Europarecht

8 O 610/21

Aktenzeichen  8 O 610/21

Datum:
15.11.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LG Erfurt 8. Zivilkammer
Dokumenttyp:
Beschluss
Spruchkörper:
undefined

Gründe

Den Parteien werden im Anschluss an die Hinweise in der mündlichen Verhandlung vom 23. September 2021 und an den Hinweisbeschluss vom 15. Oktober 2021 – im Vorfeld einer möglichen Vorlage zum Europäischen Gerichtshof – noch folgende weitere Hinweise erteilt:
1.
Der Ausgangsrechtsstreit gehört zu den zahlreichen „Dieselfällen“, in denen europaweit Schadensersatz gegen Hersteller von Fahrzeugen oder Motoren geltend gemacht wird, die eine unzulässige Abschalteinrichtung aufweisen.
Der Kläger erwarb am 22. November 2018 einen Pkw Mercedes-Benz des Typs C 220 d, zu einem Kaufpreis in Höhe von 39.792,91 € und bei einem Kilometerstand von 2.300 km. Das Fahrzeug verfügt über einen von der Beklagten stammenden Dieselmotor des Typs OM 651, Abgas-Norm Euro 6. Zur Finanzierung nahm der Kläger ein Darlehen bei einer Bank auf, der er das Fahrzeug zur Sicherheit übereignete.
Mit seiner im Jahr 2021 erhobenen Klage verlangt der Kläger im Wesentlichen die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 31.545,60 €, d. h. die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung, Zug um Zug gegen Abtretung des Herausgabe- und Übereignungsanspruchs hinsichtlich des Fahrzeuges gegenüber der Bank.
Bei dem Fahrzeug besteht eine temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung, d. h. die Abgasrückführung wird bei bestimmten Außentemperaturen reduziert (sogenanntes Thermofenster), was zu einem höheren Ausstoß an NOx (Stickstoffoxid) und einem erheblichem Überschreiten der Grenzwerte führt.
2.
Es stellt sich die Frage, ob die bewusste und gewollte Installation eines „Thermofensters“ zu einer deliktsrechtlichen Haftung der Beklagten führen kann. Weiter ist zu prüfen, ob es im vorliegenden Fall zur Klärung dieser Frage der Anrufung des Luxemburger Gerichtshofes, d. h. einer Vorlage nach Art. 267 AEUV bedarf.
a) Bei dem im streitgegenständlichen Fahrzeug verwendeten „Thermofenster“ dürfte es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) in Verbindung mit Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 handeln (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, ECLI:EU:C:2020:1040, sowie die Schlussanträge des GA Rantos vom 23. September 2021, C-128/20, ECLI:EU:C:2021:758; s. auch Will, NJW 2021, 1199 ff.).
b) Eine Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung iSd. § 826 BGB scheidet wohl aus. Für ein sittenwidriges Verhalten des Herstellers bestehen zu wenig Anhaltspunkte (s. nur BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, ECLI:DE:BGH:2021:160921UVIIZR190.20.0). Dies gilt auch für etwaige weitere Abschalteinrichtungen.
c) Es erscheint allerdings möglich, dass sich aus dem Unionsrecht – über eine Schutzwirkung iSd. § 823 Abs. 2 BGB oder unmittelbar – ein zivilrechtlicher Anspruch des Fahrzeugkäufers auch bei einem nicht sittenwidrigen, jedoch vorsätzlichen oder auch nur fahrlässigen Verstoß des Fahrzeugherstellers gegen unionales und deutsches Recht ergibt.
Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage noch nicht entschieden. Es handelt sich auch nicht um einen Acte clair (vgl. zu den hohen Anforderungen an einen Acte clair – im Anschluss an die CILFIT-Rechtsprechung – jüngst EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 – CECLI:EU:C:2021:799, sowie Knops, JZ 2021, 299 ff.). Daher bedarf es wegweisender Antworten des Europäischen Gerichtshofes.
aa) Mit Blick auf einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB stellt sich die Frage, ob das Unionsrecht auch den Zweck und die Intention hat, den individuellen Käufer eines Fahrzeuges mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung und dessen Vermögen zu schützen. Zum Schadensersatz ist nach deutschem Recht nämlich auch verpflichtet, wer schuldhaft gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Fahrlässigkeit genügt.
