Erbrecht

Anspruch des Krankenversicherers auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen

Aktenzeichen  9 O 3174/17

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 144974
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 116 Abs. 1 S. 1
BGB § 630g Abs. 1, Abs. 3, § 810
StGB § 203

 

Leitsatz

Wenn die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Behandlungspflichten ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht (Weiterentwicklung von BGH BeckRS 2013, 06020 Rn. 13). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Beklagte hat der Klägerin Einsicht in die über die Behandlung der bei der Klägerin versicherten Frau … geb. … 1975,. gest. … 2016, im Zeitraum 08.02.2016 bis … geführte Krankendokumentation in der Weise zu gewähren, dass er der Klägerin Zug um Zug gegen Erstattung der Fotokopierkosten Abiich tung der kompletten Krankendokumentation aus diesem Zeitraum inklusive sämtlicher Befunde, Arztbriefe, Röntgenbilder, Pflegekurven und sonstiger vorhandener Dokumentation -übergibt.
Der Beklagte hat an die Klägerin 691,33 Euro als außergerichtliche Kosten der Rechtsverfolgung nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 04.04.2017 zu bezahlen.
Der Beklagten hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Dieses Urteil ist in Ziffer I gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 800,- Euro, im übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages, vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin steht gegen den Beklagten ein Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB zu.
1. Die verstorbene Versicherungsnehmern … gemäß § 630 g Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Einsichtnahme in die vollständigen Patientenunterlagen.
2. Dieser Einsichtsanspruch ist gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit§§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB auf die Klägerin übergegangen. Die Klägerin war zur Übernahme der Krankenkosten verpflichtet. Im Hinblick auf solche Kosten, die aufgrund einer fehlerhaften Behandlung erst entstanden sind, könnte der Versicherten dann ein Schadensefsatzansprüch gegen den Beklagten zugestanden haben, wek eher ebenfalls gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf die Klägerin übergegangen wäre. Entsprechend steht der Klägerin zur Prüfung derartiger Schadensersatzansprüche auch aus übergegangenem Recht ein Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen zu.
3. Zu Unrecht beruft sich der Beklagte in diesem Zusammenhang auf eine bestehende Verschwiegenheitsverpflichtung.
a) Dabei ist grundsätzlich zutreffend, dass der Beklagte, bzw. das behandelnde … gegenüber der verstorbenen Versicherten … sowohl aus dem Behandlungsvertrag, als auch unter Berücksichtung von § 203 Abs. 4 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet war und daher grundsätzlich gehindert war, die Behandlungsunterlagen anderen Personen zur Verfügung zu stellen.
b) Diese Verschwiegenheitsverpflichtung greift grundsätzlich auch über den Tod des Betroffenen hinaus (vgl. § 203 Abs. 4 StGB), sie gewährleistet, dass geheimhaltungsbedürftige Tatsachen auch nach dem Versterben des Betroffenen weiter geheimgehalten bleiben.
c) Jedoch hängt es dann nach dem Tode des Betroffenen vom mutmaßlichen Willen des Verstorbenen ab, ob und in welchem Umfang der Geheimnisträger zum Schweigen verpflichtet ist. Hat sich der Verstorbene hierüber zu Lebzeiten geäußert, ist grundsätzlich der geäußerte Wille maßgeblich. Lässt sich dagegen eine Willensäußerung nicht feststellen, muss der mutmaßliche Wille des Verstorbenen erforscht werden. Dabei sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
d) Auf den mutmaßlichen Willen der Versicherten kommt auch in der vorliegenden Konstellation entscheidende Bedeutung zu. Insbesondere ist der mutmaßliche Wille vor einer etwa eingeholten Entscheidung der Erben vorrangig.
Etwas anderes ergibt sich auch, nicht aus § 630 g Abs. 3 BGB. Danach stehen im Falle des Todes des Patienten Einsichtsnahmerechte den Erben und den nächsten Angehörigen zu. Damit ist zum einen klargestellt, in welchen Fällen das Einsichtnahmerecht vererbt wird, zudem wird ein eigenes Recht auf Einsichtnahme den nächsten Angehörigen zugestanden. Die Rechtsstellung der Berechtigten wird damit insbesondere auch dadurch gestärkt, dass diese Einsichtsnahmerechte geltend machen können, ohne den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen nachweisen zu müssen und es vielmehr, gerade auch in Zweifelsfällen, dem Behandler obliegt, einen entgegenstehenden mutmaßlichen Willen dazulegen. Letztlich kommt allerdings – auch nach der Regelung des § 630 g Abs. 3 BGB dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen die entscheidende Bedeutung zu. Dies geht aus § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB explizit hervor.
