Europarecht

Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über verkehrsberuhigende Maßnahmen

Aktenzeichen  M 23 K 17.4023

Datum:
24.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24950
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5
StVO § 2 Abs. 1 Nr. 2, § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Abs. 9 S. 1, S. 2, S. 3
16. BImSchV § 2 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung, bei deren Überschreitung ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO besteht, ist nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung können im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO als Orientierungswerte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zur Ermessensausübung verpflichtet, herangezogen werden (ebenso BVerwG BeckRS 9998, 38946). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Beurteilung, ob die Behörde lenkend einschreiten muss oder kann, hängt maßgeblich von der Höhe der Grenzwertüberschreitung ab. Die Behörde darf in Wahrung allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen umso eher absehen, je geringer der Grad der Lärm- oder Abgasbeeinträchtigung ist, der entgegengewirkt werden soll. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4 Straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen müssen als Mittel der Lärmbekämpfung dort ausscheiden, wo sie die Verhältnisse nur um den Preis bessern können, dass an anderer Stelle neue Unzuträglichkeiten auftreten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 19. Juli 2017 verpflichtet, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.
III. Die Beteiligten haben die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit der Kläger die Klage im Hinblick auf den Vornahmeantrag in Ziffer 2 zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Die verbleibende zulässige Klage auf Verbescheidung hat in der Sache Erfolg. Der Beklagte war antragsgemäß zu verpflichten, über den Antrag der Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), nachdem der gegenüber dem Kläger erlassene Bescheid einen Ermessensfehler in Form des Ermessensdefizits aufweist.
§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO gibt dem Einzelnen einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein straßenverkehrsrechtliches Einschreiten, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss (BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76/84 – juris Rn. 13ff. m.w.N.; BayVGH, U.v. 21.12.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 24). Die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt (I); eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Beklagten über den Antrag des Klägers liegt bislang aber nicht vor (II).
I.
Die Grenze der Zumutbarkeit für Anlieger ergibt sich dabei nicht aus einem bestimmten Schallpegel oder Abgaswert. Die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung, bei deren Überschreitung ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO besteht, ist nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt.
Auch durch die in den Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) vom 23.11.2007 (VkBl. 2007, 767) enthaltenen Schallpegel wird diese Grenze nicht bestimmt (vgl. BayVGH, U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 27). Nach diesen Richtlinien kommen straßenverkehrsrechtliche Lärmschutzmaßnahmen insbesondere in Betracht, wenn der vom Straßenverkehr herrührende Beurteilungspegel am Immissionsort die unter der dortigen Nr. 2.1. im einzelnen genannten Richtwerte überschreitet. Dies besagt jedoch nur, dass sich in derartigen Fällen das Ermessen der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten verdichten kann; es bedeutet nicht, dass geringere Lärmeinwirkungen straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen ausschlössen (für die vorherige, insoweit vergleichbare Fassung der Lärmschutz-Richtlinien-StV BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76/84 – BVerwGE 74,234/240; BayVGH, U.v. 26.11.1998 – 11 B 95.2934 – juris Rn. 56; U.v. 11.5.1999 – 11 B 97.695 – juris Rn. 32; U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 27). Auch bei Schallpegeln, welche die Richtwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV nicht erreichen, kann deshalb ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde gegeben sein.
Ebenso wenig können die Vorschriften der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV) vom 12. Juni 1990 (BGBl I S. 1036), zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Dezember 2014 (BGBl I S. 2269), bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im Rahmen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO unmittelbar angewendet werden. Diese Verordnung bestimmt durch Festlegung von Immissionsgrenzwerten die Schwelle der Zumutbarkeit von Verkehrslärm nur für den Bau und die wesentliche Änderung u.a. von öffentlichen Straßen (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung).