Eine solche Haftung setzt mithin voraus, dass die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 der RL 2007/46/EG und Art. 4, 5 und 13 der VO (EG) Nr. 715/2007, einzeln betrachtet oder in einer Gesamtschau, als Schutzgesetz iSd. § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden können, d. h. zumindest auch dem Individualschutz dienen. Sollen diese Vorschriften auch den einzelnen Erwerber und dessen Vermögen davor schützen, ein nicht unionsrechtskonformes Kraftfahrzeug zu erwerben, insbesondere ein solches mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007?
bb) Darüber hinaus könnte sich ein Schadensersatzanspruch des Fahrzeugkäufers unmittelbar aus dem Unionsrecht ergeben. Derartige Ansprüche sind der europäischen Rechtsordnung nicht unbekannt, wie der unional begründete Staatshaftungsanspruch zeigt.
Für ein solches private enforcement – eine private und privatrechtliche Durchsetzung des europäischen wie nationalen Rechts und von deren Zielen wie Zwecken – könnte der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit den europäischen Grundrechten wie Grundsätzen und mit Eigenrechten der Natur sprechen.
Im Einzelnen:
(1) Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz verlangt, dass die vom Unionsrecht verfolgten Zwecke nicht vereitelt oder übermäßig erschwert werden. Dies gilt vorliegend für den Verbraucher- wie den Umweltschutz.
Zum Schutze der Verbraucher gilt ein Optimierungsgebot. Gemäß dem Grundsatz in Art. 38 GRC, der zunehmend subjektiv-rechtliche Komponenten aufweist, stellt die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.
Vergleichbares gilt für den Grundsatz des Umweltschutzes. Art. 37 GRC fordert:
„Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“
Gemäß Art. 11 AEUV müssen die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und Maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. Das gewachsene Bewusstsein für die überragende Bedeutung des Umweltschutzes kommt in dem Bestreben des Gesetzgebers der Europäischen Union zum Ausdruck, die Emission von Schadstoffen zu begrenzen (s. zur Luftqualität EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-635/18, ECLI:EU:C:2021:437).
Die von dem europäischen Zulassungs- und Emissionsrecht verfolgten Ziele und Zwecke erlangen jedoch nur dann praktische Wirksamkeit, wenn begangene Verstöße sanktioniert und künftige verhindert werden (s. auch Art. 46 RL 2007/46/EG sowie Art. 13 VO (EG) Nr. 715/2007). Es bedarf einer wirksamen Sanktion mit abschreckender Wirkung, um die Ziele einer hohen Verkehrssicherheit, eines hohen Gesundheits- und Umweltschutzes, einer rationellen Energienutzung, eines wirksamen Schutzes vor unbefugter Benutzung und des Verbraucherschutzes zu gewährleisten. Dies haben die nationalen Gerichte zu beachten (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2013 – C-32/12, ECLI:EU:C:2013:637, Rn. 42).
Beides – Sanktionierung wie Präventionswirkung – erscheint jedoch in Deutschland in Frage gestellt (s. auch LG Ravensburg, EuGH-Vorlage vom 31. März 2021 – 2 O 339/19 u. a. bzw. C-240/21, juris Rn. 97 ff.). Es wird vorgebracht, dass Deutschland unzureichende Sanktionen vorhält. Im deutschen Recht fänden sich keine Sanktionsnormen, die den Anforderungen des Unionsrechts entsprechen. Ein Unternehmensstrafrecht fehlt. Die praktische Wirksamkeit der Vorschriften soll im nationalen Recht primär durch die zuständige Prüfbehörde – das Kraftfahrtbundesamt – gewährleistet werden, deren Handeln bzw. Unterlassen beachtliche Kritik erfährt.
Nach dem Effektivitätsgrundsatz könnte es somit geboten sein, zum Ausgleich jedes schuldhafte – vorsätzliche oder fahrlässige – Handeln von Fahrzeugherstellern mit Blick auf eine unzulässige Abschalteinrichtung dadurch zu sanktionieren, dass der Erwerber, im Wege eines private enforcement, einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller geltend machen kann.
Eine solche Anspruchsbegründung entspräche dem Geist des Unionsrechts und der langjährigen Tendenz der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (s. bereits EuGH, Urteil vom 17. September 2002 – C-253/00, ECLI:EU:C:2002:497, sowie EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 – C-237/07, ECLI:EU:C:2008:447; umfassend Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht. Eine Studie zu Effektivität und Durchsetzung des Europäischen Privatrechts am Beispiel des Haftungsrechts, 2017).
