Baurecht

Vorhaben zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden im Außenbereich

Aktenzeichen  M 9 K 15.5084

Datum:
27.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 35 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 3
BauNVO BauNVO § 6 Abs. 1

 

Leitsatz

Eine unzumutbare, das Gebot der Rücksichtnahme verletzende Belastung für gewerblich genutzte Grundstücke in einem faktischen Mischgebiet liegt nicht darin begründet, dass auf einem angrenzenden, im Außenbereich befindlichen Grundstück ein Vorhaben zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden genehmigt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1. zu tragen. Die Beigeladene zu 2. trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger wird durch den streitgegenständlichen Vorbescheid nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Im Rahmen des anzulegenden Prüfungsmaßstabs ist nicht erkennbar, inwiefern der Vorbescheid maßgebliche Rechtsstellungen des Klägers verletzen könnte. Im Nachbarrechtsstreit verengt sich der Prüfungsmaßstab auf die Verletzung drittschützender Normen. Dies sind solche, denen ein subjektiver Gehalt dergestalt zukommt, dass sie ausschließlich oder zumindest neben dem öffentlichen Interesse auch Individualinteressen zu dienen bestimmt sind und die die Rechtsmacht verleihen, Individualinteressen durchzusetzen (BeckOK-VwGO § 42 Rn. 151). Die Prüfung beschränkt sich somit darauf, ob durch den angefochtenen Vorbescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
Der Vorbescheid verletzt keine drittschützenden Vorschriften.
1. Ein Gebietserhaltungsanspruch steht dem Kläger von vorn herein nicht zu, da die im Vorbescheid behandelte Unterkunft ein sonstiges Vorhaben im Außenbereich darstellt, da sie weder in einem Plangebiet noch im Innenbereich liegt und kein Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 BauGB eingreift. Ein Nachbar, dessen Grundstück nicht im Plangebiet oder im faktischen Baugebiet liegt, hat grundsätzlich keinen von konkreten Beeinträchtigungen unabhängigen Anspruch auf Schutz vor gebietsfremden Nutzungen im angrenzenden Plangebiet oder faktischen Baugebiet; der Nachbarschutz für außerhalb der Grenzen des Plangebiets gelegene Grundstücke bestimmt sich vielmehr über das Gebot der Rücksichtnahme (BayVGH, B.v. 13.1.2014 – 2 ZB 12.2242 – juris Rn. 11f.). Der Kläger ist damit auf das Gebot der Rücksichtnahme beschränkt. Da § 35 Abs. 2 und 3 BauGB – abgesehen vom Gebot der Rücksichtnahme – keine nachbarschützende Funktion haben, bedarf es unabhängig vom Eingreifen des § 246 Abs. 9 BauGB keiner näheren Prüfung, ob der Vorbescheid schon deswegen nicht ergehen durfte, weil die Ausführung des abgefragten Vorhabens die übrigen öffentlichen Belange beeinträchtigt (BVerwG, U.v. 21.1.1983 – 4 C 59/79 – juris Rn. 12). Der Kläger erlangt eine schutzwürdige Abwehrposition nicht allein dadurch, dass die auf seinem Grundstück verwirklichte Nutzung zulässig, das im Vorbescheid behandelte Vorhaben dagegen eventuell wegen einer Beeinträchtigung öffentlicher Belange, die nicht dem Schutz privater Dritter zu dienen bestimmt sind, nach § 35 Abs. 2 BauGB unzulässig ist (BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5.93 – juris Rn. 19).
2. Der Vorbescheidsantrag ist hinreichend bestimmt. Aus einem Vorbescheidsantrag muss das Vorhaben, dessen Zulässigkeit geprüft werden soll, und der Umfang, in dem die Prüfung begehrt wird, hervorgehen (BayVGH, U.v. 17.7.2009 – 1 B 06.518 – juris Rn. 42). Diese Kriterien sind hier erfüllt, da das Vorhaben – Errichtung einer Unterkunft zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden – und der Umfang der begehrten Prüfung – planungsrechtliche Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung nach – ausdrücklich benannt werden. Mit dieser Anfrage sind der Umfang der bauaufsichtlichen Prüfung und damit die eingeschränkte Bindungswirkung des Vorbescheids hinreichend bestimmt.
