Erbrecht

besondere Härte, Eigentumswohnung, Klage gegen Widerspruchsbescheid, Miteigentum

Aktenzeichen  S 46 SO 304/17

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 9704
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XII § 102
VwGO § 79 Abs. 2 S. 1
SGB XII § 90 Abs. 3 Nr. 8

 

Leitsatz

Eine besondere Härte nach § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII kann vorliegen, wenn der Nachlass im Wesentlichen aus dem hälftigen Miteigentum an der gemeinsamen Eigentumswohnung besteht, die der überlebende Ehegatte und Erbe weiter bewohnt und auch für diesen Schonvermögen nach § 90 Abs. 3 Nr. 8 SGB XII wäre. Es sind aber auch in dieser Situation die weiteren Umstände des Einzelfalls zu prüfen.
Eine Stundung der Forderung kann zusammen mit dem Bescheid zum Kostenersatz erfolgen. Eine Stundung, etwa auf Lebzeiten des Erben, kann Einfluss auf das Bestehen einer besonderen Härte haben.
Zur Klage eines Sozialhilfeträgers gegen einen Widerspruchsbescheid, der den Ausgangsbescheid aufhebt.

Tenor

I. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2017 wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 4.411,05 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber unbegründet, weil der Bescheid zum Kostenersatz rechtswidrig ist und daher der strittige Widerspruchsbescheid zu Recht ergangen ist.
1. Streitgegenstand ist der Widerspruchsbescheid vom 30.05.2017. Der Kläger begehrt dessen Aufhebung zur Wiederherstellung des Bescheids zum Kostenersatz vom 11.07.2016 und zugleich, zum Abschluss des dann wieder offenen Widerspruchverfahrens, die Verpflichtung des Beklagten einen neuen Widerspruchsbescheid zu erlassen, der den Widerspruch zurückweist. Statthaft ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1, § 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Kläger ist klagebefugt gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG. Der Kläger ist eine eigenständige Gebietskörperschaft mit Selbstverwaltungsbefugnis (Art. 1 Bezirksordnung des Freistaates Bayern). Er nimmt die Aufgaben der Sozialhilfe nach SGB XII als überörtlicher Träger der Sozialhilfe im eigenen Wirkungskreis wahr gemäß Art. 81 Abs. 1 Bayerisches Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze – AGSG in der bis 16.01.2018 geltenden Fassung [Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AGSG aktueller Fassung]. Der Kläger kann daher geltend machen, durch die Aufhebung seines Kostenersatzbescheids nach § 102 SGB XII in eigenen Rechten, konkret in seinem kommunalen Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG nund Art. 10 Abs. 1 und 2 Bayerische Verfassung, verletzt zu sein (vgl. Bay LSG, Urteil vom 21.09.2006, L 11 SO 28/06, Rn. 35). Aus dieser möglichen Rechtsverletzung ergibt sich auch, dass der Widerspruchsbescheid ausnahmsweise entsprechend § 79 Abs. 2 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) wegen einer zusätzlichen selbständigen Beschwer alleiniger Klagegegenstand sein kann (zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 79 VwGO im sozialgerichtlichen Verfahren vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 95 Rn. 3).
Ein neues Vorverfahren vor Erhebung der Anfechtungsklage ist nicht erforderlich, weil der Widerspruchsbescheid eine selbständige Beschwer enthält (B. Schmidt, a.a.O. § 78 Rn. 8). Es wäre auch nicht sinnvoll, die Widerspruchsbehörde nach einem zurückgewiesenen Abhilfeverfahren und dem Widerspruchsbescheid mit der nochmaligen Überprüfung der eigenen Entscheidungen zu beauftragen.
Durch den Tod des Erben der Leistungsempfängerin hat sich der Kostenersatzbescheid nicht auf andere Weise nach § 39 Abs. 2 SGB X erledigt. Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war nicht ein höchstpersönlicher Anspruch, sondern ein Geldanspruch. Die Forderung von Kostenersatz gemäß § 102 SGB XII ist zusammen mit dem weiteren Nachlass Bestandteil der Erbschaft des Ehemanns der Leistungsempfängerin geworden und besteht nach dem Tod des Ehemanns im Nachlass des Ehemanns fort. Die Forderung richtet sich nun gegen die Erben des Ehemanns, die deshalb notwendig beizuladen waren.