(2) Wie der Effektivitätsgrundsatz könnten auch die europäischen Grundrechte und Grundsätze einen genuin europäischen Schadensersatzanspruch begründen.
Der Geltungsbereich der Grundrechtecharta – als supreme law of the land und living instrument – ist vorliegend eröffnet, d. h. sie bindet und verpflichtet gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC die Europäische Union sowie deren Mitgliedstaaten (zur Charta s. Borowsky, DRiZ 12/2021). Die Anwendbarkeit des Unionsrechts – hier des europaweit vereinheitlichten Kfz-Zulassungsrechts – umfasst und bedingt nämlich die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (EuGH, Urteil vom 26. Januar 2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 21; eingehend Meyer/Hölscheidt/Schwerdtfeger, Chartakommentar, 5. Aufl. 2019, Art. 51 Rn. 27 ff., 36 ff.; zum Anwendungsbereich der Charta s. weiter die aktualisierte „Thematische Übersicht“ auf: www.curia.europa.eu).
In materieller Hinsicht sind vor allem das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 GRC) und das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 3 Abs. 1 GRC) – als „ökologisches Menschenrecht“ – einschlägig (s. zu den Grundrechten und Grundsätzen der Charta „Charterpedia“: www.fra.europa.eu). Diese fundamentalen Rechte entfalten aufgrund ihrer engen Verbindung zur Würde des Menschen in Art. 1 der Charta eine unmittelbare Drittwirkung oder Horizontalwirkung (Meyer/Hölscheidt/Borowsky, Chartakommentar, 5. Aufl. 2019, Art. 1 Rn. 43). Sie beanspruchen somit Bindungswirkung zwischen Privaten in einem Zivilrechtsstreit (s. nur EuGH, Urteil vom 17. April 2018 – C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 76 ff.; s. auch Bailleux, in: Picod/Rizcallah/Van Drooghenbroeck, Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2. Aufl. 2020, Präambel Rn. 37; anschaulich Latzel, VerfBlog 2018/6/04). Dies gilt vor allem für marktmächtige, staatsähnliche Akteure (vgl. Rechtbank Den Haag, Urteil vom 26. Mai 2021 – C/09/571932, ECLI:NL:RBDHA:2021:5339).
Weiter treten die Grundsätze des Gesundheitsschutzes in Art. 35 GRC, des Umweltschutzes in Art. 37 GRC und des Verbraucherschutzes in Art. 38 GRC hinzu. Art. 38 GRC verankert wie erwähnt den Grundsatz, dass die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt, und enthält somit ein Optimierungsgebot ((Meyer/Hölscheidt/Giesecke, Chartakommentar, 5. Aufl. 2019, Art. 38 Rn. 21).
Alle diese Grundrechte und Grundsätze bringen weitreichende Schutzpflichten – obligations positives – mit sich (s. zur Luftqualität EuGH, Urteil vom 26. Juni 2019 – C-723/17, ECLI:EU:C:2019:533, sowie die Schlussanträge von GA Kokott in jener Sache vom 28. Februar 2019, Rn. 53; weiter Hoge Raad, Urteil vom 20. Dezember 2019 – 19/00135, ECLI:NL:HR:2019:2007 – „Urgenda“; vertiefend Gross, in: Kahl/Weller, Climate Change Litigation, 2021, S. 81 ff.).
Schließlich und wesentlich geht es um die Wirksamkeit und effektive Durchsetzung der europäischen Grundrechte. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC haben die Union und die Mitgliedstaaten die Grundrechte und Grundsätze der Charta zu fördern. Diese ausdrückliche Förderpflicht zielt auf eine umfassende Verwirklichung der Grundrechte wie Grundsätze und eine Optimierung des Rechtsschutzes (Meyer/Borowsky, Chartakommentar, 4. Aufl. 2014, Art. 51 Rn. 31 f.). Diesem Optimierungsgebot könnte ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch des Fahrzeugkäufers gerecht werden.
(3) Eigenrechte der Natur vermögen in den Dieselfällen schutzverstärkend hinzuzutreten und ihrerseits einen individuellen Schadensersatzanspruch des Fahrzeugkäufers – als Guardian dieser Rechte – zu legitimieren (zur Eigenrechtsdebatte s. Kersten, APuZ 11/2020, S. 27 ff., Zenetti, LTO vom 9. Juli 2021, Adloff/Busse, Welche Rechte braucht die Natur? Wege aus dem Artensterben, 2021, sowie Wesche, Die Rechte der Natur. Vom nachhaltigen Eigentum, 2022).
