 – 6 B 08.369 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Gemessen an diesem Maßstab ist davon auszugehen, dass es sich bei der von der Beklagten abgerechneten Erschließungsanlage … auf einer Länge von rund einem Kilometer von der Einmündung von der … im Süden in Richtung Norden bis zu der Einmündung in das … um eine Erschließungsanlage im Sinne des § 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB handelt. Insbesondere stellt der Beginn der Engstelle auf Höhe des klägerischen Grundstückes trotz der unterschiedlichen Straßenbreite und -ausstattung keine augenfällige Zäsur dar, welche den von Süd nach Norden durchgehenden Straßenzug in zwei Anlagen zerteilt. Das ergibt sich aus dem Gesamteindruck, den die Kammer nicht nur aufgrund der vorliegenden Luftbildaufnahmen, sondern insbesondere auch im Rahmen der Inaugenscheinnahme gewonnen hat. Die Verschmälerung der Straße und der Wegfall des Gehweges, welche durch die Grundstückszuschnitte sowie die straßennahe Bebauung bedingt sind, unterbrechen die Straßenführung nicht signifikant.
bb) Soweit der Kläger einwendet, die Straße sei auf Höhe seines Grundstückes als Erschließungsanlage nicht „funktionsfähig“ und deshalb auch nicht beitragsfähig, da sie auf einer Länge von rund 100 m zu schmal sei, nicht über einen separaten Gehweg verfüge und letztlich keine Ausweichmöglichkeiten für Kraftfahrzeuge, Fußgänger- und Radverkehr vorhalte, kann dieses Vorbringen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt überzeugen. Die Straße entspricht in ihrer gesamten Ausdehnung den in § 13 EBS normierten Herstellungsmerkmalen.
Nach den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen Ausgabe 2006 (im Folgenden: RASt 06), Ziffer 6.1.1.2 ist die zweistreifige Fahrbahn einer Erschließungsstraße zwischen 4,5 m und 6,5 m breit. Als Sonderregelung für schmale Zweirichtungsfahrbahnen wird in der Regel eine Fahrbahnbreite von 3,5 m bis 4,75 m für gering belastete Erschließungsstraßen angegeben (Ziffer 6.1.1.10 RASt 06). Beträgt die Belastung weniger als 30 Lastkraftwagen pro Stunde bei einer Abschnittslänge von 50 m bis 100 m, ist eine Fahrbahnbreite von 4,75 m angemessen, bei beengten Verhältnissen bis 4,50 m. Ist die Straße mit weniger als 70 Kraftfahrzeugen pro Stunde und geringem Lastkraftwagenverkehr belastet und ist der enge Abschnitt etwa 50 m lang, genügt eine Fahrbahnbreite von 3,5 m, in Ausnahmefällen von 3 m. Allerdings ist zu beachten, dass bei der Frage, ob eine Erschließungsanlage trotz einer Engstelle ihre Erschließungsfunktion erfüllen kann, die gesamte Erschließungsanlage und nicht allein die Engstelle betrachtet werden muss. Wenn aufgrund beengter innerörtlicher Verhältnisse nicht alle Kriterien der als Orientierungshilfe dienenden RASt 06 eingehalten werden können, führt dies – wie auch im vorliegenden Fall – nicht zur Funktionslosigkeit einer Erschließungsanlage und damit zur Beitragsschädlichkeit (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 23.11.2020 – 6 ZB 20.2263 – juris). Die Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) hat ebenso wie die frühere Empfehlung für die Anlage von Erschließungsstraßen (EAE 85/95) nur empfehlenden Charakter. Ihr kommt keine verbindliche Wirkung im Sinn einer Norm zu. Die Gemeinden können bei der Planung anhand der konkreten örtlichen Situation im notwendigen Umfang hiervon abweichen (BayVGH, U.v. 11.06.2002 – 6 B 97.2355 – juris Rn. 23).
Es ist mithin rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte sich aufgrund der vorhandenen Bebauung sowie des geringen Verkehrsaufkommens dazu entschlossen hat, den Ausbau des … den vorhandenen Gegebenheiten anzupassen. Das gilt unabhängig von der Frage, ob die Beklagte geeignete Erweiterungsflächen zu angemessenen Konditionen hätte erwerben können und ob nach dem subjektiven Empfinde des Klägers der vorherige Zustand der Straße, welche zuvor an mehreren Stellen über Privatgrund verlief und entsprechend breiter war, besser gewesen ist. Bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung der Erschließungsanlage sind Engstellen grundsätzlich auszublenden (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BayVGH, B.v. 23.08.2010 – 6 ZB 09.1394 – juris Rn. 5). Ausdehnung und Lage der durch ein Wohngebiet verlaufenden Erschließungsanlage … im örtlichen Verkehrsnetz lassen keine intensive Nutzung dieser Straße erwarten. Sie dient nicht als überörtliche Verbindungsstraße, sondern im Wesentlichen den Anliegern dieser Straße. Das Verkehrsaufkommen ist im Vergleich zu anderen innerörtlichen Erschließungsanlagen in … als gering einzuschätzen. Soweit die Anlieger gewerbliche Nutzungen ausüben (dürfen), ist ohne weiteres davon auszugehen, dass der entsprechende Ziel- und Quellverkehr auf den jeweiligen Anliegergrundstücken wenden kann. Im Übrigen (Müllabfuhr, Rettungsdienste etc.) bietet die als Tempo 30-Zone ausgestaltete Straße ausweislich der Akten sowie der bei der Inaugenscheinnahme gewonnenen Erkenntnisse jedenfalls bis Beginn zu der Engstelle im Bereich des klägerischen Grundstückes sowie dann erneut im Bereich der Einmündung des … in den … auf Höhe der Grundstücke FlNrn. … sowie … mehrere Ausweichmöglichkeiten (vgl. zu alldem BayVGH, B.v. 23.2.2015 – 6 ZB 13.978 – juris). Unschädlich ist hierbei, dass die Beklagte im Bereich der Engstelle keine Ausweichstellen vorgesehen hat. Nach den bei der Inaugenscheinnahme gewonnenen Erkenntnisse der Kammer ist die rund 100 m lange und ausweislich der bei der Inaugenscheinnahme vorgenommenen Messungen zwischen 3,34 m (an der engsten Stelle) bis zu 4,64 m breite Engstelle aufgrund ihres geraden Verlaufs bei verkehrsgemäßem Verhalten (insbesondere erhöhter Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer und reduzierter Geschwindigkeit) von beiden Seiten derart einsehbar, dass man bei Gegenverkehr vor dem jeweiligen Beginn der Engstelle (von Süden kommend im Bereich des Grundstückes FlNr. …, anschließend im Bereich der Einmündung des … in den …auf Höhe der Grundstücke FlNrn. … sowie … und von Norden kommend im Bereich der Einmündung des … in den …) warten kann. Dies gilt insbesondere auch im abfallenden Bereich der Straße auf Höhe der Grundstücke FlNrn. … und … Unschädlich ist weiterhin die Entscheidung der Beklagten, im Bereich der Engstellen wegen der beengten Verhältnisse auf einen Gehweg zu verzichten. Denn die RASt 06 lassen gemäß Ziffer 6.1.1.1 neben dem Trennungsprinzip auch das Mischungsprinzip zu, das Kraftfahrzeugverkehr und Fußgängerverkehr auf derselben Verkehrsfläche vorsieht (vgl. hierzu VG Würzburg, U.v. 13.3.2013 – W 2 K 11.32 – juris 37f.). Ein verkehrswidriges Verhalten von Verkehrsteilnehmern, wie etwa zu schnelles Fahren, Überholen von Radfahrern oder Fußgängern ohne den erforderlichen Seitenabstand oder behinderndes Parken ist indes nicht auf den Ausbau der Straße zurückzuführen, sondern beruht auf einer eigenen Entscheidung der jeweiligen Verkehrsteilnehmer. Das Gericht muss bei seiner Beurteilung davon auszugehen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer regelgerecht verhalten. Dem verkehrswidrigen Verhalten einzelner Verkehrsteilnehmer könnte indes durch entsprechende Hinweisschilder und durch eine Verkehrsüberwachung begegnet werden; zusätzliche Regelungen zum Vorrang bei Begegnungsverkehr oder Park- und Halteverbote, etwa auf Höhe des Grundstückes FlNr. …, erscheinen möglich (vgl. auch VG Würzburg, U.v. 12.3.2015 – W 3 K 13.273 – juris).
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die inmitten stehende Erschließungsanlage in ihrer Gesamtheit nicht funktionsunfähig ist, so dass sich die Baumaßnahme als ausbaubeitragsfähig erweist.
cc) Beim … handelt es sich indes nicht um eine bereits vorhandene (historische) Straße im Sinne des Erschließungsbeitragsrechts, so dass Art. 5a Abs. 7 KAG (früher § 242 Abs. 1 BauGB) die Entstehung der Beitragspflicht nicht hindert.
(1) Dahinstehen kann die Frage, ob der … wegen teilweiser Bebauung seit den 1960er-Jahren Erschließungsfunktion hatte, da er nach dem bis zum 29. Juni 1961 geltenden Recht nicht erstmals endgültig hergestellt war.
Aus dem Blickwinkel des Erschließungsbeitragsrechts liegt eine nicht nach den §§ 127 ff. BauGB abrechenbare „historische Straße“ vor, wenn diese zu irgendeinem Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes (BBauG) am 30. Juni 1961 Erschließungsfunktion besessen hat und für diesen Zweck endgültig hergestellt war (vgl. u.a. BayVGH, U.v. 10.4.2001 – 6 B 96.2239 – juris). Das heißt, dass neben der Erschließungsfunktion für die Annahme einer historischen Straße ferner deren „endgültige Herstellung“ erforderlich ist (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 10.8.2000 – 6 B 96.2367 – juris).
Welche Merkmale eine Straße aufweisen musste, um nach dem bis zum 29. Juni 1961 anzuwendenden Recht als endgültig hergestellt zu gelten, bestimmt sich nach den landesrechtlichen und örtlichen straßenbaurechtlichen Vorschriften sowie nach städtebaulichen Regeln, nach etwaigen Richtlinien für den Abschluss von Straßenkostensicherungsverträgen, nach der erkennbar gewordenen Straßenplanung der Gemeinde und, falls es an dahingehenden Unterlagen fehlt, nach den örtlichen Verkehrsbedürfnissen.
(a) Jedenfalls durfte eine Gemeinde wegen der erforderlichen Eignung einer Verkehrsanlage, den anliegenden Grundstücken eine ausreichende wegemäßige Erschließung zu vermitteln, gewisse objektive Mindeststandards, welche z.B. ihren Niederschlag in der Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern (IME) vom 6. August 1936 (MABl. 1998, S. 627) gefunden haben, nicht unterschreiten (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 7.3.2002 – 6 B 97.3735 – juris).
Diese Ministerialentschließung unterscheidet auf der einen Seite zwischen städtischen und vorstädtischen Wohnstraßen, bei welchen eine Gesamtbreite von 8,5 m, d.h. 6 m Fahrbahnbreite und beiderseits 1,25 m Gehsteigbreite oder 5,5 m Fahrbahnbreite und beiderseits 1,5 m Gehsteigbreite angemessen sind, und Straßen in ländlichen Gegenden andererseits, bei denen regelmäßig eine Gesamtbreite von 6 m genügt und bei denen im Allgemeinen auf Gehsteige verzichtet werden kann.
