Europarecht

Ablauf der Überstellungsfrist bei Gewährung von sog. Kirchenasyl – erfolgreicher Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO

Aktenzeichen  M 1 E 19.50486

Datum:
3.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 150
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7, § 88, § 123
Dublin III-VO Art. 25, Art. 29
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Flüchtig ist eine Person dann, wenn sie über einen erheblichen Zeitraum hinweg aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht auffindbar ist. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Beim sogenannten Kirchenasyl ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen; vielmehr verzichtet er bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vom 23. August 2018 (Az. M 1 S 18.50272) wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage M 1 K 18.50271 gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Januar 2018 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

II.
Der als Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 23. August 2018 gem. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu verstehende Antrag hat Erfolg.
Die Entscheidung kann vorliegend durch den Berichterstatter erfolgen. Ein Proberichter kann entgegen § 76 Abs. 5 AsylG bereits vor Ablauf der ersten sechs Monate nach seiner Ernennung allein entscheiden, wenn die Beteiligten gemäß § 87 Abs. 2, Abs. 3 VwGO ausdrücklich der Entscheidung durch den Berichterstatter zustimmen (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 76 Rn. 27). Mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 hat das Bundesamt gegenüber dem Gericht das Einverständnis mit der Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt. Mit Schriftsatz vom … September 2019 hat der Antragsteller der Entscheidung durch den Berichterstatter zugestimmt. Ein Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten ist somit gegeben.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Die Abänderung des Antrags dahingehend, dass sich dieser statt gegen die Regierung von Oberbayern gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet, stellt eine sachdienliche und damit zulässige Antragsänderung entsprechend § 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO dar.
Bei einem Austausch des Antragsgegners handelt es sich um eine subjektive Antragsänderung in Form eines Parteiwechsels. Die Zulässigkeit einer solchen Antragsänderung bemisst sich in Bezug auf den neuen Antragsgegner nach § 91 VwGO (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 91 Rn. 22). Gemäß § 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist eine Antragsänderung zulässig, sofern das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Dies ist hier der Fall. Für den geänderten Antrag bleibt der Streitstoff im Wesentlichen derselbe. Auch fördert die Antragsänderung die endgültige Beilegung des Streites und trägt dazu bei, dass ein sonst zu erwartender Prozess vermieden wird (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 91 Rn. 31; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 91 Rn. 19). Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann ohne Einhaltung einer Frist erhoben werden und könnte somit auch jetzt noch vom Antragsteller gestellt werden (vgl. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 80 Rn. 201).
b) Der Antrag ist als Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 23. August 2018 gem. § 80 Abs. 7 VwGO auszulegen.
Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Voraussetzung für den Erfolg des Änderungsantrags ist neben einem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, dass Umstände vorgetragen werden, die ein Abweichen von der ursprünglichen Entscheidung rechtfertigen (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.1999 – 11 VR 13.98 – juris Rn. 2; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 133).
Der Antrag, die Antragsgegnerin gem. § 123 VwGO im Wege des einstweiligen Rechtschutzes zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers nach Italien zu unterlassen, ist so zu verstehen, dass eine Abänderung des Beschlusses vom 23. August 2018 sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids vom 23. Januar 2018 begehrt wird. Mit Beschluss vom 23. August 2018 hat das Gericht den Eilantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt. Statthafter Rechtsbehelf für das Begehren des Antragstellers ist nicht ein Antrag nach § 123 VwGO, sondern ausschließlich der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO. Denn der Antrag nach § 123 VwGO ist gem. § 123 Abs. 5 VwGO gegenüber einer Rechtschutzmöglichkeit gem. § 80 VwGO subsidiär (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2015 – 10 CE 15.2165 – juris Rn. 8). Vorliegend wurde die Antragstellung ausdrücklich auf § 123 VwGO gestützt. Jedoch ist das Gericht gem. § 122 Abs. 1, § 88 VwGO nicht an die Fassung der Anträge gebunden. Eine strikte Bindung besteht sogar dann nicht, wenn der Antragsteller anwaltlich vertreten ist, sofern die Begründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Ziel von der Antragsfassung abweicht (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 88 Rn. 9). Die Bevollmächtigte hat mit Schriftsatz vom … Februar 2019 im Verfahren M 1 K 18.50271 ausgeführt, dass nach ihrer Ansicht die Überstellungsfrist bereits abgelaufen sei und man sich, sofern die Antragsgegnerin an ihrer Rechtsauffassung festhalte, die Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO vorbehalte. Eine ähnliche Begründung liegt auch dem Antrag