Das Recht der Europäischen Union ist hierfür offen, wie die deutsche Rechtsordnung (zu Deutschland s. Schimmöller, Transnational Environmental Law 2020, 569 ff. sowie – zu einem aktuellen Volksbegehren in Bayern – Ewering/Gutmann, VerfBlog, 2021/9/10). Dies zeigen auch zwei auf unionaler Ebene eingeholte Gutachten, nämlich die 2020 veröffentlichte Studie „Towards an EU Charter of the Fundamental Rights of Nature“ sowie das Gutachten aus März 2021 „Can Nature Get it Right? A Study on Rights of Nature in the European Context“.
Stickoxide sind in hohem Maße umweltschädlich (s. EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 – C-635/18, ECLI:EU:C:2021:437, sowie die Schlussanträge des GA Bobek vom 10. Juni 2021 – C-177/19, ECLI:EU:C:2021:476; s. bereits EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, ECLI:EU:C:2020:1040, Rn. 86 ff.). Durch den Ausstoß von umweltfeindlichen Stickoxiden in einem höheren Maße als zulässig werden grundlegende Rechte der Natur verletzt, vor allem ihr Recht auf Existenz aus Art. 2 Abs. 1 GRC und ihr Recht auf Unversehrtheit und Regeneration aus Art. 3 Abs. 1 GRC.
Solche Eigenrechte der Natur – rights of nature – können de lege lata aus der Grundrechtecharta wie dem europäischen Vertragswerk und Sekundärrecht gewonnen und abgeleitet werden, teils unmittelbar, teils im Wege der Analogie. Anders als beim Straftatbestand des Ökozids, d. h. für strafrechtliche Sanktionen für die Zerstörung der Umwelt (s. Kring, LTO vom 11. November 2021), bedarf es somit keines Handelns des Gesetzgebers. Vielmehr ist das bestehende Unionsrecht – der acquis communautaire – in vielfältiger Weise anknüpfungsfähig.
Etliche Rechte sind nämlich ihrem Wortlaut wie Wesen nach auf eine solche Inklusion angelegt und daher auf Ökosysteme und Biotope bis hin zu einzelnen Bäumen oder Pflanzen anwendbar. Der in der Charta vielfach verwendete offene Begriff „Person“ umfasst – als weitere Rechtssubjekte neben dem Menschen – die Natur oder Ökosysteme wie Flüsse und Wälder (Fischer-Lescano, ZUR 2018, 205 ff.; s. weiter Vial, in: Tinière/Vial, Les dix ans de la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2020, S. 377 ff.). Dies gilt für den Zugang natürlicher Entitäten zur Justiz gemäß Art. 47 GRC, insbesondere aber für die vorliegend verletzten fundamentalen Rechte aus Art. 2 und 3 der Charta.
Der in Titel I gebrauchte Begriff „Person“ erfasst sicherlich jeden Menschen iSd. Art. 1 GRC, allerdings nach einhelliger Auffassung nicht juristische Personen, da diesen ihrem Wesen nach kein „Leben“ und keine „körperliche oder geistige Unversehrtheit“ zukommt. Die bereits im Grundrechtekonvent angelegte, überschießende Bedeutung und der Mehrwert der Verwendung des Begriffs „Person“ anstelle des Begriffs „Mensch“ liegen in der Inklusion der natürlichen Mitwelt.
Dem steht nicht entgegen, dass Art. 2 GRC oder Art. 47 GRC der EMRK entlehnt sind und die Konvention bisher wohl keine Eigenrechte der Natur kennt. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC lässt es nämlich ausdrücklich zu, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz als die Konvention gewährt. Die Union vermag mithin als autonome Rechtsordnung – unabhängig von einer Fortentwicklung des Konventionssystems oder des Rechts der Mitgliedstaaten – der Natur Eigenrechte zuzusprechen.
Die Anerkennung von spezifischen Rechten der Natur durch Auslegung und Anwendung des geltenden Unionsrechts ist aufgrund der Wichtigkeit und Dringlichkeit der ökologischen Herausforderungen und angesichts drohender irreversibler Schäden geboten. Das bestehende europäische Umweltrecht wird keineswegs dupliziert, vielmehr – gerade mit Blick auf Unzulänglichkeiten und Mängel beim Rechtsschutz – in sinnvoller Weise ergänzt.