Letztlich kann vorliegend die Einordnung in die Kategorie „vorstädtisch“ oder „ländliche Gegend“ zum damaligen Zeitpunkt dahinstehen. Denn die Mindestbreite des Straßenkörpers, der zur unmittelbaren Abwicklung des Straßenverkehrs benutzt wird, sollte nach der Ministerialentschließung auch in ländlichen Gegenden, ob mit oder ohne Gehweg, eine Gesamtbreite von 6 m nicht unterschreiten. Darüber hinaus sollten die Fahrbahnen auch in ländlichen Baugebieten auf ihrer ganzen Breite befestigt werden. Vorliegend war der … ausweislich der damaligen Flurkarten sowie der Erhebungsniederschrift über die Ersterfassung des … aus dem Jahr 1962 zum damaligen Zeitpunkt eine noch nicht ausgebaute Orts straße mit einem leicht gefestigten Sandweg sowie einer Breite von lediglich 2,50 m – 3,00 m. Mithin waren die oben erwähnten Mindestanforderungen nicht erfüllt.
Insoweit führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Urteil vom 7. März 2002 – 6 B 97.3735 (juris) aus, dass es im Anschluss an die Ministerialentschließung vom 6. August 1936 der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs entspricht, dass Straßen mit einer Breite von unter 6 m auch in ländlichen Gegenden zur reibungslosen Abwicklung des Begegnungsverkehrs nicht den Anforderungen an eine ausreichende Erschließung gerecht werden. Ähnlich hat sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Urteil vom 23. Dezember 1982 – 6 B 80 A 2226 (juris) geäußert, wonach 1964 eine Straßenbreite von 4,75 m nicht den Verkehrserfordernissen jener Zeit entsprach. Auch im Urteil vom 12. Januar 1993 – 6 B 90.2391 (juris) stellt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof darauf ab, dass bei einer Ausbaubreite von nur 5 m die dortige Erschließungsstraße nicht erstmalig hergestellt war, da sie bis 1978 nicht die für Erschließungsstraßen seit 1936 erforderliche Breite von 6 m aufgewiesen hat.
Somit war die streitgegenständliche Anlage bereits aus diesem Grund nicht erstmals endgültig hergestellt, sondern lediglich ein Provisorium.
Auf die weitere Frage, ob zum damaligen Zeitpunkt darüber hinaus auch eine ausreichende Straßenbeleuchtung vorlag, welche nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, U.v. 9.10.1980 – 6 B 2245/79) vor dem Inkrafttreten des BBauG am 30. Juni 1961 eine erforderliche Teileinrichtung einer endgültig hergestellten Straße war, kommt es daher nicht an.
(b) Als ortsrechtliche Regelungen zur Beurteilung der Frage, ob von einer endgültig hergestellten Straße auszugehen war, waren auch die vom Stadtrat der Beklagten erlassenen Straßenbaustatute vom 15. Mai 1950 sowie vom 27. Mai 1960 zu würdigen.
Diesen Statuten ist insbesondere unter Ziffer 5 Buchst. b bzw. § 2 Abs. 2 Satz 1 Buchst. c zu entnehmen, dass die Herstellung des Straßenkörpers in der Regel eine beidseitige, etwa 50 cm breite Straßenrinne aus Großpflastersteinen und Randsteinen umfasst.
Dabei ist der in den Straßenbaustatuten verwendeten Formulierung „in der Regel“ nicht zu entnehmen, dass es sich nur um eine Kann- und nicht um eine Mussvorschrift handelt. Die dort niedergelegten Anforderungen beschreiben vielmehr die „Regel straße“ mit entsprechenden Abweichungen im Hinblick auf die Straßendecke bzw. den Oberflächenbelag für Straßen mit geringem Verkehr (Ziffer 6) sowie für Straßen mit stärkerer Verkehrsbeanspruchung und für Straßen mit größerem Längsgefälle (Ziffer 7) bzw. aus wichtigem Grund mittels Stadtratsbeschluss (§ 2 Abs. 3). Das Erfordernis einer beidseitigen, etwa 50 cm breiten Straßenrinne aus Großpflastersteinen und Randsteinen hingegen wurde in den genannten Straßenbaustatuten für sämtliche Straßen unabhängig von deren Verkehrsbeanspruchung oder Verkehrsbedeutung vorgesehen.