§ 630 g BGH regelt mithin die, Rechtsstellung der Erben und nahen Angehörigen. Dem Beklagten kann dagegen nicht in seiner aus § 630 g Abs. 3 BGB gezogenen Schlussfolgerung beigetreten werden, dass mit dieser Regelung gleichzeitig die Rechte anderer möglicher Anspruchssteller beschnitten würden. Alleine aus der Verbesserung der Rechtsstellung der Hinterbliebenen nach dem Patientenrechtegesetz kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Einsichtnahmerecht in § 630 g BGB abschließend geregelt die Rechtsstellung anderer möglicher Verfahrensbeteiligter, insbesondere der beteiligten Krankenkassen, im Vergleich zur früheren Rechtslage eingeschränkt werden sollte. Hierfür bieten weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift Anhaltspunkte. Es besteht auch Einigkeit, dass jedenfalls Rechte aus § 810 BGB weiterhin bestehen können (Palandt Sprau, 75. Auflage, § 810 BGB Rn. 4)., Zudem belegt § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB, dass dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Patienten auch nach dem Patientehrechtegesetz weiterhin die entscheidende Bedeutung zukommt.
Daher kann die Klägerin grundsätzlich ein gem. § 116 SGB X auf sie übergegangenes Recht auf Einsichtnahme geltend machen, soweit dies dem mutmaßlichen Willen der Verstorbenen entspricht.
e) Die Entscheidung, ob der Verstorbene die Krankenkasse mutmaßlich von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden hätte, obliegt dem jeweiligen Geheimnisträger. Ihm kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der durch die Gerichte nur eingeschränkt nachprüfbar ist. Der Geheimnisträger ist daher zu einer gewissen haften Überprüfung verpflichtet, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, däss der Verstorbene die ganz oder teilweise Offenlegung der Krankenunterlagen gegenüber der möglicherweise Schadensersatz berechtigten Krankenkasse missbilligt hätte (vergl. OLG München, Beschluss, vom 19.09.2011, 1 W 1320/11 Rn 16). Dabei genügt es jedoch nicht, dass sich der Beklagte nur grundsätzlich auf ihre Pflicht zur Verschwiegenheit beruft. Er muss vielmehr nachvollziehbar vortragen, dass sich seine Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange des Verstorbenen und nicht auf Sachfremde Gesichtspunkte stützt.
Im vorliegenden Fall hat der Beklagte jedoch keinerlei Gesichtspunkte vorgetragen, die für oder gegen den mutmaßlichen Willen der Verstorbenen sprechen Würden.
aa) In Fällen wie dem vorliegenden/in dem die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Behandlungspflichten ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem  Krankenversicherer den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht (so auch für Ansprüche bei fehlerhafter Behandlung in Pflegeheimen, BGH-Urteil vom 26.02.2013, Az: VI ZR 359/11, Rn. 13 mit weiteren Nachweisen). Es ist davon auszugehen, dass der Patient grundsätzlich an der Aufdeckung von Behandlungsfehlern interessiert ist. Darüber hinaus ist auch davon auszugehen, dass der Verstorbene kein Interesse daran hat, dass etwaige Schadensersatzansprüche verfallen und die entsprechenden Schäden von der Solidargemeinschaft des Krankenversicherten getragen werden müssen. In diesem Zusammenhang kann, auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Krankenkasse ohnehin bereits über eine Vielzahl von Informationen ünd Unterlagen betreffend die fragliche Behandlung verfügt, so dass das Geheimhaltüngsihteresse im Verhältnis zur Krankenkasse grundsätzlich geringer sein dürfte als gegenüber weiteren Dritten.
Daher ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille der Verstorbenen hier dahingeht, dass die Klägerin Einsicht in die Behandlungsunterlagen nehmen kann. Insoweit ist die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Einsichtsnahmerecht von Pflegekassen entsprechend anzuwenden.
II.
Der Klägerin steht ferner ein Anspruch auf Erstattung der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu. Der Beklagte verweigerte die Herausgabe der beanspruchten Unterlagen zu Unrecht. Er befindet sich spätestens aufgrund der E-Mail vom 14.07.2016 seit dem 11.08.2016 in Verzug. Die Klägerin durfte sich auch anwaltlicher Hilfe bedienen. Auch nachdem die E-Mail vom 14.07.2016 nicht beantwortet worden war, durfte die Klägerin aufgrund der von ihr zitierten Rechtsprechung noch damit rechnen, dass bei Hinzuziehung ähwaltlicher Hilfe unter weiterer Ausführung der rechtlichen Voraussetzungen des geltend gemachten, in der Sache aber bestrittenen Anspruches, diese erfolgversprechend wäre.
III.
Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 91 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht, auf § 709 ZPO. Dabei war für die Höhe der Sicherheitsleistung nicht die Höhe des Streitwertes, sondern die Höhe eines möglichen Vollstreckungsschadens, hier der Erstellung der fraglichen Dokumentation, maßgeblich (vgl. ZÖller/Herget, § 709 ZPO Rn. 5). Dieser wurde mit Hinzurechnung eines ebenfalls anzusetzenden Sicherheitszuschlages geschätzt.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben