Europarecht

Ablehnung des Übernahmeersuchens durch das Bundesamt – Humanitäre Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50103

Datum:
6.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7123
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 53 Abs. 1 Nr. 3, § 123
Dublin III-VO Art. 5 Abs. 2, Art. 17 Abs. 2, Art. 22 Abs. 4, Art. 23 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
GRCh Art. 47
GG Art. 6
ZPO § 920 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Ein Berufen auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vom Ausland aus ist anzuerkennen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wenn das Asylverfahren in Griechenland durchgeführt und abgeschlossen ist, greifen die Regelungen der Dublin III-VO nicht mehr ein und die Familienzusammenführung wird nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auf Dauer ausgeschlossen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine afghanische Tazkira stellt einen Beweis im Sinne eines Registerauszugs dar. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs und der Wiedervorlagen des griechischen Ministeriums für Citizen Protection – Nationales Dublin-Referat -, für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren von Griechenland aus den Nachzug zu ihrer minderjährigen in Deutschland lebenden Tochter bzw. Schwester bzw. die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO).
Die Antragsteller zu 1) und zu 2) geben an, die Eltern, die Antragsteller zu 3) bis 5) die Geschwister der … 2007 geborenen afghanischen Staatsangehörigen … … zu sein. Diese reiste im September 2019 als unbegleitete Minderjährige in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Oktober 2019 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 17. Januar 2020 wurde dieser abgelehnt, aber ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. Beim Verwaltungsgericht Trier ist eine Klage gegen den ablehnenden Teil des Bescheids anhängig. … legte in ihrem Verfahren beim Bundesamt die Kopie einer afghanischen Tazkira vor und gab an, dass das Original sich in Griechenland befinde. Ihre Familie bestehe aus den Eltern und neun Kindern, drei Schwestern und fünf Brüder, wobei eine Schwester und ein Bruder im Iran verheiratet seien, ein Bruder in Deutschland im Asylverfahren stehe und ein anderer Bruder in Deutschland anerkannt sei. Bei der Einreise nach Griechenland habe ihr Vater für sie einen Pass gekauft, so dass sie mit Hilfe eines Schleppers weiter nach Deutschland fliegen konnte, während der Rest der Familie in Griechenland geblieben sei. Für alle habe das Geld nicht gereicht.
Am 4. Oktober 2019 richtete die griechische Dublin-Einheit auf Grundlage des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ein Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin, legt Fotos und Dokumente der Antragsteller, eine afghanische Tazkira (unübersetzt) für … … und deren Einwilligungserklärung vom 19. September 2019 (unterzeichnet vom Vormund) zum Nachzug ihrer Familienangehörigen vor.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Schreiben vom 22. Oktober 2019 das Übernahmeersuchen ab mit der Begründung, dass die Familienverhältnisse nicht nachgewiesen seien und … in Deutschland keinen Asylantrag gestellt habe, sondern nur geduldet sei.
Daraufhin reichte die griechische Dublin-Einheit mit Schreiben vom 12. November 2019 die Tazkira in englischer Übersetzung sowie ein Schreiben des deutschen Vormunds vom 11. November 2019 nach und verwies darauf, dass der Nachzug der Eltern und Geschwister dem Wohl von … diene und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO den Nachzug aus humanitären Gründen rechtfertige.
Die Antragsgegnerin lehnte das Ersuchen erneut mit Schreiben vom 13. November 2019 ab und verwies erneut auf die nicht nachgewiesenen Familienverhältnisse; ein Familienbuch sei nicht vorgelegt worden. Desweiteren erging der Hinweis, dass weitere Überprüfungen nicht erfolgen würden.
Die griechische Dublin-Einheit übersandte am 4. Dezember 2019 ein erneutes Remonstrationsschreiben und verwies darauf, dass der afghanische Staat keine Familienbücher ausstelle, sondern die Familienverhältnisse mittels Tazkiras nachgewiesen würden. Auf Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO wurde verwiesen. Dem Gesuch wurden Fotos der Familie beigelegt.