im streitgegenständlichen Verfahren zu Grunde. Dort führt die Bevollmächtigte des Antragstellers aus, dass die Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO abgelaufen sei und sich nicht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO verlängert habe. Im Ergebnis trägt sie damit neue Umstände vor, die ein Abweichen von der ursprünglichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO rechtfertigen sollen. Aus den Umständen ergibt sich daher eindeutig ein Auseinanderfallen des Gewollten vom tatsächlich Beantragten. Im Interesse des Antragstellers ist der Antrag deshalb trotz anwaltlicher Vertretung gem. § 122 Abs. 1, § 88 VwGO so auszulegen, dass eine Abänderung des Beschlusses vom 23. August 2018 sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung gemäß Ziffer 3 des Bescheids vom 23. Januar 2018 begehrt wird.
2. Der als Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO verstandene Antrag ist begründet. Aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist liegen veränderte Umstände vor, die eine Änderung des Beschlusses vom 23. August 2018 gebieten.
Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt nunmehr das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes, weil die Klage gegen die in dem Bescheid vom 23. Januar 2018 unter Ziffer 3 enthaltene Abschiebungsanordnung nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) voraussichtlich Erfolg haben wird. Nach der gegenüber dem Beschluss vom 23. August 2018 geänderten Sachlage dürfte die Anordnung der Abschiebung nach Italien rechtswidrig sein, weil Italien aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist für die Durchführung des Asylverfahrens nicht mehr zuständig sein dürfte.
Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers, der in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Zwar war zunächst Italien der für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständige Mitgliedstaat (vgl. dazu die Ausführungen in dem Beschluss vom 23. August 2018). Die Zuständigkeit ist jedoch gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und es geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Die Überstellungsfrist begann nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung durch Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 23. August 2018 und endete am 23. Februar 2019. Eine Abschiebung des Antragstellers ist innerhalb dieser Frist nicht erfolgt.
Die sechsmonatige Überstellungsfrist ist auch nicht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO verlängert worden. Die Überstellungsfrist kann nach dieser Vorschrift höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Der Antragsteller war jedoch nicht flüchtig im Sinne dieser Vorschrift. Flüchtig ist eine Person dann, wenn sie über einen erheblichen Zeitraum hinweg aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht auffindbar ist (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749.19 – juris Rn. 123; B.v. 6.8.2013 – 12 S 675.13 – juris Rn. 12; VG München, U.v. 23.12.2016 – M 1 K 15.50681 – juris Rn. 18; U.v. 29.10.2015 – M 2 K 15.50211 – juris Rn. 25;). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, da sich der Antragsteller lediglich im sogenannten Kirchenasyl befand und sein Aufenthaltsort den Behörden durchgehend bekannt war (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011; OVG Lüneburg, B.v. 25.7.2019 – 10 LA 155.19 – juris Rn. 9; OVG Schleswig-Holstein, B.v. 23.3.2018 – 1 LA 7.18 – juris Rn. 5. Leitsatz und Rn. 18; VG München, U.v. 2.3.2016 – M 7 K 15.50392 – juris Rn. 21; VG München U.v. 11.11.2015 – M 16 K 15.50306 – juris Rn. 21; VG Würzburg, U.v. 31.8.2015 – W 3 K 14.50040 – juris Rn. 25). Mit Schreiben vom 10. Februar 2019 hat die Evangelischmethodistische Kirche … dem Bundesamt die Mitteilung übersandt, dass der Antragsteller sich dort im Kirchenasyl befindet. Mit Schreiben vom 2. März 2019 wurde dem Bundesamt weiter mitgeteilt, dass der Antragsteller das Kirchenasyl am 2. März 2019 wieder verlassen habe. Der Aufenthaltsort des Antragstellers war dem Bundesamt somit in der Zeit vom 10. Februar bis zum 2. März 2019 bekannt.
Die Sachlage bei einer sich im Kirchenasyl befindlichen Person ist nicht mit jener vergleichbar, die bei einer inhaftierten oder flüchtigen Person vorliegt. Ist eine Person inhaftiert oder flüchtig, so ist eine Überstellung unmöglich. Die Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO soll als Ausnahme von dem den Fristen des Dublin-Systems zugrunde liegenden Beschleunigungsgrundsatz ein längeres Zuwarten bei der Rücküberstellung ermöglichen, weil ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis die Einhaltung der Frist vereitelt. Ein solches Hindernis, das einen vergleichbaren Ausnahmefall rechtfertigen könnte, besteht beim sogenannten Kirchenasyl nicht. Der Staat ist weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden wohl davor zurückschrecken, die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich. Der freiwillige Verzicht auf eine Rücküberstellung im Fall des Kirchenasyls ist nicht anders zu bewerten, als die Fälle, in denen eine Rücküberstellung mangels entsprechender Vollzugskapazitäten oder anderer in der Sphäre des Staates liegender Umstände nicht möglich ist. Eine in der Sphäre der Antragspartei liegendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie im Fall der Flucht, ist nicht gegeben (vgl. VG München, U.v. 23.12.2016 – M 1 K 15.50681 – juris Rn. 19).
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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