Die Rechtssubjektivität von Ökosystemen liegt in der Logik der Rechtsentwicklung und stellt den nächsten konsequenten Schritt dar. Rechtstechnisch gibt es keine unüberwindbaren Hürden, zumal in der Vergangenheit auch Klagebefugnisse von Schiffen anerkannt wurden oder jüngst das Oberste Gericht Indiens Gottheiten, als juristischen Personen, das Eigentumsrecht an den ihnen geweihten Tempeln zugesprochen hat.
Mit der Zuerkennung von Rechtspersönlichkeit waren in der Vergangenheit eine gesellschaftliche Stärkung und ein Empowerment der anerkannten Personen verknüpft. Dies gilt für die Erweiterung des Kreises von Rechtspersonen auf Sklaven, People of Colour, Frauen und Kinder und parallel auf Kapitalgesellschaften, Trusts oder Personenvereinigungen. Diese Wirkung auch der Natur und ihren Ökosystemen zukommen zu lassen, ist aufgrund desaströser Umweltbedingungen und wegen des zunehmenden Artensterbens dringend erforderlich und die Aufgabe unserer Zeit.
Es besteht jedenfalls ein fundamentaler Wertungswiderspruch. Die Interessen des Kapitals und Vermögensinteressen werden seit Jahrhunderten rechtlich codiert und abgesichert (s. Pistor, Der Code des Kapitals: Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, 2020), aktuell höchst klimaschädliche Kryptowährungen, während ökologische Interessen und die Interdependenz von Mensch und Natur traditionell vernachlässigt werden. Der intrinsische Wert der Natur und Mitwelt und deren Wertigkeit für den Menschen – Conditio sine qua non für die Ausübung sämtlicher Menschenrechte – bleiben unbeachtet. Es wäre zudem widersprüchlich, Künstlicher Intelligenz (KI) – als e-person – Rechtssubjektivität zuzusprechen, wie auf europäischer Ebene erwogen, nicht jedoch Ökosystemen, die besonders vulnerabel sind.
Das Postulat von Eigenrechten der Natur und eine ganzheitliche Betrachtung entsprechen einer weltweit zunehmenden Tendenz (grundlegend Stone, Should Trees Have Standing?, 1972; zur Entwicklungsgeschichte Schröter/Bosselmann, ZUR 2018, 195 ff.; zu aktuellen Tendenzen: www.centerforenvironmentalrights.org sowie www.therightsofnature.org).
Maßstäbe setzen insbesondere Verfassungen und Gerichte im Global South, etwa in Indien oder Südamerika (s. Gutmann, Hybride Rechtssubjektivität. Die Rechte der “Natur oder Pacha Mama” in der ecuadorianischen Verfassung von 2008, 2021). Verfassungsrang haben Eigenrechte in Ecuador, Bolivien und Uganda. Weiter haben das kolumbianische Verfassungsgericht einem Fluss, dem Rio Atrato, und das oberste Zivilgericht Kolumbiens dem kolumbianischen Amazonasgebiet Rechtspersönlichkeit zugesprochen. In Neuseeland wird die Rechtspersönlichkeit des Whanganui Rivers gesetzlich verankert (Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act 2017).
In zahlreichen weiteren, auch europäischen Rechtsordnungen zeichnen sich vergleichbare Entwicklungen ab. Dies gilt aktuell insbesondere für die Schweiz wie Schweden (s. auch den Entscheid des schweizerischen Bundesgerichts zu Grundrechten für Primaten, Urteil vom 16. September 2020 – 1C_105/2019). Es gibt Bestrebungen, Ökosysteme oder Biotope wie die Loire, die Isar oder spanische Feuchtgebiete mit Eigenrechten und Klagebefugnissen zu versehen. In Orange County, Florida, haben jüngst mehrere – aufgrund einer Volksabstimmung mit Eigenrechten ausgestattete – Gewässer eine Klage gegen ein Bauvorhaben eingereicht, um ihre Beschädigung oder Zerstörung zu verhindern (Zenetti, JuWissBlog Nr. 66/2021 vom 17. Juni 2021).
