Europarecht

Anforderungen an den Gegenbeweis bei Bestreiten des Zugangs trotz Postzustellungsurkunde

Aktenzeichen  11 CS 20.2273

Datum:
30.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36123
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 74 Abs. 1 S. 2
ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 2, § 180, § 182 Abs. 1, Abs. 2, § 418 Abs. 1, Abs. 2
BayVwVfG Art. 41 Abs. 5
VwZVG Art. 2 Abs. 3 S. 1, Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Art. 8 Abs. 1 S. 1, S. 2

 

Leitsatz

1. Nach § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO begründet die Zustellungsurkunde vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Ein bloßes Bestreiten genügt für die Erbringung des Beweises der Unrichtigkeit der in einer Postzustellungsurkunde beurkundeten Tatsachen nicht. Vielmehr erfordert der Gegenbeweis im Falle des § 180 ZPO einen substantiierten Beweisantritt durch Darlegung von Umständen, die geeignet sind, ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde zu belegen (stRspr vgl. BVerwG, B.v. 16.5.1986 – 4 CB 8.86, BeckRS 9998, 45895; BayVGH, B.v. 31.3.2016 – 11 CS 16.310, BeckRS 2016, 45087; B.v. 15.4.2015 – 11 ZB 15.209, BeckRS 2015, 45041; B.v. 9.5.2018 – 22 ZB 18.105, BeckRS 2018, 10026).(Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 S 20.1505 2020-09-17 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Feststellung, dass ihn seine norwegische Fahrerlaubnis nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland berechtige, und der Verpflichtung zur Vorlage seines Führerscheins.
Mit Bescheid vom 23. April 2020 stellte das Landratsamt Ansbach unter Anordnung des Sofortvollzugs die Inlandsungültigkeit der norwegischen Fahrerlaubnis des Antragstellers fest und verpflichtete diesen, den Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung des Bescheids zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen. Die Fahrerlaubnis sei in Norwegen im Wege der Umschreibung einer tschechischen Fahrerlaubnis erteilt worden. Im Zeitpunkt der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis habe der Antragsteller jedoch keinen ordentlichen Wohnsitz in der Tschechischen Republik gehabt. Dieser Mangel wirke auch im umgetauschten norwegischen Führerschein fort.
Der Bescheid ist an die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers adressiert und wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde am 25. April 2020 um 11:30 Uhr in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt, weil die Übergabe des Schriftstücks in dem Geschäftsraum nicht möglich war.
Mit Schriftsatz vom 4. August 2020 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Ansbach Klage gegen den Bescheid erheben und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragen. Nach richterlichem Hinweis auf den Zeitpunkt der Zustellung des Bescheids äußerte sich der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 23. August 2020 dahingehend, die Postzustellungsurkunde sei weder ausgefüllt noch unterschrieben. Insofern sei der Nachweis der Zustellung nicht erbracht. Daraufhin übersandte das Gericht dem Bevollmächtigten eine Kopie der Postzustellungsurkunde und wies darauf hin, diese sei ausgefüllt und unterschrieben.
Mit Beschluss vom 17. September 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab. Der Bescheid vom 23. April 2020 sei bestandskräftig geworden, da die Klage nicht innerhalb der Monatsfrist erhoben worden sei. Die Postzustellungsurkunde begründe den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt der Antragsteller vortragen, die Postzustellungsurkunde möge bei Naturalparteien als Zustellungsnachweis gelten, nicht jedoch bei Rechtsanwälten, bei denen es für die Zustellung auf die tatsächliche Kenntnisnahme ankomme. Eine Zustellung scheitere bereits daran, dass der 25. April 2020 ein Samstag und an diesem Tag niemand in der Kanzlei anwesend gewesen sei. Der einzige frei von außen zugängliche Briefkasten am Gebäude befinde sich direkt vor der Haustür, gehöre aber zu einer anderen Firma. Gegebenenfalls sei der Brief darin eingeworfen worden. Die Postzustellungsurkunde enthalte weder ein Datum noch eine Unterschrift seines Prozessbevollmächtigten. Diesem sei der Bescheid erst am 26. Juli 2020 zur Kenntnis gegeben worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die Beschwerde ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners zulässig. Zwar weist die Landesanwaltschaft zu Recht auf den fehlenden Antrag und auf Begründungsmängel hin (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO). Das Rechtsschutzziel kann allerdings auch ohne ausdrücklichen Antrag im Beschwerdeverfahren der erstinstanzlichen Klarstellung im Schriftsatz vom 23. August 2020 entnommen werden, wonach der Antrag „auf Aufhebung und Neubescheidung“ gerichtet sei. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist davon auszugehen, dass der Antragsteller sein erstinstanzlich abgelehntes Begehren weiterverfolgt und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Feststellung der Inlandsungültigkeit der Fahrerlaubnis und der Pflicht zur Vorlage des Führerscheins beantragt. Auch die gebotene Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung kann in den Ausführungen im Schriftsatz vom 13. Oktober 2020 zu den behaupteten Zustellungsmängeln gerade noch gesehen werden.
2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen wäre. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Klage vom 4. August 2020 nach Ablauf der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 VwGO erhoben wurde. Der angefochtene Bescheid war bereits im Zeitpunkt der Klageerhebung bestandskräftig.
a) Nach Art. 41 Abs. 5 BayVwVfG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) können Zustellungen an den allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Bevollmächtigten gerichtet werden; sie sind an ihn zu richten, wenn er eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat. Die Behörde hat die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten (Art. 2 Abs. 3 Satz 1 VwZVG). Soll durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt werden, übergibt die Behörde der Post den Zustellungsauftrag, das zuzustellende Dokument in einem verschlossenen Umschlag und einen vorbereiteten Vordruck einer Zustellungsurkunde (Art. 3 Abs. 1 VwZVG). Für die Ausführung der Zustellung gelten die §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung entsprechend (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG).
Wird die Person, der zugestellt werden soll, hier also der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, in seinem Geschäftsraum nicht angetroffen, kann das Schriftstück einer dort beschäftigten Person zugestellt werden (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Ist auch diese Zustellung nicht ausführbar, kann das Schriftstück in einen zu dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist (§ 180 Satz 1 ZPO). Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung (§ 180 Satz 3 ZPO). Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Zustellungsurkunde muss unter anderem enthalten die Bezeichnung der Person, der zugestellt werden soll (§ 182 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), im Falle der §§ 178, 180 die Angabe des Grundes, der diese Zustellung rechtfertigt (§ 182 Abs. 2 Nr. 4 ZPO), die Bemerkung, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO), den Ort, das Datum und auf Anordnung der Geschäftsstelle auch die Uhrzeit der Zustellung (§ 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO) sowie Name, Vorname und Unterschrift des Zustellers und die Angabe des beauftragten Unternehmens oder der ersuchten Behörde (§ 182 Abs. 2 Nr. 8 ZPO).
b) Die Urkunde über die Zustellung des Bescheids vom 23. April 2020 enthält die erforderlichen Angaben, insbesondere den Grund für das Einlegen des Bescheids in den zum Geschäftsraum der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung, den Zeitpunkt der Zustellung, dessen Vermerk auf dem Umschlag des Schriftstücks sowie Name und Unterschrift der Zustellerin. Entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers war damit die Zustellung bewirkt (§ 180 Satz 2 ZPO). Weder ist deren tatsächliche Kenntnisnahme des Bescheids noch deren Unterschrift auf der Urkunde für die Wirksamkeit der Zustellung erforderlich. Da sie selbst angeben, dass am Tag der Zustellung, dem 25. April 2020 (einem Samstag), niemand in der Kanzlei anwesend war, lag ein ausreichender Grund für die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 ZPO vor. Eine solche Ersatzzustellung ist möglich, wenn der Geschäftsraum beim Zustellungsversuch geschlossen ist.
c) Der im Beschwerdeverfahren erhobene Einwand, die Zustellerin habe das Schriftstück möglicherweise in einen anderen Briefkasten eingeworfen, vermag keinen Zustellungsmangel zu begründen. Nach § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO begründet die Zustellungsurkunde vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Zwar ist gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen zulässig, sofern nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken. Hierfür reicht aber die bloße Behauptung, der einzige frei von außen zugängliche Briefkasten am Gebäude gehöre zu einer anderen Firma, verbunden mit der Vermutung, der Brief sei möglicherweise darin eingeworfen worden, nicht aus. Ein bloßes Bestreiten genügt für die Erbringung des Beweises der Unrichtigkeit der in einer Postzustellungsurkunde beurkundeten Tatsachen nicht. Vielmehr erfordert der Gegenbeweis im Falle des § 180 ZPO einen substantiierten Beweisantritt durch Darlegung von Umständen, die geeignet sind, ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde zu belegen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 16.5.1986 – 4 CB 8.86 – NJW 1986, 2127 = juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 31.3.2016 – 11 CS 16.310 – juris Rn. 4, B.v. 15.4.2015 – 11 ZB 15.209 – juris Rn. 7; B.v. 9.5.2018 – 22 ZB 18.105 – BayVBl 2019, 33 Rn. 12 ff.; OVG SH, B.v. 9.8.2018 – 4 MB 79/18 – ZfSch 2019, 240 Rn. 4).
Der Antritt des Gegenbeweises hätte daher nähere Angaben zu den örtlichen Verhältnissen, insbesondere zu der „Firma“ unter der Zustelladresse erfordert, die dort den angeblich einzigen von außen zugänglichen Briefkasten angebracht haben soll. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Rechtsanwalt grundsätzlich einen Briefkasten mit Praxishinweis für Zustellungen, Mitteilungen und sonstige Nachrichten vorhalten muss, um die organisatorischen Mindestanforderungen einer Kanzlei gemäß § 27 Abs. 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und § 5 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) zu erfüllen (vgl. Anwaltsgerichtshof Hamm, U.v. 16.2.2018 – 1 AGH 64/17 – juris Rn. 8 m.w.N.; Anwaltsgerichtshof Berlin, U.v. 2.9.2013 – I AGH 5/13 – juris Rn. 18).
3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5, 46.1, 46.3, und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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