Europarecht

Abschiebungsanordnung – systemische Mängel in Ungarn

Aktenzeichen  W 1 S 16.50056

Datum:
21.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG §§ 27a, 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 II, 18 Ib, 18 II, 25 II
VwGO VwGO § 80 V

 

Leitsatz

Es bleibt der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten, ob aufgrund der zum 01.08.2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylrecht das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen systemische Mängel aufweisen, weil Dublin-Rückkehrer in nach ungarischem Recht sichere Drittstaaten ausgewiesen werden können, ohne dass deren Asylanträge inhaltlich geprüft werden (Verletzung des Non Refoulement-Gebots) und für sie ein erhebliches Risiko der Inhaftierung besteht. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Februar 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … bewilligt.

Gründe

II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Das Gericht hat im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO eine Interessenabwägung vorzunehmen und dabei die Interessen des Antragstellers und des Antragsgegners sowie etwaig betroffene Interessen Dritter und der Allgemeinheit im Rahmen einer summarischen Prüfung gegeneinander abzuwägen. Hierbei sind auch die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache mit zu berücksichtigen, soweit sich diese bereits übersehen lassen (Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage, § 80 Rn. 152 ff.).
Das Gericht erachtet vorliegend die Erfolgsaussichten im Hauptsachestreitverfahren als offen, wobei jedoch im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin vorliegend überwiegt, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen war.
Es steht im hiesigen Verfahren die Frage inmitten, ob es sich nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedsstaat, hier Ungarn, zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der EUGr-Charta mit sich bringen.
Zu dieser Frage existieren sowohl aktuelle gerichtliche Entscheidungen, die das Vorliegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn verneinen (VG München, B.v. 17.3.2016 – M 1 S 16.50032; VG Greifswald, B.v. 14.3.2016 – 4 B 649/16 AS HGW; VG Ansbach, B.v. 17.2.2016 – AN 3 S 16.50035) als auch solche, die vom Vorliegen derartiger Mängel ausgehen (VG Potsdam, U.v. 11.3.2016 – VG 12 K 216/15.A; VG Aachen, U.v. 10.3.2016 – 5 K 1049/15.A; VG München, B.v. 27.1.2016 – M 1 S 16.50006).
Aufgrund der aus öffentlichen Quellen zugänglichen Informationen kann im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung ohne weitere Sachverhaltsaufklärung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller im Falle seiner sofortigen Überstellung nach Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würde.
Das Gericht stützt sich bei dieser Bewertung insbesondere auf die zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylrecht, auf welche der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes überhaupt nicht eingeht, sondern sich im Rahmen seiner Bewertung vielmehr ausschließlich auf solche Quellen stützt, die zeitlich vor dem oben genannten Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der ungarischen Asylrechtsnovelle einzuordnen sind. Rechtlichen Bedenken unterliegt insbesondere, dass es nach den gesetzlichen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem offenbar nunmehr zulässig ist, Dublin-Rückkehrer in nach ungarischem Recht sichere Drittstaaten auszuweisen, ohne dass deren Asylanträge inhaltlich geprüft würden. Hiervon ist auch die Republik Serbien betroffen, welche Ungarn seit dem 1. August 2015 entgegen der Empfehlungen des UNHCR wieder zum sicheren Herkunftsstaat erklärt hat (vgl. u. a. Commissioner for Human Rights, Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 and No. 44944/15 S.O. v. Austria and A.A. v. Austria v. 17.12.2015; VG Aachen, U.v. 10.03.2016 – 5 K 1049/15.A). Hiervon kann auch der Antragsteller persönlich betroffen sein, da er glaubhaft und nachvollziehbar angegeben hat, über Serbien nach Ungarn eingereist zu sein. Ein solches Vorgehen wirft die Frage der Verletzung des Non Refoulement- Gebots nach Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie eine etwaige Verletzung des Art. 18 Abs. 2 der Dublin III-VO auf.
Rechtliche Bedenken bestehen darüber hinaus auch im Hinblick auf die gesetzlichen Regelungen und den Vollzug der Inhaftierung von Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden in Ungarn, einschließlich Familien, Kindern, besonders Schutzbedürftigen sowie Dublin-Rückkehrern, wie dem hiesigen Antragsteller. Der Europäische Kommissar für Menschenrechte (a. a. O.) führt insoweit aus, dass für Dublin-Rückkehrer ein erhebliches Risiko der Inhaftierung in Ungarn bestehe. Auch der UNHCR, dessen Stellungnahmen im Asylrecht anerkanntermaßen besonderes Gewicht zukommt, hat in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 zu den geplanten gesetzlichen Neuregelungen in Ungarn ausgeführt, man sei „tief besorgt“ im Hinblick auf die anstehenden gesetzlichen Änderungen und befürchte, dass es die neuen Regelungen für vor Krieg und Verfolgung Flüchtende unmöglich machten, in Ungarn Sicherheit zu erhalten (http.//www.unhcr.org./559641846.html, Abruf 20.4.2016).
Nach alledem bedarf es daher nach Einschätzung des Gerichts der eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob die neuen gesetzlichen Regelungen im ungarischen Asylrecht europäischem und sonstigem internationalen Recht genügen oder ob sie geeignet sind, systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn zu begründen. Zu dieser Frage hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Würzburg im Verfahren W 1 K 14.30290 mit Beweisbeschluss vom 4. August 2015 Auskünfte des Auswärtigen Amtes, des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sowie Pro Asyl eingeholt. Eine Antwort ist bislang hierauf noch nicht ergangen, die Erkenntnisse im Rahmen dieser Auskünfte werden jedoch auch der Entscheidung im hiesigen Hauptsacheverfahren zugrunde zu legen sein. Da somit im Rahmen der hier vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilt werden kann, ob systemische Mängel des ungarischen Asylsystems bestehen, überwiegt nach Ansicht des Gerichts – nicht zuletzt aufgrund der Hochrangigkeit der unter Umständen im Falle einer sofortigen Überstellung nach Ungarn gefährdeten Rechtsgüter – das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Nachdem die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wurde und der Antragsteller aufgrund des alleinigen Bezugs von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, war auch die beantragte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … zu gewähren, § 166 VwGO, § 114 ff. ZPO.


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