Die unionale Rechtsordnung ist offen für solche internationale Einflüsse. Die dynamische Öffnungsklausel in Art. 53 GRC lässt es zu und gebietet es, die beschriebene weltweite Rechtsentwicklung aufzugreifen (Meyer/Borowsky, Chartakommentar, 4. Aufl. 2014, Art. 53 Rn. 14 b ff.; für eine vergleichbare Offenheit s. Conseil d’État, Urteil vom 19. November 2020, N 427301, ECLI:FR:CECHR:2020:427301.20201119 – „Commune de Grande Synthe I“, sowie Tribunal Administratif de Paris, Urteil vom 3. Februar 2021 sowie Urteil vom 14. Oktober 2021, N 1904967 – „L’affaire du siècle“).
Nicht gegen, sondern für die Anerkennung von Rechten der Natur spricht auch die Menschenwürdegarantie der Charta. Das Primat der Menschenwürde wird nicht in Frage gestellt oder relativiert.
Aus der in Art. 1 GRC verankerten Würde des Menschen – homo dignus – und der in ihrer Präambel postulierten Verantwortung „gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen“ folgt nämlich das Gebot, durch die Entfaltung von Rechten der Natur auch künftigen Generationen ein freies und selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Die Erde und ihre Bewohnbarkeit bilden die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass wir auch in Zukunft frei sein werden.
Eigenrechte der Natur dienen aber nicht nur intergenerationeller und intertemporaler Freiheitssicherung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18, ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20210324.1bvr265618), sondern auch dem in der Charta verwurzelten Gleichheitsgedanken. Solche Rechte – als neue Generation fundamentaler Rechte – werden den europäischen Werten, wie sie in Art. 2 EUV verankert sind, gerecht. Zudem entsprechen sie der Fairness und dem Gebot der Solidarität, das die gesamte Charta durchdringt. Aus den europäischen Werten und Grundrechten – vom Recht auf Leben bis hin zum Eigentumsrecht – und deren Schutzcharakter folgt die Verpflichtung, die Rechtssubjektivität von Ökosystemen anzuerkennen.
3.
Die Rechtsauffassung des VI. Zivilsenats am Bundesgerichtshof zur ausschließlichen Maßgeblichkeit von Emissionsmessungen auf dem Prüfstand begegnet erheblichen Bedenken, die durch die Stellungnahme der Klägerseite mit Schriftsatz vom 3. November 2021 verstärkt werden. Es dürfte eine Abweichung von der Rechtsprechung des VIII. Senats vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2019 – VIII ZR 225/17, juris). Darüber hinaus ergibt sich aus den Erwägungsgründen der VO 715/2007/EG, dass der sog. NEFZ kein Selbstzweck sein soll, es vielmehr ebenso auf die Emissionen im Realbetrieb ankommt (s. nur Erwägungsgrund Nr. 12). Vor diesem Hintergrund hat der EuGH vor kurzem judiziert (EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020, C-693/18, Rn. 97):
„Sodann ergibt sich zum Kontext von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 aus Rn. 77 des vorliegenden Urteils, dass nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass u. a. die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Ferner sieht Art. 5 Abs. 1 der Verordnung vor, dass der Hersteller die Fahrzeuge so ausrüsten muss, dass die Bauteile, die sich auf das Emissionsverhalten auswirken, es erlauben, dass die Fahrzeuge unter normalen Betriebsbedingungen die in der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen vorgesehenen Emissionsgrenzwerte einhalten.“
Auch diese Problematik bedarf somit der eindeutigen Klärung durch den Gerichtshof.
4.
Die Parteien werden weiter darauf hingewiesen, dass im Falle einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof dessen „Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen“ (2019/C 380/01), nämlich unter Ziffern 15 und 18, gefolgt wird:
„Außer den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen muss das Vorabentscheidungsersuchen Folgendes enthalten:
– eine kurze Darstellung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Vorlagefragen beruhen;
– den Inhalt der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung;
– eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt … Das vorlegende Gericht kann auch knapp darlegen, wie die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen seines Erachtens beantwortet werden sollten.“
5.
Bereits in der Klageschrift vom 15. Juni 2021 wurde mehrfach eine Vorlage an den Luxemburger Gerichtshof angeregt. Mit der Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens am 6. Juli 2021 wurden die Parteien mit knapper Begründung darauf hingewiesen, dass eine Vorlage in Betracht komme.