Das Bundesamt hielt in einem Aktenvermerk vom 4. Dezember 2019 fest, dass die Remonstrationsfrist nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO am 12. November 2019 geendet habe und das Gesuch vom 4. Dezember 2019 deshalb nicht mehr berücksichtigt werden könne.
Mit Emails vom 10. Dezember 2019 und 8. Januar 2020 übersandte Griechenland weitere Unterlagen, insbesondere Tazkiras der Antragsteller und ein Schreiben der afghanischen Botschaft in Athen vom 5. Dezember 2019 mit englischer Übersetzung vom 12. Dezember 2019, wonach die Antragsteller zu 1) und 2) verheiratet seien und neun Kinder hätten, darunter die Antragsteller zu 3) bis 5) und… Hierauf reagierte die Antragsgegnerin nicht.
Mit am 28. Februar 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom selben Tag stellten die Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO und beantragten,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Ministerium für Citizen Protection – Nationales Dublin-Referat – für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
Zum Anordnungsgrund trägt die Antragstellerseite vor, dass die Anhörung der Antragsteller zu 1) und zu 2) in Griechenland am 6. und 9. März 2020 geplant sei und mit einer zeitnahen Entscheidung danach gerechnet werden müsse. Der Anordnungsanspruch wird auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestützt, deren Voraussetzungen vorlägen. Die verwandtschaftlichen Beziehungen seien insbesondere durch die Tazkiras nachgewiesen. Das starre Fristenregime der Dublin III-VO gelte für die humanitäre Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht. Die Antragsgegnerin habe keine Ermessensentscheidung getroffen. Es liege eine Ermessensreduktion auf Null wegen des gesteigerten Interesses an einer Familienzusammenführung vor. Das Kindeswohl der der gerade einmal 13jährigen … bedinge den Nachzug.
Die Antragstellerseite machte weitere Ausführungen mit Schriftsätzen vom 2. und 16. März 2020.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 4. März 2020, den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen und legte am 19. März 2020 die angeforderten Behördenakten vor.
Bei der nachgereichten Tazkira handle es sich nicht um ein biometrisches Dokument; es handele sich damit nur um ein Indiz und nicht um einen Nachweis der Familienverhältnisse. Die Remonstrationsfrist nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO habe am 12. November 2019 geendet. Eine Ermessensreduzierung auf Null liege nicht vor, weil sich die Antragsteller zu 1) und zu 2) bewusst für eine Trennung von ihrer Tochter … entschieden hätten.
Mit Beschluss vom 6. März 2020 gab das Verwaltungsgericht Ansbach mangels Vorliegen der Behördenakten der Antragsgegnerin in Form einer Zwischenverfügung auf, die griechischen Asylbehörden aufzufordern über die Asylanträge solange nicht zu entscheiden, bis über den Antrag nach § 123 VwGO abschließend entschieden ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (2) und begründet (3). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber auch zuständig (1).
1. Da sich sämtliche Antragsteller in Griechenland aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zu ständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Person, zu der zugezogen werden soll, nicht als Antragstellerin auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. Eine solche ergibt sich für die Antragsteller jedenfalls aus der humanitären Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, auf die sich alle betroffenen Familienangehörigen berufen können, da eine Gesamtermessensabwägung aller Belange aller Familienangehörigen vorzunehmen ist (vgl. nähere Ausführungen unter 3.b). Auch ein Berufen vom Ausland aus auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21). Nicht berufen können sich die Antragssteller hingegen auf Art. 8 Dublin III-VO. Diese Vorschrift dient angesichts ihrer klaren Formulierung im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO allein dem Schutz der unbegleiteten Minderjährigen selbst. Nur diese können sich somit hierauf berufen. Die unbegleitete Minderjährige … tritt vorliegend aber gerade nicht als Antragstellerin auf, so dass die Prüfung vorliegend außen vor zu bleiben hat.