Ausweislich der den vorliegenden Behördenakten zu entnehmenden umfangreichen Fotodokumentation vom Zustand des … vor der streitgegenständlichen Straßenbaumaßnahme war eine solche beidseitige Straßenrinne bislang weder auf beiden Seiten, geschweige denn lückenlos vorhanden. Es ist davon auszugehen, dass der … diese durch die Straßenbaustatute der Beklagten aufgestellte Anforderung auch vor Aufnahme dieser Bilder noch nie erfüllt hat. Der Kläger hat diese Vermutung auch nicht durch seinen Vortrag entkräftet.
(c) Dass vor dem Inkrafttreten des BBauG keine erstmalige endgültige Herstellung des … vorgelegen hat, lässt sich ferner der im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens erfolgten Sicherstellung von Straßenherstellungskosten gemäß § 62 BayBO (1901) entnehmen.
Nach § 62 BayBO (1901), der in Bayern vor Inkrafttreten des BBauG bzw. BauGB Regelungen über die Straßenherstellung enthalten hat, konnten die Gemeinden von den Grundstückseigentümern Straßensicherungskosten im Rahmen der Baugenehmigung erheben, um die spätere Herstellung der Straße zu sichern. Dies erfolgte – wie vorliegend – häufig durch Eintragung einer Sicherungshypothek auf dem Grundstück. Hat die Gemeinde im Rahmen der Baugenehmigung Straßensicherungskosten verlangt, so ist dies ein Indiz dafür, dass die Gemeinde bei der Erhebung der Straßensicherungskosten davon ausging, dass die Straße nicht erstmals hergestellt war. Wäre die Straße erstmals hergestellt gewesen, wäre kein Raum mehr für Straßensicherungskosten gewesen.
Ausweislich der zwischen der Beklagten sowie einem Bauwerber (damals Anwesen … …, heute …) geschlossenen Vereinbarung vom 6. März 1956 über die Sicherstellung der Straßenherstellungskosten bestand zugunsten der Beklagten eine Hypothek zur Sicherung von Straßenkosten. Auf dem hierzu von der Beklagten vorgelegten Dokument wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Straße noch nicht ausgebaut ist.
Nach alldem war der … nach dem bis zum 29. Juni 1961 geltenden Recht nicht erstmals endgültig hergestellt.
(2) Dies gilt gleichermaßen für die Zeit ab Inkrafttreten des BBauG am 30. Juni 1961 bis zur Durchführung der streitgegenständlichen Baumaßnahmen.
(a) Selbst wenn der … – wie nicht – bereits alle in § 13 EBS entsprechend § 132 Nr. 4 BauGB von der Beklagten festgelegten Herstellungsmerkmale der endgültigen Herstellung einer Erschließungsanlage aufgewiesen hätte, so war jedenfalls bislang die Erfüllung des sich aus § 125 BBauG/BauGB ergebenden Planerfordernisses bzw. die damals anstelle eines Bebauungsplans nötige Zustimmung der höheren Verwaltungsbehörde unbestritten nicht gegeben.
Hinsichtlich des nördlichen Teiles der inmitten stehenden Erschließungsanlage liegt ein Bebauungsplan gemäß § 125 Abs. 1 BauGB nicht vor. Ein nach § 125 Abs. 2 BauGB planersetzender Beschluss dahingehend, dass die endgültig herzustellende Erschließungsanlage den in § 1 Abs. 4 bis 7 BauGB bezeichneten Anforderungen entspricht, lag ebenfalls nicht vor.