Die Sache wurde sodann vorsorglich – mit Blick auf eine etwaige Anrufung des Europäischen Gerichtshofes und somit eine „grundsätzliche Bedeutung“ (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2020 – XI ZR 648/18, juris Rn. 48; BGH, Beschluss vom 31. März 2020 – XI ZR 198/19, juris Rn. 15) – gemäß § 348 Abs. 3 ZPO der Zivilkammer zur Entscheidung über eine Übernahme vorgelegt. Mit Beschluss vom 14. Juli 2021 lehnte die Kammer eine Übernahme ab.
Allerdings wird die Auffassung vertreten, dass es aus unionsrechtlichen Gründen keiner solchen vorherigen Vorlage an die Kammer bedarf und § 348 Abs. 3 ZPO in Vorabentscheidungsverfahren unangewendet zu bleiben hat. Diese Problematik wurde dem EuGH mit Vorlagebeschluss vom 9. August 2021 zur Kenntnis gebracht (LG Erfurt, EuGH-Vorlage vom 9. August 2021 – 8 O 481/21 bzw. C-506/21, juris Rn. 64; s. auch LG Ravensburg, EuGH-Vorlage vom 31. März 2021 – 2 O 339/19 u. a. bzw. C-240/21, juris Rn. 126, unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 13. Dezember 2018 – C-492/17, ECLI:EU:C:2018:1019, Rn. 29 ff.; s. weiter EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-689/13, ECLI:EU:C:2016:199, Rn. 31 ff.).
6.
Die Entscheidung über eine Vorlage liegt ausschließlich in der Verantwortung des nationalen Gerichts. Bei dem Vorabentscheidungsverfahren handelt es sich um ein nicht-kontradiktorisches Zwischenverfahren, das dem Dialog von Gericht zu Gericht dient (s. Riedel, Die Grundrechtsprüfung durch den EuGH, 2020, S. 410 ff.). Es erscheint noch nicht abschließend geklärt, welche Anforderungen an das rechtliche Gehör für die Parteien im Vorfeld einer intendierten Vorlage bestehen.
Die Praxis in Deutschland divergiert. Während es am Bundesarbeitsgericht etwa vorkommt, dass die Parteien erst in der mündlichen Verhandlung auf eine beabsichtigte Vorlage hingewiesen werden, mit Gelegenheit zur spontanen mündlichen Stellungnahme nur in der Verhandlung, werden vor Instanzgerichten teilweise großzügige Fristen zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.
Eine Bestimmung des gebotenen Umfangs des rechtlichen Gehörs für die Parteien vor einem Vorlagebeschluss ist durch den EuGH, soweit ersichtlich, noch nicht erfolgt. Weiter ist ungeklärt, ob und inwieweit etwaige Verkürzungen des rechtlichen Gehörs die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten.
Es ist bei alledem zu berücksichtigen, dass den Parteien im Zuge des Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, d. h. vor dem EuGH, umfassendes rechtliches Gehör eingeräumt wird. Es bestehen so erhebliche Einflussmöglichkeiten auf die EuGH-Rechtsprechung (s. Latzel, ZESAR 2016, 458 ff.; Holzheuer, Rechtliche Stellung der Parteien im Zivilprozess bei Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV, 2016).
Im vorliegenden Fall ist angesichts der vielfältigen und teilweise neuen Problemstellungen ein intensiver rechtlicher Diskurs sinnvoll und geboten. Dieser Diskurs soll mit den Parteien umfassend geführt werden, bevor ggf. über eine Vorlage in einen Dialog des vorlegenden Gerichts mit dem Luxemburger Gerichtshof eingetreten wird.
Möglicherweise entscheidet der EuGH – im Nachgang zu den Schlussanträgen von GA Rantos vom 23. September 2021 (C-128/20, ECLI:EU:C:2021:758) – bereits in den nächsten Wochen zur Zulässigkeit des Thermofensters, womit sich eine Vorlage ganz oder teilweise erledigen könnte.
Den Parteien wird nach alledem Gelegenheit eingeräumt, zu diesen Hinweisen – wie zu dem Hinweisbeschluss vom 15. Oktober 2021 – bis zum Freitag, dem 17. Dezember 2021 vorzutragen. Auf Antrag wird diese Stellungnahmefrist – wie stets – zumindest antragsgemäß verlängert werden.
Abschließend wird auf die seitens des Landgerichts Erfurt – als Unionsgericht – bereits erfolgten drei EuGH-Vorlagen zu „Dieselfällen“ verwiesen (8 O 1045/18 bzw. C-276/20, 8 O 1130/20 bzw. C-388/21 und 8 O 481/21 bzw. C-506/21, juris).


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