Baurecht

Voraussetzungen der Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans

Aktenzeichen  M 11 K 18.6119

Datum:
8.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 49154
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 9, § 34 Abs. 1
BayBO Art. 71

 

Leitsatz

1. Eine bauplanerische Festsetzung tritt dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient (hier bejaht).   (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird dagegen nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Landratsamtes Starnberg vom … November 2018 verpflichtet, der Klägerin einen positiven Vorbescheid für die Errichtung eines Einfamilienhauses im südlichen Bereich des Grundstücks Fl.Nr. 2…2/3 dahingehend zu erteilen, dass in dem im Lageplan Bl. 21 der Behördenakte rot gekennzeichneten Bereich ein Einfamilienhaus nach der überbaubaren Grundstücksfläche bauplanungsrechtlich zulässig ist.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat Erfolg, da sie zulässig und begründet ist.
I.
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da sie einen Anspruch auf den zuletzt begehrten Vorbescheid hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dem Bauvorhaben stehen insoweit keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind (Art. 71 Satz 4 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Insbesondere stehen dem Vorhaben nicht die Festsetzungen des Bebauungsplans … entgegen. Dieser ist jedenfalls für das streitgegenständliche Grundstück und hinsichtlich der Baugrenzen funktionslos geworden ist.
1. Das streitgegenständliche Grundstück und die entlang des … Wegs südlich angrenzenden Grundstücke Fl.Nr. 2…2/4, 223/2, 224/1 sowie das südlich der Straße … befindliche Grundstück Fl.Nr. 92/2 liegen noch im Geltungsbereich des ursprünglichen Bebauungsplans … aus dem Jahr 1956. Der Ursprungsplan wird zwar durch mehrere Änderungen überlagert. Allerdings erfasst keine davon die genannten Grundstücke. Die Änderung aus dem Jahr 1961 („…*) bezieht sich nach der Überschrift auf „die Grundstücke Plan Nr. 115, 116 u. 118“. Diese sind als damals ungeteilte Grundstücke im Ursprungsplan westlich der genannten Grundstücke mit dem Namen „… eingezeichnet. Die Grenze dieses Änderungsplans verläuft somit entlang der östlichen Seite der heutigen Grundstücke Fl.Nr. 115, 115/1, 115/2, und 115/3. Der Bereich nördlich des streitgegenständlichen Grundstücks wird durch eine Bebauungsplanänderung aus dem Jahr 2000 überlagert. Maßgeblich für die Beurteilung sind daher die – jedenfalls im streitgegenständlichen Bereich – verbliebenen fünf Grundstücke Fl.Nr. 2…2/3, 2…2/4, 223/2, 224/1 und 92/2, für die noch der Ursprungsplan gilt.
2. Der Bebauungsplan … ist jedenfalls für das streitgegenständliche Grundstück und hinsichtlich der Baugrenzen funktionslos geworden.
Eine bauplanerische Festsetzung tritt dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird dagegen nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – BVerwGE 108, 71 = juris Rn. 22 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Gericht hat beim Augenschein festgestellt, dass, wenn man einen aktuellen Lageplan über den Bebauungsplan legt, die Gebäude auf den Grundstücken Fl.Nr. 2…2/3, 223/2, 224/1 und 92/2 augenscheinlich zu einem erheblichen Teil nicht im Baufenster liegen. Auch das Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. 2…2/4 scheint augenscheinlich nicht vollständig im Baufenster zu liegen. Das Gebäude … 1 auf dem Grundstück Fl.Nr. 92/2 dürfte sogar sehr deutlich außerhalb des im Bebauungsplan eingezeichneten Baufensters liegen. Somit erscheint die Festsetzung der Baufenster überholt, da sie auf den wenigen noch im Geltungsbereich des ursprünglichen Bebauungsplans liegenden Grundstücken überwiegend nicht eingehalten wird. Die Grundstücke sind bereits bebaut, sodass eine andere, die Festsetzungen einhaltende Bebauung, nicht absehbar ist. Die Abweichungen sind auch hinreichend offensichtlich. Bereits vor dem Vergleich von aktuellem Lageplan und Bebauungsplan hat das Gericht beim Augenschein allein anhand des optischen Eindrucks festgestellt, dass die zusammengebauten Häuser auf dem Grundstück Fl.Nr. 92/2 nicht vollständig innerhalb des Baufensters liegen dürften. Auch das Gebäude auf dem klägerischen Grundstück ist augenscheinlich näher an die Straße herangerückt, als das Baufenster dies vorsieht.
Da der Bebauungsplan … hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen funktionslos ist, kommt es auf die ursprünglich zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die Klägerin nach § 31 Abs. 2 BauGB einen Anspruch auf Befreiung von den Festsetzungen hat, nicht mehr entscheidungserheblich an.
3. Die Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich somit nach § 34 BauGB, da es innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Der Begriff der überbaubaren Grundstücksfläche umfasst dabei sowohl den quantitativen Anteil der Gebäudegrundfläche an derjenigen des Baugrundstücks als auch die Situierung dieser Fläche auf dem Baugrundstück. Bei letzterer kann zur Konkretisierung auf § 23 BauNVO als Auslegungshilfe zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38/13 – NVwZ 2014, 1246 = juris Rn. 8).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Vorhaben in dem auf Blatt 21 der Behördenakte rot gekennzeichneten Bereich bauplanungsrechtlich zulässig, da sich eine solche Situierung in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Als nähere Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist der das Baugrundstück umgebende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369/380 = juris Rn. 33; B.v. 20.8.1988 – 4 B 79/98 – NVwZ-RR 1999, 105 = juris Rn. 7; BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12 – BVerwGE 148, 290 = juris Rn. 10; st. Rspr.). Der danach maßgebliche Bereich ist bei der überbaubaren Grundstücksfläche in der Regel enger zu begrenzen als etwa bei der Art der baulichen Nutzung (BayVGH, B.v. 25.4.2005 – 1 CS 04.3461 – juris Rn. 18). Er beschränkt sich vorliegend auf die Bebauungsreihe westlich des … Wegs und reicht nach Süden höchstens bis zur … und nach Norden höchstens bis zur Hellipstraße. Innerhalb dieses Bereichs sind nach dem aktuellen Lageplan und dem Eindruck des durchgeführten Augenscheins keine faktischen Baulinien, Baugrenzen oder einheitlichen Bebauungstiefen (vgl. § 23 Abs. 1 BauNVO) erkennbar, die dem Standort des geplanten Vorhabens im südlichen Bereich des streitgegenständlichen Grundstücks entgegenstünden.
Damit ist allerdings keine Aussage darüber verbunden, wie groß ein Gebäude in diesem Bereich sein dürfte. Da zuletzt ausschließlich die überbaubare Grundstücksfläche streitgegenständlich war, kommt es auch nicht mehr auf sonstige Fragen des Einfügens im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB oder Fragen der Erschließung und den Vortrag der Beteiligten hierzu an.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie keine Anträge gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 und § 154 Abs. 3 VwGO).
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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