Die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 Verkehrslärmschutzverordnung können aber im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als Orientierungswerte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zur Ermessensausübung verpflichtet, herangezogen werden (vgl. BVerwG, U.v. 22.12.1993 – 11 C 45/92 – juris Rn. 30). Denn die Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung bringen ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion, zumindest auch dem Wohnen zu dienen, anzunehmen ist. Eine Unterschreitung der Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung ist danach jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher Hinsicht nicht erreicht. Umgekehrt kommt bei einer Überschreitung dieser Immissionsgrenzwerte eine zur fehlerfreien Ermessensausübung verpflichtende Überschreitung der straßenverkehrsrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle in Betracht (st.Rspr.; vgl. BayVGH, vgl. U.v. 26.11.1998 – 11 B 95.2934 – juris Rn. 56; U.v. 11.5.1999 – 11 B 97.695 – juris Rn. 33; U.v. 18.2.2002 – 11 B 00.1769 – juris Rn. 53; U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 28; VG München U.v. 27.5.2014 – M 23 K 14.1141 – unveröffentlicht; U.v. 19.1.2016 – M 23 K 14.1931 – juris Rn. 49).
Das erkennende Gericht folgt seit langem der vom Verwaltungsgericht Oldenburg (U.v. 13.6.2014 – 7 A 7110/13 – juris Rn. 99 ff.) aus der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, U. v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 30) entwickelten Systematik, wonach von der Rechtsprechung als getragen angesehen werden kann, dass „kein Anspruch bei Werten unterhalb von 59 dB(A) am Tage und 49 dB(A) nachts, ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bei Werten, die darüber liegen, aber 70 dB(A) tags und 60 dB(A) zur Nachtzeit nicht überschreiten und ein gebundener Anspruch auf straßenverkehrsbehördliches Einschreiten bei Werten von mehr als 70 dB(A) am Tage und 60 dB(A) zur Nachtzeit“ besteht (so auch VG München, U.v. 19.1.2016 – M 23 K 14.1931 – juris Rn. 49).
Gemessen hieran überschreitet jedenfalls die vom Kläger geltend gemachte Lärmbelastung seines Anwesens die nach den vorstehenden Kriterien bestimmte Grenze der Zumutbarkeit, sodass der Beklagte von seinem durch § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 1 und 3 StVO eröffneten Ermessen Gebrauch machen muss.
Die tatsächlichen Lärmbelastungen auf dem Anwesen des Klägers konnte im Rahmen des Klageverfahrens für den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zwar nicht zweifelsfrei festgestellt werden, nachdem der Beklagte seinem Bescheid keine aktuellen Verkehrsdaten zugrunde gelegt hat. Allerdings ist bereits den im Verwaltungsverfahren dem Bescheid zugrunde gelegten Daten eindeutig zu entnehmen, dass die für reine und allgemeine Wohngebiete aus § 2 Abs. 1 Nr. 2 Verkehrslärmschutzverordnung folgenden Immissionsgrenzwerte von 59 dB(A) tagsüber und 49 dB(A) nachts überschritten sind. So lag der Beurteilungspegel ausweislich der Berechnung vom 25. September 2015 für das klägerische Anwesen bereits unter Zugrundelegung der Verkehrszahlen von 2010 bei 59,8 db(A) tags und 52,5 db(A) nachts und somit zwar unterhalb der einen gebundenen Anspruch auslösenden Grenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV (70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts), aber mit einer Überschreitung von 0,8 db(A) tags und 3,5 db(A) nachts oberhalb der Grenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung. Der Heranziehung der Lärmberechnung steht im Hinblick auf die Feststellung der das Ermessen auslösenden Grenzwertüberschreitung auch nicht entgegen, dass sie auf Grundlage der veralteten Verkehrsmengenzahlen aus der Verkehrszählung des Jahres 2010 angestellt wurde. Schließlich ergibt ein Vergleich der Verkehrsmengenzahlen von 2005 (2.559 KFZ) und 2015 (2.672 KFZ) mit den Verkehrsmengenzahlen aus dem Jahr 2010 (2.054 KFZ) eindeutig, dass es sich bei dem der Lärmberechnung zugrunde gelegten Verkehrsmengenzahl um den geringsten Wert handelt. Somit liegt bei zutreffender Zugrundelegung der aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2015 eine Unterschreitung der Orientierungswerte aus der Verkehrslärmschutzverordnung in keiner Weise nahe. Vielmehr ist bei Verwendung der 2015er-Daten eine weitaus höhere Überschreitung zu erwarten als sie noch in der Lärmberechnung festgestellt wurde.
II.
Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, den der Kläger aufgrund der die Grenze des Zumutbaren überschreitenden Lärmbelastung seines Anwesens beanspruchen kann, ist von dem Beklagten bislang nicht rechtsfehlerfrei erfüllt worden (vgl. Art. 40 BayVwVfG, § 114 VwGO). Aufgrund der Berücksichtigungspflicht der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die bereits getroffene Ermessensentscheidung bei der Prüfung von etwaigen Ermessensfehlern auch darauf zu untersuchen, ob sie noch dem aktuellen Tatsachenstand entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 37/09 – juris Rn. 28).
Dies zugrunde gelegt ist zwar festzustellen und anzunehmen, dass das Landratsamt im Bescheid nunmehr sein Ermessen ausgeübt hat. Allerdings haftet der Ermessensentscheidung ein Ermessensfehler in Form eines Ermessensdefizits an, da das Landratsamt in seiner Entscheidung nicht alle (zutreffenden) Gesichtspunkte berücksichtigt, die nach dem Zweck des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu berücksichtigen sind. So hat das Landratsamt zum einen seiner Entscheidung falsche, nämlich nicht mehr aktuelle, Tatsachen zugrunde gelegt und sich zum anderen nicht mit straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen für die Nachtzeit auseinandergesetzt, obwohl selbst die vom Landratsamt zugrunde gelegten Verkehrsdaten eine solche Prüfung nahegelegt hätten und die neuen Verkehrsdaten eine solche Prüfung erst recht nahelegen.
Die Behörde hat ihre Ermessensentscheidung, ob das schützenswerte Bedürfnis der Anlieger nach Wohnruhe gegenüber dem öffentlichen Verkehrsinteressen überwiegt, auf der Basis einer zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ermittlung vorzunehmen (vgl. BayVGH, U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 34). An einer derartigen ausreichenden Ermessensgrundlage fehlt es. Indem sich das Landratsamt erkennbar maßgeblich von der Lärmberechnung vom 25. September 2015 für das Jahr 2010 hat leiten lassen, hat es seiner Ermessensentscheidung unzureichende Tatsachen zugrunde gelegt. Auch wenn dem Landratsamt zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung noch keine Verkehrsmengenzahlen für das Jahr 2015 vorgelegen haben mögen, hätte sich das Landratsamt – abgesehen davon, dass es für die vorliegende Verpflichtungssituation ohnehin auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt – nicht alleine auf die Lärmberechnung 2010 stützen dürfen, nachdem diese Lärmberechnung noch auf veralteten und zum Zeitpunkt der behördlichen und erst Recht der gerichtlichen Entscheidung überholten Verkehrsmengenzahlen aus der Verkehrszählung des Jahres 2010 beruht. Schließlich war die Verkehrszählung des Jahres 2010 erheblich verkehrsmindernd durch wesentliche Straßenbaumaßnahmen an dem die F … Straße östlich abschließenden Kreisverkehr beeinflusst, wie die Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung selbst vorgetragen haben. Die dadurch hervorgerufene und künstlich generierte geringere Inanspruchnahme der F … Straße im streitgegenständlichen Abschnitt wird auch anhand der von den Beklagtenvertretern in der mündlichen Verhandlung überreichten Übersicht zu den Verkehrszahlen zwischen 1995 bis 2015 erkennbar (abrufbar unter: https://www…de/web/content/ verkehrsdaten/SVZ/strassenverkehrszaehlungen.aspx). Hierbei bildet das Jahr 2010 mit lediglich 2054 Kraftfahrzeugen im Vergleich zu den Jahren 2005 (2.559 KFZ) und 2015 (2.672 KFZ) das Jahr mit dem geringsten Verkehrsaufkommen ab. Ein Vergleich der Verkehrszahlen zeigt, dass das Verkehrsaufkommen im Jahr 2005 etwa 25% und im Jahr 2015 etwa 30% höher war als noch in dem der Lärmberechnung zugrunde gelegten Jahr 2010. Allein hieraus ergibt sich, dass die Verkehrsmengenzahl aus dem Jahr 2010 als tatsächliche Grundlage für eine behördliche Entscheidung schon nicht repräsentativ ist und daher auch nicht als ausreichend erachtet werden kann. Da die Höhe der Grenzwertüberschreitung maßgeblich für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung ist, darf die Behörde nicht – wie vorliegend geschehen – von einer falschen bzw. veralteten Tatsachengrundlage ausgehen. Denn die Beurteilung, ob die Behörde lenkend einschreiten muss oder kann, hängt maßgeblich von der Höhe der Grenzwertüberschreitung ab. So darf die Behörde in Wahrung allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen umso eher absehen, je geringer der Grad der Lärm- oder Abgasbeeinträchtigung ist, der entgegengewirkt werden soll. Umgekehrt müssen bei erheblichen Lärm- oder Abgasbeeinträchtigungen die den verkehrsberuhigenden oder verkehrslenkenden Maßnahmen entgegenstehenden Verkehrsbedürfnisse und Anliegerinteressen schon von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese Belange ein Handeln der Behörde unterbleibt (BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76/84 – juris Rn. 15; BayVGH, U. v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn.25).