(b) Darüber hinaus ist eine Anbaustraße erst dann endgültig hergestellt im Sinne des § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB, wenn sie erstmals die nach dem satzungsmäßigen Teileinrichtungsprogramm und dem dieses bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen ergänzenden (formlosen) Bauprogramm erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Standard entsprechen (BayVGH, B.v. 12.6.2014 – 6 CS 14.1077 – juris unter Verweisung auf BVerwG, U.v. 10.10.1995 – 8 C 13.94 – juris).
Derartige Baumaßnahmen, geschweige denn ein erforderliches Bauprogramm der Beklagten hinsichtlich des … lagen bis zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Baumaßnahmen nicht vor. Ein Beschluss über das Bauprogramm wurde erstmals am 17. Januar 2012 gefasst.
(3) Im Übrigen war die Beklagte bislang auch noch nicht Eigentümerin aller für den Straßenbau notwendigen Flächen. Der Grunderwerb ist jedoch Merkmal der endgültigen Herstellung nach § 13 Abs. 6 EBS.
Somit wird der … erst durch die vorausleistungspflichtigen Baumaßnahmen erstmalig hergestellt. Da die Beklagte mangels früherer erstmals endgültiger Herstellung berechtigt gewesen ist, für die nunmehrigen Straßenbaumaßnahmen Vorausleistungen auf Erschließungsbeiträge zu erheben, ist der angefochtene Vorausleistungsbescheid nicht zu beanstanden.
dd) Entgegen dem klägerischen Vorbringen war die Beklagte – jedenfalls im Rahmen der Heranziehung zu Vorausleistungen auf den Erschließungsbeitrag – auch nicht ausnahmsweise aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null zu einer gemeinsamen Abrechnung des … mit dem … sowie dem … als eine Einheit im Sinne des Art. 5a Abs. 1 KAG i.V.m. § 130 Abs. 2 Satz 3 BauGB verpflichtet.
Der Erschließungsaufwand kann nach § 130 Abs. 2 Satz 3 BauGB nur dann für mehrere Anlagen insgesamt ermittelt (und verteilt) werden, wenn diese Anlagen „für die Erschließung der Grundstücke eine Einheit bilden“. Die Gemeinde darf also nicht etwa beliebig eine Erschließungseinheit bilden. Sie kann nach ihrem Ermessen vielmehr (nur) entscheiden, dass sie eine tatsächlich vorhandene Erschließungseinheit in Ausnahme von der allgemeinen Regel einer Einzelabrechnung insgesamt abrechnen will. Zur Annahme einer solchen Erschließungseinheit reicht es nicht aus, dass mehrere selbstständige Anlagen miteinander verbunden sind und ein siedlungsmäßig oder sonst sichtbar abgrenzbares System etwa innerhalb eines Baugebiets darstellen. Erforderlich ist nach dem Gesetzeszweck vielmehr ein besonderer funktionaler Zusammenhang. Den tragenden Grund für die Erschließungseinheit bildet nämlich das gemeinsame Angewiesensein aller Anlieger auf die Benutzung der Hauptstraße. Er bewirkt, dass die durch die Hauptstraße erschlossenen Grundstücke keinen höheren Sondervorteil genießen als die durch die Neben straße erschlossenen Grundstücke. Diese durch die Hauptstraße vermittelte Vorteilsgemeinschaft rechtfertigt eine gemeinsame Ermittlung und Verteilung des Erschließungsaufwands mit dem Ziel, die Beitragsbelastung zugunsten der Anlieger der regelmäßig aufwändigeren Hauptstraße zu nivellieren. Ein solcher besonderer funktionaler Zusammenhang liegt nur vor, wenn mehrere Anbaustraßen derart in Beziehung zueinander stehen, dass eine abhängige (Neben-)Straße ihre Funktion lediglich im Zusammenwirken mit einer bestimmten anderen (Haupt-)Straße in vollem Umfang zu erfüllen geeignet ist, wenn also ausschließlich die letztere der ersteren die Anbindung an das übrige Straßennetz der Gemeinde vermittelt (BayVGH, B.v. 2.3.2017 – 6 ZB 16.1888 -, Rn. 14, juris Rn. 14 m.w.N).