3. Der Umstand, dass sich aus dem Vorbescheid weder Nutzungsmaß noch Standort des Vorhabens ergeben, verhilft der Klage nicht zum Erfolg. Aus nachbarrechtlicher Sicht ist eine etwaige Unbestimmtheit eines Vorbescheids nur dann erheblich, wenn infolge des Mangels nicht beurteilt werden kann, ob das Vorhaben den geprüften nachbarschützenden Vorschriften entspricht. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zu Lasten des Klägers bei jedem erdenklichen Nutzungskonzept ausgeschlossen ist (BayVGH, B.v. 18.9.2008 – 1 ZB 06.2294 – juris Rn. 31). Das über § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BauGB bzw. als ungeschriebener Belang in die Prüfung eingehende Gebot der Rücksichtnahme ist nicht verletzt.
a) Das Gebot der Rücksichtnahme, dessen Verletzung vorliegend gerügt wird, soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten und vermittelt insofern Drittschutz, als die Genehmigungsbehörde in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Belange eines erkennbar abgrenzbaren Kreises Dritter zu achten hat. Die Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und was dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständiger und unabweisbarer die Interessen des Bauherren sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
b) Anders als der Klägerbevollmächtigte meint, wurde die Frage einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens vorliegend nicht ausgeklammert. Die Bejahung der Zulässigkeit der Art der Nutzung umfasst auch die Prüfung, ob bzw. dass das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt ist. Dabei gilt das in § 35 Abs. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme nicht nur für Außenbereichsvorhaben untereinander, sondern wirkt über Gebietsgrenzen hinweg und kommt insbesondere auch Eigentümern zugute, deren Grundstücke im unbeplanten Innenbereich liegen (BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5.93 – juris Rn. 15).
c) Die aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere aufgrund der speziellen Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebiets bzw. der betroffenen Bebauung zu bestimmende Zumutbarkeitsgrenze (BVerwG, B.v. 2.8.2005 – 4 B 41.05 – juris) wird vorliegend nicht überschritten. Der Kläger kann beim gebietsübergreifenden Nachbarschutz nicht mehr an Rücksichtnahme verlangen, als er selbst in seinem Gebiet einfordern könnte (OVG Berlin, U.v. 24.9.1971 – II B 12.71 – BeckRS 1971, 31154227). Der Augenschein hat gezeigt, dass die klägerischen gewerblich genutzten Grundstücke in einem faktischen Mischgebiet liegen. Diese dienen dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören, vgl. § 6 Abs. 1 BauNVO. Auf den FlNrn. … und … befinden sich vorliegend ein Trachtenmodengeschäft, ein Kfz-Betrieb und eine Firma, die Reinigungssysteme herstellt. Auf den FlNr. …, … und … und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Gewerbebetrieben, befinden sich mehrere Wohnhäuser, die keine Wohnungen im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO darstellen. Eine Einordnung als faktisches Gewerbegebiet kommt damit nicht in Betracht, da dann die Wohnnutzung weder als Regelnoch als Ausnahmebebauung zulässig wäre. Dass hier gebietsübergreifend die Maßstäbe für ein MI heranzuziehen sind, ergibt sich auch aus der Ortsrandlage (OVG NRW, B.v. 31.7.1992 – 10 B 3144/92 – juris Rn. 9) bzw. ergäbe sich – bei Annahme einer Kleingemengelage – aus der (analogen) Anwendung von Nr. 6.7 TA Lärm (OVG Rh.-Pf., U.v. 12.4.2011 – 8 C 10056/11 – juris; zur Mittelwert-Rechtsprechung: BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 7 B 24/07 – juris; Birkl/Geiger, Praxishandbuch des Bauplanungs- und Immissionsschutzrechts, Band I, E-Rn. 268).