Vorliegend wird das Landratsamt daher unter Zugrundelegung aktueller Verkehrsmengenzahlen zu ermitteln haben, welche konkrete Grenzwertüberschreitung für das klägerische Anwesen sowohl tags als auch nachts tatsächlich besteht.
Dabei wird das Landratsamt auch besonders zu berücksichtigen haben, dass der Schutz der Nachtruhe für Anwohner eines allgemeinen Wohngebiets gerade besondere Bedeutung zukommt (VG München, U.v. 27.5.2014 – M 23 K 14.1141 – juris Rn. 33; VG Ansbach, U.v. 21.6.2017 – AN 9 K 15.01072 – juris Rn. 42). An einer dergleichen Differenzierung zwischen Tag- und Nachtzeit fehlt es im streitgegenständlichen Bescheid, obwohl die nächtlichen Grenzwerte aus der Verkehrslärmschutzverordnung selbst unter Zugrundelegung der Lärmberechnung für das Jahr 2010 im Beurteilungspegel für das klägerische Anwesen mit 52,5 db(A) um 3,5 db(A) deutlich überschritten waren. Nachdem der nächtliche Lärmwert nach der Straßenverkehrszählung für das Jahr 2015 gegenüber dem Lärmwert aus dem Jahr 2010 im Mittelungspegel von 51,8 db(A) um 0,8 db(A) auf 52,6 db(A) gestiegen ist (abrufbar unter: https://www.baysis.bayern.de/web/content/verkehrsdaten/SVZ/strassenver-kehrszaehlungen.aspx), wird das Landratsamt umso mehr für die Nachtzeit zu prüfen haben, ob und welche straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen getroffen werden. Angesichts der seit dem Jahr 2010 erhöhten Verkehrsbelastung um etwa 30% ist zu erwarten, dass sich der Beurteilungspegel auch für das klägerische Grundstück weiter erhöht hat. Schließlich lag der für das Jahr 2010 errechnete Beurteilungspegel bereits 0,7 db(A) oberhalb des Mittelungspegels des Jahres 2010, was – vorbehaltlich einer von der Behörde zu veranlassenden – neuen Lärmberechnung einer aktuellen Grenzwertüberschreitung von über 4 db(A) nachts entsprechen würde. Welche konkrete nächtliche Grenzwertüberschreitung vorliegt, wird das Landratsamt zu ermitteln haben.
Der Anspruch der Klägerin auf fehlerfreie Ausübung des der Beklagten eingeräumten Ermessens ist nach alledem nicht erfüllt, sodass der Beklagte über den Antrag des Klägers erneut zu entscheiden hat.
Dabei kann die zuständige Verkehrsbehörde im Rahmen einer Abwägung zwischen den unzumutbar beeinträchtigten Interessen der Anwohner und möglicherweise übergeordneten Verkehrsinteressen aber zu dem Ergebnis kommen, keine oder andere als die von den Betroffenen gewünschten verkehrsbeschränkenden Maßnahmen anzuordnen.