Vorliegend kommt bei einer Gegenüberstellung der endgültigen Beitragssätze für den … (22,6781 EUR/qm) sowie den … (16,3542 EUR/qm) die verpflichtende Bildung einer Erschließungseinheit durch die Beklagte zwar durchaus in Betracht. Der Hinweis des Klägers, die Anwohner des … sowie des … seien auf die Benutzung (eines Teils) des … angewiesen, erscheint berechtigt. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die für die Einheit im Sinne des § 130 Abs. 2 Satz 3 BauGB erforderliche „funktionale Abhängigkeit“ zwischen diesen Straßen besteht. Dass die Beklagte dabei im Rahmen der Vorlausleistung ausnahmsweise aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null zur gemeinsamen Abrechnung verpflichtet war, kann im Rahmen der Anfechtung des Vorausleistungsbescheides jedoch nicht festgestellt werden. Zwar erreicht der Unterschied der auf Basis einer Schätzung von der Beklagten ermittelten Beitragssätze durchaus den Bereich der vom Bundesverwaltungsgericht für eine Ermessensreduzierung auf Null genannten „um mehr als ein Drittel höheren Kosten“ (vgl. u.a. BVerwG, U.v. 30.1.2013 – 9 C 1/12 – juris Rn. 19). Letztlich kommt es hierauf allerdings nicht entscheidend an. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 30.01.2013 a.a.O. Rn. 20) entsteht die Pflicht zur gemeinsamen Abrechnung der eine Erschließungseinheit bildenden Straßen erst dann, „wenn im Zeitpunkt unmittelbar vor der endgültigen Herstellung der ersten Straße absehbar ist“, dass sich bei getrennter Abrechnung voraussichtlich ein um ein Drittel höherer Beitragssatz ergäbe. Zu dem regelmäßig erheblich früheren Zeitpunkt, zu dem Vorausleistungen erhoben werden, kann hingegen noch nicht von einer Pflicht zur gemeinsamen Abrechnung ausgegangen werden. Die Gemeinden haben bei der Erhebung von Vorausleistungen gar keine tragfähige Entscheidungsgrundlage für eine solche antizipierte Ermessensentscheidung, da sie auf der Basis eines geschätzten Aufwands die Prognose einer Prognose abzugeben hätten (vgl. hierzu VG München, B.v. 17.7.2013 – M 2 S 13.1696 – juris Rn. 44). Dass vorliegend die von der Beklagten für die Berechnung der Vorausleistung getroffene Kostenschätzung (zufälligerweise) nicht unerheblich von den endgültigen Erschließungskosten abweicht, ist insoweit unbeachtlich.
ee) Die Beitragserhebung ist auch nicht wegen Zeitablaufs ausgeschlossen.
(1) Die vierjährige Festsetzungsverjährung gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 3 KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 AO ist eindeutig noch nicht abgelaufen.
Die für die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen geltende Frist ist grundsätzlich auch auf die Erhebung von Vorausleitungen anwendbar. Insoweit ist an den Zeitpunkt des Entstehens der Vorausleistungspflicht anzuknüpfen. Hierzu gehört neben der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Ermessensentscheidung der Gemeinde, die Vorausleistung überhaupt zu erheben. Vor dieser Ermessensentscheidung kann keine Festsetzungsfrist zu laufen beginnen (vgl. hierzu Matloch/Wiens in: Matloch/Wiens, Das Erschließungsbeitragsrecht in Theorie und Praxis, 68. UPD April 2021, Rn. 1426a).
(2) Der Erhebung des streitgegenständlichen Erschließungsbeitrages steht des Weiteren auch nicht die Ausschlussfrist des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 1 Halbs. 1 KAG i.V.m. Art. 19 Abs. 1 KAG entgegen.