Dem Antrag fehlt auch nicht das allgemeine Rechtschutzbedürfnis aufgrund einer teilweisen allgemeinen Aussetzung von Abschiebungen und Überführungen von Personen durch die Nationalstaaten wegen der aktuellen Gefahrenlage bzw. zur Eindämmung der pandemischen Ausbreitung des Corona-Virus. Ebenso wenig stehen die aktuellen tatsächlichen Einschränkungen im Flug- und im sonstigen Reiseverkehr und nationale Einreisebestimmungen, die eine Zusammenführung der Familie in der Bundesrepublik derzeit möglicherweise verhindern, dem Antrag entgegen. Der Antrag ist nicht auf tatsächliche Überführung der Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, so dass es auf die derzeitige Unmöglichkeit der Durchführung nicht ankommt, sondern auf die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Überführung, nämlich auf die Zustimmung der Beklagten zur einer – auch später noch möglichen, und nicht auf Dauer unmöglichen – Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
3. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Den Antragstellern haben sowohl einen entsprechenden Anordnungsanspruch (b) als auch die besondere Eilbedürftigkeit (a) glaubhaft gemacht. Auch ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache möglich und geboten (c).
a) Der Anordnungsgrund besteht in der Gefahr des unmittelbar drohenden Rechtsverlustes. Durch den Fortgang des Asylverfahrens in Griechenland ist für die Antragsteller ein zeitnaher und dauerhafter Verlust des geltend gemachten Nachzugsrecht zu ihrer Tochter ernsthaft zu befürchten. Wenn das Asylverfahren in Griechenland durchgeführt und abgeschlossen ist, greifen in der Folge die Regelungen der Dublin III-VO nicht mehr ein (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) und die Familienzusammenführung nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO wird auf Dauer ausgeschlossen (vgl. auch VG Münster, B. v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 – 4 L 478/19.WI.A). Die Antragstellerseite hat – von der Antragsgegnerin unwidersprochen – dargelegt, dass die Antragsteller zu 1) und zu 2) am 6. und 9. März 2020 einen Anhörungstermin in griechischen Asylverfahren hatten. Im Anschluss eine Anhörung ist mit einer kurzfristigen Entscheidung der Asylbehörde regelmäßig zu rechnen, sodass der Rechtsverlust aktuell bzw. jederzeit droht. Es kann vorliegend andererseits aber davon ausgegangen werden, dass durch die Zwischenverfügung des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 6. März 2020 eine Entscheidung im griechischen Verfahren verhindert werden konnte und die dortigen Verfahren nach wie vor nicht abgeschlossen sind, so dass ein Rechtsverlust noch nicht eingetreten ist. Eine ausreichende Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes liegt somit vor.
b) Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Der Anspruch auf Zuständigkeitserklärung ergibt sich aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, dessen Tatbestandsvoraussetzungen bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erfüllt sind und dessen Ermessensspielraum vorliegend auf Null reduziert ist.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der so ersuchte Mitgliedstaat hat alle erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen und antwortet dem ersuchenden Mitgliedstaat innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs. Eine Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO. Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 4 Dublin III-VO wird dem ersuchten Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen, wenn dieser dem Gesuch stattgibt.
Diese Voraussetzungen für eine Zustimmungserklärung sind vorliegend erfüllt. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die Zustimmung der Beklagten.