Der Begriff „Unterkunft für Asylbegehrende und Flüchtlinge“ ist in der Rechtsprechung dahingehend ausgeformt, dass es sich „regelhaft“ nicht um Wohnanlagen im bauplanungsrechtlichen Sinn, sondern um Anlagen für soziale Zwecke mit wohnähnlichem Charakter handelt (BayVGH, B.v. 5.3.2015 – 1 ZB 14.2373 – juris Rn. 3 m.w.N.). Derartige Anlagen für soziale Zwecke sind als solche neben Gewerbebetrieben als Regelbebauung in Mischgebieten zulässig. Dass in der gegebenen Situation – ein MI erfordert nicht wesentlich störende Gewerbebetriebe – Belastungen entstehen könnten, die die Unterkunft über Gebühr belasten, ist nach dem Ergebnis des Augenscheins nicht ersichtlich, da die vorhandene gewerbliche Nutzung mischgebietstypisch ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, B.v. 11.3.2015 – 8 S 492/15 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 9.12.2015 – 15 CS 15.1935 – juris; VG Schwerin, B.v. 19.1.2016 – 2 B 3825/15 SN – juris Rn. 21).
d) Selbst wenn es sich bei der Unterkunft um Wohnnutzung handeln würde, wäre vorliegend keine unzumutbare Belastung der Gewerbebetriebe zu befürchten. Letztere sind nach den Feststellungen des Augenscheins durch die vorhandene Wohnbebauung erheblich vorbelastet (BVerwG, U.v. 21.1.1983 – 4 C 59/79 – juris Rn. 14). Für das Gericht ist nicht ersichtlich – hierzu wurde auch nichts vorgetragen -, welchen Belästigungen oder Störungen die Asylbewerberunterkunft in unzulässiger Weise ausgesetzt werden könnte, die die in unmittelbarer Nachbarschaft bestehenden Wohnhäuser nicht bereits entsprechend beeinträchtigen sollten. Durch die Errichtung der Asylbewerberunterkunft kann für den Kläger keine Verschlechterung der Immissionslage eintreten (BVerwG, U.v. 21.1.1983 – 4 C 59/79 – juris Rn. 15). Würden die von den Gewerbebetrieben ausgehenden Belästigungen das zumutbare Maß überschreiten, müssten diese Betriebe Einschränkungen schon aufgrund der vorhandenen Wohnbebauung hinnehmen (BVerwG, B.v. 5.3.1984 – 4 B 171/83 – juris; VG München, U.v. 17.7.2014 – M 11 K 13.4052, M 11 K 13.4124 – juris). Die Frage, ob bzw. wie ein etwaig verbleibendes „Empfindlichkeitspotential“ der Unterkunft durch entsprechende Situierung auf dem Grundstück oder durch ähnliche Maßnahmen sog. architektonischer Selbsthilfe abgemildert werden könnten, spielt angesichts des Vorbescheidantrags keine Rolle.
e) Auch die bestehende Wohnbebauung wird durch die Unterkunft nicht unzulässig beeinträchtigt. Die Wohnhäuser müssen keine über die bereits vonseiten der Gewerbebetriebe gegebenen Belästigungen oder Störungen hinausgehenden Beeinträchtigungen befürchten. Das Baurecht gewährt weiter auch keinen Milieuschutz, also keinen Schutz vor eventuell befürchteten sozialen Konflikten mit den Flüchtlingen oder mit den Asylbewerbern (BayVGH, B.v. 31.3.2015 – 9 CE 14.2854 – juris Rn. 19; VG Düsseldorf, B.v. 2.2.2015 – 9 L 25/15 – juris Rn. 43).
4. Das Erfordernis gesicherter Erschließung ist grundsätzlich nicht nachbarschützend (BayVGH, U.v. 22.1.2010 – 14 B 08.887 -; B.v. 1.3.2016 – 1 ZB 15.1560 – jeweils zitiert nach juris). Für den Kläger steht wegen der über FlNr. … als gemeindlicher Fläche – die Gemeinde erteilte vorliegend auch ihr Einvernehmen – möglichen Erschließung auch nicht zu befürchten, dass der Beigeladene zu 1.) ein Notwegerecht nach § 917 BGB geltend machen könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO; die Beigeladene zu 2. hat keinen Antrag gestellt und sich somit nicht in ein Kostenrisiko begeben, weswegen es nicht der Billigkeit entspricht, dem Kläger auch ihre außergerichtlichen Kosten aufzubürden. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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