Nach dieser Vorschrift ist die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig.
Die in diesem Zusammenhang relevante „Vorteilslage“ tritt grundsätzlich dann ein, wenn die Erschließungsanlage insgesamt betriebsfertig ist, mithin technisch endgültig fertiggestellt ist (vgl. BayVGH, U.v. 14.11.2013 – 6 B 12.704 – juris). Die Anlage muss unter Berücksichtigung der Vorgaben des konkreten Bauprogramms (vorliegend aus dem Jahre 2014), der in der Satzung genannten baulichen Merkmale der endgültigen Herstellung sowie der Erwartungen eines objektiven Betrachters den Eindruck der Abrechenbarkeit erwecken. Nicht ausreichend ist, dass die Straße zuvor schon „gebrauchsfertig“ und „benutzbar“ war (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 30.3.2016 – 6 ZB 15.2426 – juris Rn. 9).
Für die vorliegend streitgegenständliche Anlage lag die endgültige technische Fertigstellung nach dem zu Grunde liegenden Bauprogramm und den Satzungsbestimmungen der Beklagten ausweislich der Akten, insbesondere den darin befindlichen Lichtbildaufnahmen, zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides eindeutig noch nicht vor. Vielmehr wirkte die Erschließungsanlage … erkennbar wie ein Provisorium. So fehlten unter andere eine Abgrenzung von der Fahrbahn durch Randsteine, Pflasterzeilen oder ähnliche zweckdienliche Einrichtungen sowie an mehrere Stellen die Asphaltdecke.
(3) Auch die erst am 1. April 2021 und damit erst nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides in Kraft getretene Regelung in Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG führt nicht zum Klageerfolg.
Danach kann für vorhandene Erschließungsanlagen, für die eine Beitragspflicht noch nicht entstanden ist, kein Beitrag mehr erhoben werden, wenn seit dem Beginn der erstmaligen technischen Herstellung der Erschließungsanlage mindestens 25 Jahre vergangen sind.
Diese Regelung führt jedoch nicht dazu, dass vor ihrem Inkrafttreten bereits durch Beitragsbescheid festgesetzte Beiträge nicht mehr einziehbar sind. Vorliegend war die Regelung in Art. 5a Abs. 7 Satz 2 KAG zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch nicht in Kraft getreten und damit nicht anwendbar. Bei dieser Fristenregelung geht es im Kern um den Vertrauensschutz des Beitragspflichtigen, der nach vielen Jahren nicht mehr damit rechnen müssen soll, doch noch mit einer Beitragsforderung „überrascht“ zu werden. Hat der Beitragspflichtige aber bereits vor Inkrafttreten dieser Regelung am 1. April 2021 einen Beitragsbescheid erhalten, so ist kein Platz mehr für ein schutzwürdiges Vertrauen, keinen Beitrag mehr bezahlen zu müssen (vgl. Matloch/Wiens, a.a.O. Rn. 1101a).
(4) Auch von einer Verwirkung kann vorliegend nicht ausgegangen werden.
Voraussetzung für den Eintritt einer Verwirkung ist zunächst, dass der Anspruch der Gemeinde bereits besteht, also auch geltend gemacht werden kann (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 12.2.2004 – 6 CS 03.2960 – juris). Eine Verwirkung setzt die Nichtausübung eines bestehenden Rechtes voraus, mithin müssen die Voraussetzungen für die Erhebung des Beitrags bzw. der Vorausleistung vollumfänglich vorliegen. Ist dies zu bejahen, sieht die Gemeinde jedoch gleichwohl von der Beitragserhebung ab, so kann bei Hinzutreten weiterer Voraussetzungen Verwirkung eintreten.
Vorliegend scheitert die Annahme der Verwirkung bereits daran, dass, wie bereits ausgeführt, die sachliche Beitragspflicht für die abgerechneten Maßnahmen bislang noch nicht entstanden ist.
Nach alldem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 Abs. 2, 173 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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