Ein entsprechendes Ersuchen der griechischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland, die Antragsteller als Eltern und minderjährige Geschwister der Minderjährigen …aufzunehmen, wurde von den griechischen Behörden am 4. Oktober 2019 rechtzeitig und formgerecht gestellt. Der Antrag war ausdrücklich auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestützt und mit den Familienverhältnissen, insbesondere dem Alter von … von (damals) zwölf Jahren und damit mit Gründen i.S.v Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO begründet. Der Antrag kann nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO „jederzeit“ gestellt werden. Er ist damit nicht an die Fristen und Verfahrensabläufe nach Art. 21 ff. Dublin III-VO und Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO gebunden. Dies ergibt sich gesetzestechnisch daraus, dass Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO in den Unterabsätzen 2 und 3 eigene Verfahrensregeln und Fristen (und größtenteils eben keine Fristen) aufstellt. Für den Ablauf der Frist von zwei Monaten nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 1 Dublin III-VO sind gerade auch keine Folgen wie in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3, Art. 23 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehen. Zu einer formalen Unbeachtlichkeit der von Griechenland erst mit der zweiten Remonstration am 4. Dezember 2019 und den Emails vom 10. Dezember 2019 und 8. Januar 2020 vorgelegten Unterlagen ist es damit nicht gekommen.
Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da auch schon durch die einschließlich der Mitteilung vom 12. November 2019 vorgelegten Unterlagen davon auszugehen ist, dass es sich bei den Antragstellern zu 1) und zu 2) um die Eltern von … handelt. Es bestehen keine konkreten und vernünftigen Zweifel daran, dass der für … vorgelegten Tazkira (vorgelegt bereits durch … selbst in ihrem Asylverfahren und identisch vorgelegt im Nachzugsverfahren der Antragsteller) inhaltlich kein Glauben zu schenken wäre. Namen und Daten der genannten Personen stimmen mit dem Vortrag der Antragsteller und … überein, Fälschungshinweise ergeben sich nicht und sind von der Antragsgegnerin auch nicht vorgetragen.
Auch nach den Regeln von Art. 22 Abs. 3 bis 5 Dublin III-VO sind die Tazkiras mit ihrem ausgewiesen Inhalt zu Grunde zu legen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Regelungen der Art. 22 Abs. 3 bis 5 Dublin III-VO generell herangezogen werden können und nicht nur dann greifen, wenn ein förmliches Aufnahmegesuch nach Art. 21, 22 Dublin III-VO betroffen ist. Eine afghanische Tazkira stellt danach einen Beweis im Sinne eines Registerauszugs dar, siehe Anhang II der Dublin-Durchführungs-VO, Verzeichnis A I 1(so auch VG Stuttgart, B.v. 16.8.2019 – A 3 K 2257/19, VG Ansbach, B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 10.50790). Danach ist gerade kein biometrisches Dokument nötig, denn Registerauszüge sind regelmäßig nicht biometrisch. Förmliche Beweismittel können nach Art. 22 Abs. 3 lit. a i) Dublin III-VO außerdem nur durch Gegenbeweise widerlegt werden, was hier antragsgegnerseits nicht erfolgt ist. Art. 15 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO bestimmt außerdem, dass die Echtheit aller Gesuche, Antworten und Schriftstücke, die von einer in Art. 19 bezeichneten nationalen Systemzugangsstelle übermittelt werden, als gegeben gilt. Im Übrigen stellt die (jedenfalls konkludente) Erklärung von …, dass es sich bei den Antragstellern um ihre Eltern und Geschwister handelt, ein ausreichendes Indiz i.S.v. Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung, Verzeichnis B I 1 dar. Anhaltspunkte für Zweifel an ihrer Aussage bestehen nicht und sind nicht geltend gemacht. Nach Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO dürfen die Beweisanforderungen nicht überdehnt werden darf.
Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, liegen hier vor. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Im Kontext der Dublin III-VO ist eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist. Dies lässt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen. Die Antragsgegnerin hätte somit das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäß ausüben müssen. Dies erfolgte infolge der Ablehnung des Nachweises der familiären Beziehung nicht.