Hierbei sind die Interessen anderer Anlieger, die durch lärm- oder abgasreduzierende Maßnahmen ihrerseits übermäßig durch Lärm oder Abgase beeinträchtigt würden, in Rechnung zu stellen (vgl. BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76/84 – juris Rn. 13; U.v. 22.12.1993 – 11 C 45/92 – juris Rn. 26; B.v.18.10.1999 – 3 B 105/99 – juris Rn. 2; BayVGH, U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 25). Straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen müssen als Mittel der Lärmbekämpfung dort ausscheiden, wo sie die Verhältnisse nur um den Preis bessern können, dass an anderer Stelle neue Unzuträglichkeiten auftreten, die im Ergebnis zu einer verschlechterten „Gesamtbilanz“ führen, etwa weil sie die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs in nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigen oder im Hinblick auf eintretende Änderungen von Verkehrsströmen noch gravierendere Lärmbeeinträchtigungen von Anliegern anderer Straßen zur Folge haben (vgl. BVerwG, U.v. 4.6.1986 – 7 C 76/84 – BVerwGE 74, 234/238). Dann kann von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile, etwa die Verlagerung der Problematik auf andere Wohngebiete, abgesehen werden. Für die Annahme einer Problemverlagerung bedarf es allerdings insbesondere einer über eine schlichte Behauptung – wie vorliegend der Fall – hinausgehenden tragfähigen tatsächlichen Ermittlung des prognostizierten Ausweichverkehrs.
Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind ferner die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen. So kann das Landratsamt auch die Verkehrsbedeutung der F … Straße als Kreisstraße berücksichtigen, wobei es in seine Abwägung wird einbeziehen müssen, ob der Verkehrsbedeutung im streitgegenständlichen Abschnitt nachts ein geringeres Gewicht beizumessen ist als tagsüber. Außerdem ist bei der Ermessensentscheidung auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des Klägers als betroffener Anlieger sowie auf die vorliegend wohl gegebene Vorbelastung des unmittelbar an der Kreisstraße gelegenen klägerischen Grundstücks in ebenso unmittelbarer Ortsrandlage abzustellen (BayVGH, U.v. 21.3.2012 – 11 B 10.1657 – juris Rn. 25).
Zieht das Landratsamt Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs in Betracht – etwa eine nächtliche Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 30 -, so vermag das Gericht zwar mögliche Bedenken des Beklagten grundsätzlich nachzuvollziehen, was die hohen Anforderungen betrifft, die § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs vorgibt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es bei Verkehrsbeschränkungen und -verboten im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO regelmäßig um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben und bedeutende Sachwerte geht. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts ist jedoch, wenn derart hochrangige Rechtsgüter betroffen sind, ein behördliches Einschreiten bereits bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zulässig und geboten. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit wird daher nicht gefordert. Die Vorschrift setzt nur – aber immerhin – eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts voraus. Erforderlich ist somit eine entsprechende konkrete Gefahr, die auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruht (BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 37/09, juris Rn. 27). Soweit „§ 45 Abs. 9 Satz 2 StVO als Voraussetzung für eine Ermessensausübung hinsichtlich des fließenden Verkehrs (…) auf eine besondere örtliche Gefahrenlage hinsichtlich der Lärmbelastung für die Anwohner“ abstellt (Hess. VGH, U.v. 19.2.2014 – 2 A 1465/13 – juris Rn. 26), dürfte diese Gefahrengrenze vorliegend bereits durch teilweise deutliche Überschreitungen der einschlägigen Orientierungswerte – insbesondere nachts – erreicht sein. Zumindest ist eine angemessene Relation zwischen den teilweise erheblichen Beeinträchtigungen und den vorzufindenden örtlichen Verhältnissen herzustellen.
Im Übrigen dürfte die von § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO geforderte örtliche Besonderheit für den streitbefangenen Abschnitt der F … Straße aber auch darin zu sehen bestehen, dass aufgrund der räumlichen Anordnung von/nach Osten nach/von Westen im nahegelegenen Anschlussbereich zur Bundesautobahn der weitgehend gerade verlaufenden F … Straße nicht nur Erschließungsfunktion für das umliegende Quartier zukommt, sondern prädestiniert auch dem überörtlichen Verkehr als Durchgangsstraße dient.
Der nach Klagerücknahme nunmehr auf die (bloße) Verpflichtung des Beklagten auf erneute Verbescheidung des klägerischen Antrags im Verwaltungsverfahren (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) zielenden Klage war daher unter Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids vollumfänglich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommen Vornahmeantrags auf § 155 Abs. 2 VwGO und im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO, wobei eine hälftige Kostentragung unter Beachtung der Nr. 1.4 des aktuellen Streitwertkatalogs angebracht erscheint. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.


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