2. Die Widerspruchsbehörde bei der Regierung von Oberbayern ist als Behörde nicht beteiligtenfähig, weil es dafür keine landesrechtliche Bestimmung gibt, § 70 Nr. 3 SGG. Der beklagte Freistaat Bayern ist als Rechtsträger der Widerspruchsbehörde der richtige Beklagte.
3. Die Klage ist unbegründet, weil der Widerspruchsbescheid rechtmäßig ist. Es besteht kein Anspruch auf Kostenersatz gegen den Ehemann der Leistungsempfängerin.
a) Der Widerspruchsbescheid ist formell rechtmäßig ergangen. Die Regierung von Oberbayern war gemäß § 85 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 SGG i.V.m. Art. 82 Abs. 2 Satz 2, Art. 80 Abs. 2 Satz 2 AGSG in der bis 16.01.2018 geltenden Fassung [Art. 80 Abs. 3 AGSG aktueller Fassung] die zuständige Widerspruchsbehörde. Durch die Rückgabe des Vorverfahrens zur Abhilfeprüfung wurde dem Kläger rechtliches Gehör gewährt. Eine Beteiligung sozial erfahrener Dritter beim Erlass eines Widerspruchsbescheids nach § 116 Abs. 2 SGB XII ist in Bayern gemäß Art. 93 AGSG in der bis 16.01.2018 geltenden Fassung [Art. 90 AGSG aktueller Fassung] generell nicht vorgesehen und auch von dem Regelungsgegenstand her nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 23.08.2013, B 8 SO 7/12 R, Rn. 11).
Durch den Tod des Ehemanns im Widerspruchsverfahren ist im Ergebnis auch keine Unterbrechung eingetreten. In einem Verwaltungsverfahren erfolgt keine Unterbrechung (BSG, Urteil vom 21.09.2017, B 8 SO 4/16 R, Rn. 17). Das Widerspruchsverfahren wird dagegen durch den Tod des Widerspruchsführers entsprechend § 239 ZPO unterbrochen; fand jedoch eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten statt, tritt eine Unterbrechung nicht ein (BSG, Urteil vom 13.07.2010, B 8 SO 11/09 R, Rn. 12). Hier war der Ehemann der Leistungsempfängerin im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt vertreten. Deshalb war das Widerspruchsverfahren nicht zu unterbrechen.
b) Der Widerspruchsbescheid ist auch materiell rechtmäßig. Der Anspruch auf Kostenersatz war gemäß § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII nicht geltend zu machen, weil die Inanspruchnahme des Erben nach den Besonderheiten des Einzelfalls eine besondere Härte bedeutet hätte.
Eine derartige besondere Härte liegt vor, soweit ein auffallend atypischer Sachverhalt vorliegt, der es unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls als unbillig erscheinen lässt, den Erben für den Ersatz der Kosten der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Die Härte muss besonders gewichtig sein, also objektiv besonders schwer wiegen. Gründe in der Person des Erben können ebenso maßgebend sein wie Gesichtspunkte wirtschaftlicher Art (BSG, Urteil vom 27.02.2019, B 8 SO 15/17 R, Rn. 23).
Nicht ausreichend wäre, dass das geerbte Vermögen zu Lebzeiten des Leistungsempfängers dessen Schonvermögen war, insbesondere in Form eines selbstgenutzten angemessenen Hausgrundstücks nach § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII. § 90 SGB XII begründet Schonvermögen für den Leistungsempfänger, kein „postmortales Schonvermögen“ für den Erben (BSG a.a.O., Rn. 20).
Angesichts des Katalogs in § 90 Abs. 2 SGB XII ist ein angemessenes Hausgrundstück regelmäßig der wertvollste Vermögensgegenstand, der auf den Erben übergehen kann (BSG, Urteil vom 27.02.2019, B 8 SO 15/17 R, Rn. 20) und es kommt auch häufiger vor, dass das hälftige Miteigentum an einer von Ehegatten bewohnten Wohnung nach dem Erbfall auf den überlebenden Ehegatten übergeht (Bay LSG, Urteil vom 23.02.2012, L 8 SO 113/09, Rn. 61). Das bedeutet aber keineswegs, dass dieser Gesichtspunkt bei der Berücksichtigung der Gesamtumstände keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielen würde. Es ist vielmehr zu prüfen, ob und inwieweit im konkreten Fall der Kostenersatz eine besondere Härte wäre.
Insbesondere in dem Fall, dass der Nachlass für den Erben selbst Schonvermögen wäre, kann ein atypischer Lebenssachverhalt im Sinn einer besonderen Härte vorliegen, (BSG, Urteil vom 27.02.2019, B 8 SO 15/17 R, Rn. 23 und BSG, Urteil vom 23.03.2010, B 8 SO 2/09 R, Rn. 28). Diese Situation ist hier gegeben, weil die kleine Eigentumswohnung von 56 qm Wohnfläche vor dem Erbfall für das Ehepaar und nach dem Erbfall für den Ehemann allein Schonvermögen gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII wäre. In einem solchen Fall liegt eine besondere Härte im Sinn von § 102 Abs. 3Nr. 3 SGB XII nahe.
Weil es um die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls geht, sind auch die weiteren Umstände in den Blick zu nehmen. Der Erbe verfügte neben der kleinen Eigentumswohnung nur über ein geringes Barvermögen von 1759,- Euro und damit über weniger als der Freibetrag nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII. Der Ehemann war nicht einmal in der Lage, die Bestattungskosten für seine Ehefrau zu tragen. Der Ehemann verfügte auch nicht über Einkommen, aus dem er die Kostenerstattung in überschaubarer Zeit hätte abzahlen können. Der Ehemann konnte mit seinem Renteneinkommen allenfalls knapp seinen eigenen existentiellen Lebensbedarf decken. Deshalb war auch eine Beleihung der Eigentumswohnung zur Bezahlung der Ersatzforderung angesichts der fehlenden Kapitaldienstfähigkeit des Ehemanns tatsächlich nicht möglich. In der Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls hätte der Ehemann die kleine Eigentumswohnung, in der er wohnte, veräußern müssen, um die Kostenerstattung zu bezahlen. An einem besonderen Härtefall bestehen für das Gericht keine Zweifel.
Eine Stundung der Forderung von Kostenersatz, sprich ein Zahlungsaufschub, ist nicht erfolgt. Mit einer Stundung etwa auf Lebzeiten des Ehemanns hätte einem Verlust des Lebensmittelpunktes des Erben vorgebeugt werden können. Damit hätte eine Stundung Einfluss auf das Bestehen einer besonderen Härte haben können. Nach dem Urteil des BSG vom 25.04.2018, B 4 AS 29/17 R, Rn. 32, ist sogar ein Erlass einer Forderung vor deren Bestandskraft möglich. Dann ist auch eine Entscheidung über eine Stundung zugleich mit dem Bescheid zur Kostenerstattung möglich (Becker, SGb 2018, S. 129 ff (136), Veränderung von Ansprüchen durch Stundung, Niederschlagung und Erlass). Haushaltsrechtliche Vorschriften sollten dem nicht entgegenstehen, weil sie eine Stundung regelmäßig vom Bestehen eines Härtefalles abhängig machen und im vorliegenden Fall auch eine dingliche Sicherung des Anspruchs durch ein Grundpfandrecht möglich ist (vgl. Art. 59 Abs. 1 Nr. 1 Bayerische Haushaltsordnung – BayHO, wonach Ansprüche nur gestundet werden dürfen, wenn die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für den Schuldner verbunden wäre und die Erfüllung des Anspruchs durch die Stundung nicht gefährdet wird).
Weil die Inanspruchnahme des Erben der Leistungsempfängerin auch nicht teilweise ohne eine besondere Härte (§ 102 Abs. 2 Nr. 3. SGB XII „soweit“) möglich war, war der Kostenersatzbescheid vom 11.07.2016 rechtwidrig. Er wurde zu Recht durch den strittigen Widerspruchsbescheid aufgehoben. Aus diesem Grund kann dahinstehen, dass der Kläger in den Kostenersatz auch die Zahlung der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einstellte, was nach § 102 Abs. 5 SGB XII nicht möglich ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts in Höhe der strittigen Geldleistung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.


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