Europarecht

3 C 17/19

Aktenzeichen  3 C 17/19

Datum:
25.2.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:250221U3C17.19.0
Spruchkörper:
3. Senat

Leitsatz

Die für die Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis erforderliche Abgrenzbarkeit des betreffenden Bereichs der Heilkunde setzt einen vom Gesetzgeber geschaffenen normativen Rahmen des Berufsbilds nicht voraus.

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 24. Juli 2019, Az: 9 S 1460/18, Urteilvorgehend VG Freiburg (Breisgau), 15. Mai 2018, Az: 5 K 1027/16, Urteil

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 24. Juli 2019 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt eine auf den Bereich der Chiropraktik beschränkte – sektorale – Heilpraktikererlaubnis.
2
Der 1972 geborene Kläger erhielt im Jahr 1997 die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Physiotherapeut; seit 1999 betreibt er eine Praxis in Freiburg. In den nachfolgenden Jahren hat er in Österreich weitere Aus- und Fortbildungen absolviert und dabei den akademischen Grad eines “Master of Science in Musculoskeletal Physiotherapy” sowie im Rahmen eines Studiums der Pflegewissenschaft einen Doktorgrad erworben. Seit 2013 ist der Kläger als Dozent an der Schule für Physiotherapie des Universitätsklinikums Freiburg tätig. 2014 erteilte ihm das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde auf dem Gebiet der Physiotherapie.
3
Im Juli 2015 beantragte der Kläger, ihm eine auf das Gebiet der Chiropraktik beschränkte Heilpraktikererlaubnis zu erteilen. Nach Einholung einer Stellungnahme des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren des Landes Baden-Württemberg lehnte das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald den Antrag mit Bescheid vom 4. November 2015 ab. Die Chirotherapie bzw. Chiropraktik sei in gegenständlicher Hinsicht nicht hinreichend abgrenzbar. Die Erteilung einer eingeschränkten Erlaubnis komme nicht in Betracht, weil ein Patient nicht wissen und beurteilen könne, welche Behandlungstätigkeiten zum Erlaubnisbereich eines auf den Bereich der Chirotherapie beschränkten Heilpraktikers gehörten. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Freiburg mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2016 zurück. Zur Begründung verwies es neben der fehlenden Abgrenzbarkeit auf die mit chiropraktischen Anwendungen verbundenen Risiken; solche Behandlungen dürften nur in Weisungsabhängigkeit von einem approbierten Arzt erbracht werden.
4
Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Versagungsbescheide aufgehoben und das beklagte Land verpflichtet, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Das darüber hinaus gehende Begehren auf Erteilung einer auf das Gebiet der Chiropraktik beschränkten Heilpraktikererlaubnis hat es abgewiesen. Dieser Bereich sei zwar hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar, hierfür sei das Vorliegen einer gesetzlichen Regelung nicht erforderlich. Die vom Kläger vorgelegten Unterlagen seien jedoch nicht ausreichend, um eine Kenntnisüberprüfung entbehrlich zu machen.
5
Auf die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das verwaltungsgerichtliche Urteil geändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die vom Kläger beabsichtigte Anwendung chiropraktischer Behandlungsmethoden erfülle die Voraussetzungen der erlaubnispflichtigen Heilkundeausübung. Die Tätigkeit erfordere heilkundliche Fachkenntnisse und könne nennenswerte Gesundheitsgefährdungen zur Folge haben. Es könne auch ohne Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens davon ausgegangen werden, dass durch die Anwendung (mancher) chiropraktischer Behandlungsmethoden unmittelbar Gefahren bis hin zu Lähmungen hervorgerufen werden könnten. Unabhängig davon drohten bei der eigenverantwortlichen Anwendung chiropraktischer Methoden zur Krankenbehandlung jedenfalls mittelbare Gefahren, weil ein Patient im Einzelfall davon absehen könnte, einen Arzt aufzusuchen, obwohl dies geboten wäre.
6
Der Bereich der Chiropraktik sei jedoch derzeit nicht hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar, sodass die Erteilung einer beschränkten Heilpraktikererlaubnis nicht in Betracht komme. Der Gesetzgeber habe die Ausbildung und Berufsausübung auf dem Gebiet der Chiropraktik im Bundesgebiet bislang nicht normiert; auch weise das Gebiet des Sozialversicherungsrechts keine Regelungen zur chiropraktischen Tätigkeit auf. Damit fehle es an einem durch den nationalen Gesetzgeber geschaffenen – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts erforderlichen – normativen Rahmen, der eindeutig abgrenze, ob eine bestimmte Maßnahme zum Bereich der Chiropraktik zähle oder nicht.
7
Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, dass das Fehlen eines entsprechenden normativen Rahmens für die Frage der Abgrenzbarkeit eines Gebiets der Heilkunde nicht allein ausschlaggebend sein könne, führten auch die sonstigen vom Verwaltungsgericht herangezogenen Kriterien nicht zur Annahme einer hinreichenden Abgrenzbarkeit und Ausdifferenziertheit der Chiropraktik. Im Bundesgebiet gebe es mit der deutschen Chiropraktoren-Gesellschaft e.V. (DCG), dem Bund Deutscher Chiropraktiker e.V. (BDC) sowie der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft für Chiropraktik e.V. (DAGC) derzeit drei Berufsverbände, die für sich jeweils unterschiedliche Anforderungen an Ausbildung, Prüfung und Qualifikation im Bereich der Chiropraktik als verbindlich ansähen. Auch aus den WHO-Richtlinien lasse sich nicht eindeutig entnehmen, welche verbindlichen Mindestanforderungen an die Ausbildung und Qualifikation von Chiropraktoren zu stellen seien. Eine hinreichende Abgrenzbarkeit des Gebiets der Chiropraktik folge auch nicht daraus, dass die Landesärztekammern in ihre Weiterbildungsordnungen die Zusatz-Weiterbildung “Manuelle Medizin/Chirotherapie” aufgenommen hätten. Die Tatsache, dass in der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer im Jahr 2003 die bisherige Zusatzbezeichnung “Chirotherapie” im Titel um den Begriff “Manuelle Medizin” ergänzt worden sei und die Bezeichnung “Manuelle Medizin” oder “Chirotherapie” nunmehr wahlweise genutzt werden könne, spreche vielmehr gegen eine klare und eindeutige Abgrenzbarkeit des Bereichs der Chirotherapie/Chiropraktik von demjenigen der manuellen Medizin. Dass Rheinland-Pfalz – als einziges Bundesland – sektorale Heilpraktikererlaubnisse auf dem Gebiet der Chiropraktik erteile, ändere nichts an dieser Einschätzung, da hieraus keine Bindungswirkung für die Verwaltungsträger anderer Bundesländer erwachse.
8
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Die im Berufungsurteil vertretene Auffassung, die Abgrenzbarkeit der Chiropraktik erfordere eine gesetzliche Normierung, sei mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar. Danach sei anerkannt, dass Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur rechtlich fixierte Berufe schütze, sondern auch neue Berufsbilder, die bisher noch keine gesetzliche Regelung erfahren hätten. Soweit das Berufungsgericht auch eine tatsächliche Abgrenzbarkeit verneine, habe es den Amtsermittlungsgrundsatz nicht hinreichend beachtet: Für die herangezogene Argumentation sei eine Differenzierung der Begriffe Chirotherapeut, Chiropraktiker und Chiropraktor erforderlich. Den WHO-Richtlinien fehle möglicherweise zwar die Qualität einer normativen Regelung, sie gäben aber eine wichtige Orientierung für die Frage der gegenständlichen Abgrenzbarkeit des Gebiets der Chiropraktik. Jedenfalls bei der akademischen Ausbildung des Chiropraktors als höchster Stufe der Studienmodelle müsse von einem fest umrissenen Berufsbild ausgegangen werden. Auf dieses “Leitbild” habe sich auch die bisherige Judikatur bezogen. Aus dem Umstand, dass es in Deutschland unterschiedliche Berufsverbände mit teilweise unterschiedlichem Anforderungsprofil für Chiropraktoren einerseits und Chiropraktiker andererseits gebe, folge nicht, dass der Tätigkeitsbereich der Chiropraktoren nicht abgrenzbar sei. Schließlich verletze das Berufungsurteil auch Unionsrecht. Die dem Berufungsgericht bekannte Ausbildung aus einem anderen EU-Mitgliedstaat hätte nicht unberücksichtigt bleiben dürfen; das Berufungsgericht sei vielmehr verpflichtet gewesen, die Qualität dieser Ausbildung näher aufzuklären. Aufgrund seiner Ausbildung dürfe er in Österreich als Physiotherapeut auf ärztliche Verordnung auch Chiropraktik betreiben.
9
Der Beklagte verteidigt das angegriffene Berufungsurteil. Aus den etwaig unterschiedlichen Regelungen für Chiropraktiker in Österreich folge nichts Anderes, weil es vorliegend nicht um die Anerkennung oder Ablehnung einer im EU-Ausland erworbenen Ausbildung gehe. Dass es ein abgrenzbares Berufsbild des Chiropraktikers gebe, folge aus Unionsrecht nicht. Das Berufungsgericht habe auch seine Aufklärungspflicht nicht verletzt, sondern umfassend alle relevanten Aspekte beleuchtet.
10
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich an dem Verfahren und stimmt dem Berufungsurteil – im Ergebnis – zu. Die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für die Erteilung einer beschränkten Heilpraktikererlaubnis seien für den Bereich der Chiropraktik nicht erfüllt. Zwar sei auch ein nicht durch den Gesetzgeber fixiertes Berufsbild zur Annahme einer hinreichenden Abgrenzbarkeit ausreichend. Denn auf welche Art und Weise diese Ausdifferenzierung zustande gekommen sei, spiele vor dem Hintergrund von Art. 12 Abs. 1 GG keine Rolle. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts fehle es aber in der Praxis der unterschiedlichen Berufsverbände an einheitlichen Vorgaben für die Ausbildung zum Chiropraktiker, Entsprechendes gelte für die WHO-Richtlinien.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben