Europarecht

Antrag auf Durchführung eines Asylverfahrens

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50375

Datum:
3.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35347
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 25, § 80, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, § 25 Abs. 3
VO (EU) 604/2013 Art. 8 Abs. 1, Art. 17 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs und der Wiedervorlagen des griechischen Ministeriums für Citizen Protection – Nationales Dublin-Referat -, für die Prüfung der Asylanträge der Antragstellerinnen für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen begehren von Griechenland aus den Nachzug zu ihrer in Deutschland lebenden Mutter bzw. die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO).
Die … 2012 geborene Antragstellerin zu 1) und die … 2013 geborene Antragstellerin zu 2) sind somalische Staatangehörige. Ihre Mutter ist die 1991 geborene somalische Staatsangehörige … … … Diese verließ nach ihren Angaben in ihrem Asylverfahren ihr Heimatland am 1. September 2014 und reiste am 12. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 30. März 2016 einen Asylantrag stellte. In der Anhörung nach § 25 AsylG gab sie an, in Somalia religiös verheiratet gewesen zu sein. Ihre – mit Geburtsdatum benannten – Töchter stammten aber aus einer zwangsweisen Verbindung mit einem Milizionär der Al Shabab, der sie über Jahre festgehalten und vergewaltigt habe. Die Kinder habe sie bei der Mutter in Somalia zurückgelassen. Sie sei zu einer Halbschwester nach Deutschland geflohen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte das Asylgesuch der Mutter mit Bescheid vom 17. Juni 2016 ab, erkannte aber ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu. Eine Klage auf weitergehenden Schutz blieb erfolglos (VG Trier, U.v. 3.5.2017, 5 K 3115/16.TR). Das Verwaltungsgericht Trier stufte das Asylvorbringen der Mutter der Antragstellerinnen als nicht glaubhaft ein.
Die Antragstellerinnen reisten mit Herrn … … … … im September 2019 nach Griechenland ein, wo sie am 9. September 2019 einen Asylantrag stellten. Der 1988 geborener … … … … sei der Bruder der Mutter.
Am 3. Dezember 2019 stellte die griechische Asylbehörde ein Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin nach Art. 8 Dublin III-VO zum Nachzug der unbegleiteten Minderjährigen zu ihrer Mutter. Beigefügt wurden Zustimmungserklärungen der Antragstellerinnen, unterzeichnet von einem gesetzlichen Vertreter, eine Einverständniserklärung der Mutter der Antragstellerinnen, jeweils unterzeichnet am 9. September 2019 auf Chios sowie eine weitere Erklärung der Mutter vom 27. November 2019, die bis 28. Juli 2021 gültige deutsche Aufenthaltserlaubnis der Mutter und somalische Geburtsurkunden für die Antragstellerinnen. In der Erklärung vom 27. November 2019 gibt die Mutter an, mit einem kleinen Halbbruder der Antragstellerinnen in einer zwei Zimmerwohnung mit großer Küche in … zu leben und die Antragstellerinnen bei sich aufnehmen zu wollen und zu können.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 das Übernahmeersuchen ab und verwies darauf, Fingerabdrücke der Antragstellerinnen und Aussagen zum Kindeswohl und zur Fluchtroute der Kinder zu benötigen.
Die griechische Behörde teilte am 3. Januar 2020 zunächst mit, dass nach der Verlegung der Antragstellerinnen auf das griechische Festland diese derzeit nicht lokalisiert werden könnten. Am 7. September 2020 wurde ein Sozialbericht vom 4. September 2020 für die Antragstellerinnen vorgelegt. Darin wurde mitgeteilt, dass die Kinder mit ihrem Onkel, der sich seit der Geburt der Kinder um sie kümmere, zusammenlebten. Die Kinder seien in Griechenland zunächst vom Onkel getrennt worden, nach Übertragung der vorläufigen Vormundschaft an diesen, mit ihm wieder vereint worden.
Mit Stellungnahme vom 7. September 2020 teilte die Mutter der Antragstellerinnen mit, dass sie Somalia aus Angst vor dem Vater verlassen und ihre Töchter bei ihrer Mutter zurückgelassen habe. Nach einem Aufenthalt des Bruders, der Mutter und der Antragstellerinnen in der Türkei, seien der Bruder und die Kinder aus Angst vor Rache durch den Vater nicht nach Somalia zurückgekehrt. Sie habe die Kinder in Griechenland zweimal besucht. Sie bräuchten sich gegenseitig.
Die Antragsgegnerin lehnte das Ersuchen Griechenland mit Schreiben vom 17. September 2020 erneut ab mit der Begründung, dass es sich bei den Antragstellerinnen nicht um unbegleitete Minderjährige handle.
Am 7. Oktober übersandte Griechenland eine rechtliche Stellungnahme vom 6. Oktober 2020 zu einer Übernahmeverpflichtung nach Art. 8 und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Hierauf reagierte das Bundesamt nicht mehr.
Mit am 23. November 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom selben Tag stellten die Antragstellerinnen einen Antrag nach § 123 VwGO und beantragten,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Ministerium für Citizen Protection – Nationales Dublin-Referat – für die Asylanträge der Antragstellerinnen für zuständig zu erklären und auf ihre Überstellung hinzuwirken.
Zur Begründung wurde dargelegt, dass es sich bei den Antragstellerinnen um unbegleitete Minderjährige i.S.v. Art. 8, Art. 2 lit. j) Dublin III-VO und Art. 2 lit j), Art. 41 lit e) und Art. 32 Abs. 3 des griechischen Asylgesetzes handele und hieran die Begleitung und Bestellung des Onkels als temporärer Vormund durch Bestallung vom 14. Oktober 2019 nichts ändere. Die Zusammenführung mit der Mutter entspreche dem Kindeswohl. Die sehr jungen Antragstellerinnen seien auf die Pflege und Fürsorge ihrer Mutter angewiesen, die der Onkel, der seine eigene Familie nachholen möchte, nicht ersetzen könne. Die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO seien erfüllt und von Anfang an ausreichend dargelegt. Im Übrigen greife auch Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zugunsten der Antragstellerinnen ein. Eine Ermessensreduktion auf Null liege vor. Fingerabdrücke können von den Antragstellerinnen nicht verlangt werden, Art. 9 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (Eurodac-VO), auch kein Kindeswohlgutachten.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 25. November 2020, eingegangen am  3. Dezember 2020, den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist bei verständiger Würdigung des Antragsziels (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) als einheitlicher Antrag auf Zuständigerklärung mit – was das Hinwirken auf die Überstellung betrifft – unselbständigem Annex auszulegen. Der Annexantrag muss, da die Gefahr, dass die Antragsgegnerin an der Überstellung im Falle des Unterliegens nicht mitwirkt, nicht besteht, nicht eigens beschieden werden.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für den so verstandenen Antrag zuständig (1). Er ist zulässig (2) und begründet (3).
1. Da sich Antragstellerinnen in Griechenland aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zu ständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Mutter der Antragstellerinnen, zu der zugezogen werden soll, im hiesigen Verfahren nicht als Antragstellerin auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Die Antragsstellerinnen sind entsprechend
§ 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. Ein solches ergibt sich für die Antragstellerinnen sowohl aus Art. 8 Dublin III-VO als auch aus der humanitären Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein Berufen hierauf vom Ausland aus ist anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 GRCh sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (ständige Rechtsprechung der Kammer, vgl. VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103, B.v. 20.10.2020 – AN 17 E 20.50328 – juris Rn. 33 f., ebenso VG Freiburg, B.v. 18.6.2020 – A 3 K 1718/20 – juris, VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
3. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor und auch ohne Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragstellerinnen haben sowohl einen Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit (a), als auch einen entsprechenden Anordnungsanspruch (b) glaubhaft gemacht. Auch ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache möglich und geboten (c).
a) Der Anordnungsgrund besteht in der Gefahr des jederzeit drohenden Rechtsverlustes. Durch den Fortgang des Asylverfahrens in Griechenland aufgrund der Ablehnung der Übernahme durch die Antragsgegnerin ist für die Antragstellerinnen ein zeitnaher und dauerhafter Verlust des geltend gemachten Nachzugsrechts zu ihrer Mutter zu befürchten. Wenn das Asylverfahren in Griechenland durchgeführt und abgeschlossen ist, greifen in der Folge die Regelungen der Dublin III-VO nicht mehr ein (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) und die Familienzusammenführung nach Art. 8 bzw. 17 Abs. 2 Dublin III-VO würde auf Dauer ausgeschlossen (vgl. VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – An 17 E 20.50103 – juris, auch VG Münster, B. v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 – 4 L 478/19.WI.A). Da die Fortführung und Beendigung des Asylverfahrens in Griechenland jederzeit droht, da die Antragsgegnerin Griechenland gegenüber die Angelegenheit abschließend abschlägig behandelt hat, ist ein Anordnungsgrund anzunehmen.
b) Die Antragstellerseite hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch der Antragstellerinnen auf Nachzug zur Mutter folgt wohl nicht bereits aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO (aa), was aber letlztlich offen bleiben kann, denn jedenfalls ergibt sich ein solcher im Wege einer Ermessensreduktion auf Null aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (bb).
aa) Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist für einen unbegleiteten Minderjährige derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Familienangehöriger rechtmäßig aufhält, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Zwar ist die Mutter der Antragstellerinnen nach der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG (nicht aber, wie die griechischen Behörden annehmen, aufgrund der Zuerkennung subsidiären Schutzes) unstreitig im Besitz eines Aufenthaltstitels gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG, so dass sie sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Jedoch ist fraglich, ob es sich bei den minderjährigen Antragstellerinnen um unbegleitete Minderjährige handelt, da sie mit ihrem Onkel, also einem volljährigen Verwandten, eingereist sind und nach wie vor (oder jedenfalls wieder) in dessen Obhut sind und der Onkel auch als zeitweiliger Vormund („temporary guardian“) für die Antragstellerinnen bestellt worden ist.
Als unbegleiteter Minderjähriger gilt nach Art. 2 lit. j) Dublin III-VO ein Minderjähriger, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedsstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist bzw. sich aufhält. Wie die Antragstellerseite im Ansatz zu Recht ausführt, ist damit auf das geltende griechische Recht abzustellen (so auch VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 44 ff.) und damit auf das griechische Gesetz Nr. 4636/2019 (griech. AsylG). In Anwendung und Auslegung von Art. 2 lit. j) Dublin III-VO bestimmt Art. 2 lit. j griech. AsylG – nach Lesart des erkennenden Gerichts – folgende Definition eines unbegleiteten Minderjährigen: ein Minderjähriger ist dann unbegleitet, wenn er ohne eine Person einreist, die die elterliche Sorge („parental responsibility“, Art. 2 lit j Alt. 1 griech. AsylG) oder Vormundschaft („custody“, Art. 2 lit j Alt. 2 griech. AsylG) innehat und auch ohne einen verwandten Erwachsenen, der die Sorge für ihn tatsächlich ausübt (Art. 2 lit j Altern. 3 griech. AsylG „adult relative exercising in practise his/her care“). Die letzte Alternative dürfte mit dem erwachsenen Onkel der Antragstellerinnen jedoch erfüllt sein mit der Folge, dass es sich bei den Antragstellerinnen nicht um unbegleitete Minderjährige handelt und demnach Art. 8 Abs. 1 bis Abs. 4 Dublin III-VO als Anspruchsgrundlagen ausfallen.
Diese Definition bzw. Auslegung des griech. AsylG steht auch im Einklang mit Art. 2 lit j Dublin III-VO, mit der Zielsetzung des Art. 8 Dublin III-VO und der Dublin III-VO insgesamt. Für die besonders vulnerablen Minderjährigen soll nach Möglichkeit eine gänzliche Trennungen von vertrauten Personen, insbesondere Familienangehörigen, verhindert werden, um so psychischen Schaden für sie abzuhalten und ihnen Schutz und Fürsorge so gut wie möglich und so schnell wie möglich zu gewähren. Ist ein Minderjähriger aber auf der oftmals langen Flucht mit einem Familienangehörigen oder Verwandten unterwegs gewesen und hat dieser die Sorge um das Kind tatsächlich wahrgenommen, ist es nicht (generell) angebracht, eine Trennung von diesem herzustellen, weil ein näherer Verwandter in einem anderen Mitgliedstaat existiert. Eine solche Trennung kann u.U. eine Traumatisierung erst hervorrufen. Für eine individuelle Abwägung aller Aspekte des Kindeswohls lässt der pauschalierte Art. 8 Dublin III-VO jedoch keinen Raum. Dies ist nur über Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO möglich, der in derartigen Fällen gerade zum Wohl der Minderjährigen in der Folge zu prüfen ist.
bb) Vorliegend ergibt sich für die Antragstellerinnen im Ergebnis ein solcher Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im gerichtlichen Eilverfahren sind dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und ist der Ermessensspielraum vorliegend auf Null reduziert.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der so ersuchte Mitgliedstaat hat alle erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen und antwortet dem ersuchenden Mitgliedstaat innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs. Eine Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO. Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 4 Dublin III-VO wird dem ersuchten Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen, wenn dieser dem Gesuch stattgibt.
Die Voraussetzungen für eine Zustimmungserklärung sind vorliegend erfüllt. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die Zustimmung der Antragsgegnerin.