Geht man aber – wie das Gericht – davon aus, dass die Antragsteller zu 1) und zu 2) die Eltern von …sind, fordert dieser Umstand eine Ermessensausübung zugunsten der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft, da … mit zwölf bzw. inzwischen 13 Jahren nicht zugemutet werden kann, auf den Beistand ihrer Eltern auf Dauer zu verzichten. Im Alter von zwölf oder 13 Jahren ist eine Trennung von den Eltern allenfalls ausnahmsweise hinnehmbar. Regelmäßig steht das Kindeswohl dem aber in diesem Alter entgegen. Eine Ausnahme ergibt sich für … nicht aus der Tatsache, dass sich zwei volljährige Brüder von ihr in Deutschland befinden und jedenfalls einer ihrer Brüder wohl auch ein Daueraufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland hat. Zum einen ist eine Geschwisterbeziehung mit einer Eltern-Kind-Beziehung in der Regel nicht vergleichbar und kompensiert diese nicht, zum anderen erfährt … durch ihren Bruder hier konkret keine regelmäßige, tägliche Fürsorge, wie es das Wohl eines 12- bzw. 13-jährigen Kindes erfordert. Sie wohnt insbesondere nicht zusammen mit ihren Brüdern, sondern ist in einer Einrichtung für unbegleitete Minderjährige untergebracht (vgl. allgemein zum Prüfungsmaßstab die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, herangezogen werden kann, EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.] bzw. des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes insbesondere von dessen Lebensalter sowie der Frage abhängt, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat, EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75; der EuGH hat in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt).
Auch ein bewusstes, kollusives Verhalten zwischen … und ihren Eltern dadurch, dass sich die Familie in Griechenland getrennt und … nach Deutschland vorausgeschickt wurde, um sich auf diesem Wege den Nachzug der ganzen Familie zu sichern, ist zu Lasten von … nicht anzunehmen. Einem zwölfjährigen Kind kann – gegebenenfalls – ein derartiges Verhalten seiner Eltern nicht entgegengehalten werden. Eigene derartige Motive bei … sind nicht anzunehmen und gegebenenfalls in Anlehnung an die Wertung in § 19 StGB (Strafmündigkeit erst ab 14 Jahren) unbeachtlich.
Auf die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in Griechenland kann die Familie ebenfalls nicht verwiesen werden, da ein Schutzstatus für … in Deutschland besteht. Dabei ist unerheblich, dass es sich lediglich um ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG und nicht um einen Status nach § 3 oder § 4 AsylG handelt. Das zuerkannte Abschiebungsverbot gründet gerade auf den prekären Lebensverhältnissen in Griechenland, also auf einem zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis.
Nach Ansicht des Gerichts ist bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben. Jede andere Entscheidung erscheint unter Kindeswohlgesichtspunkten unvertretbar und würde eine nicht vertretene Härte für … bedeuten (vgl. auch VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 32; ähnlich zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO: BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22).
Die Belange von … mussten im vorliegenden Verfahren im Rahmen der Ermessensentscheidung auch berücksichtigt werden und konnten nicht außen vor zu gelassen werden. Sie tritt zwar selbst nicht als Antragstellerin auf, sondern nur ihre Eltern und Geschwister. Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO sind aber die Belange aller Familienmitglieder in einer Gesamtbewertung zu berücksichtigen, d.h. unabhängig davon, wer als Antragsteller auftritt, da eine geteilte Ermessensentscheidung, d.h. eine Ermessenentscheidung in Bezug auf nur einzelne Personen nicht möglich ist. Die Ermessensentscheidung nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO erfordert die Abwägung aller Belange aller Betroffenen. Ein Unbeachtetlassen von einzelnen Belangen oder von Belangen einzelner Betroffener ist nicht möglich. Im Ergebnis führen damit die hier im wesentlichen maßgeblichen und nicht ausreichend beachteten Belangen von … zu einer Rechtsverletzung auch der Antragsteller. Eine fehlerhafte Ermessensausübung ist auch ihnen gegenüber ergangen.
c) Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland zu befürchten ist und die Familieneinheit der Antragsteller mit … – jedenfalls basierend auf der Dublin III-VO – nicht mehr herbeigeführt werden könnte. Dies ist unzumutbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen. Zudem besteht, wie bereits ausgeführt, eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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