Ein entsprechendes Ersuchen der griechischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland, die Antragstellerinnen aufzunehmen, wurde von den griechischen Behörden gestellt. Unerheblich ist dabei, dass die ursprünglichen Anträge vom 3. Dezember 2019 ausdrücklich nur auf
Art. 8 Dublin III-VO gestützt waren. Spätestens mit Übersendung der rechtlichen Stellungnahme vom 6. Oktober 2020, in der auch zu Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO Stellung bezogen wurde, liegt ein derartiges Ersuchen vor. Dieses ist auch nicht verspätet gestellt. Der Antrag nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO kann nach dessen eindeutigem Wortlaut nämlich „jederzeit“ gestellt werden. Er ist damit nicht an die Fristen und Verfahrensabläufe nach Art. 21 ff. Dublin III-VO und Art. 5 Abs. 2 Dublin-Durchführungs-VO gebunden (ständige Rechtsprechung der Kammer vgl. etwa VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris). Soweit ein Antrag ersichtlich auf die Zusammenführung von Familienangehörigen gerichtet ist, wie es hier von Anfang an der Fall war, ist eine ausdrückliche Erwähnung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO neben Art. 8 Dublin III-VO auch nicht erforderlich bzw. eine fehlende Nennung der Vorschrift unschädlich. Der angerufene Mitgliedsstaat hat den vorgetragenen Sachverhalt unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Vorschriften zu prüfen (VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 – AN 17 E 20.50269 Rn. 36).
Dass die Antragstellerinnen die leiblichen Kinder von Frau … … … sind, ist nicht zweifelhaft. Dies bestreitet auch die Antragsgegnerin nicht. Die Abstammung der Antragstellerinnen ist durch die im Verfahren vorgelegten somalischen Abstammungsurkunden vom 20. August 2016 („Birth Certificate“) belegt. Die Geburtstage entsprechen dabei auch den Angaben, die die Mutter in ihrem eigenen Asylverfahren, bei ihrer Anhörung nach § 25 AsylG, mehrmals und widerspruchsfrei gemacht hat. Zweifel am Mutter-Kind-Verhältnis sind im Verfahren auch von keiner Seite ernsthaft aufgebracht worden. Das Einfordern von Fingerabdrücken der Antragstellerinnen durch die Antragsgegnerin dürfte nicht im Zusammenhang mit der Feststellung des Verwandtschaftsverhältnisses stehen und dürfte einen Zweifel diesbezüglich nicht ausdrücken, da nicht ersichtlich ist, dass Fingerabdrücke insoweit einen Erkenntnisgewinn bringen würden. Die allgemein wenig glaubhaften Angaben der Mutter zu ihrem Verfolgungsschicksal und damit zusammenhängend auch dem Vater der Antragstellerinnen gehen jedenfalls nicht soweit, ernsthafte Zweifel am Mutter-Kind-Verhältnis aufkommen zu lassen.
Sowohl die Antragstellerinnen, vertreten durch den zum vorläufigen Vormund bestellten Onkel, als auch die Mutter haben dem Nachzug i.S.v. Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO zugestimmt.
Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, liegen ebenfalls vor. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist, wobei die Auslegung vom Gericht voll überprüft wird. Im Kontext der Dublin III-VO ist dabei eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist. Dies lässt sich insbesondere den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen. Derartige humanitäre Gründe sind für die Antragstellerinnen geben, sodass die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäß hätte ausüben müssen. Ob eine Ermessenabwägung auf Grundlage von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO überhaupt erfolgt ist, ergibt sich aus der Aktenlage und den nur sehr kurzen Antworten des Bundesamts auf die Anfragen aus Griechenland nicht eindeutig. Das Gericht erkennt entgegen der Antragsgegnerin in der vorliegenden Situation jedenfalls weitergehend eine Verdichtung des Ermessens hin zu einem Nachzugsanspruch.
Die Antragstellerinnen sind erst 7 und 8 Jahre alt und damit dringend auf die Pflege und Sorge und die dauernde Lebensgemeinschaft einer möglichst nahestehenden, fürsorgenden erwachsenen Person angewiesen. Hierzu sind – in nahezu allen Staaten und Kulturkreisen – grundsätzlich und in erste Linie die leiblichen Eltern berufen. Die Fürsorge und Betreuung durch die eigenen Eltern entspricht regelmäßig dem Kindeswohl am besten. In Rechtsvorschriften niedergelegt ist dies für den europäischen Rechtsraum etwa in Art. 24 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und in der von allen Mitgliedstaaten ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention (dort insbesondere Art. 9, 10, 12 und 22). Die Dublin III-VO erkennt dies, wie insbesondere aus den in den Erwägungsgründen Nr.13 bis 19 ersichtlich wird, ebenfalls an. Das Zusammenleben zwischen Eltern und Kindern stellt darüber hinaus auch ein grundlegendes und zu schützendes Recht der Eltern dar (Art. 6 Abs. 1 bis Abs. 3 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GRCh), über das nur bei erheblichen Gründen hinweg gekommen werden kann.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist das Eltern-Kind-Verhältnis i.S.v. Art. 8 EMRK aber kein absolutes und unüberwindbares Recht und kann insbesondere im Einzelfall das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, für die Kindeswohlprüfung herangezogen werden (EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hängt die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes insbesondere von dessen Lebensalter sowie der Frage ab, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75); der EuGH hat in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt.
Dies zugrunde gelegt, ist die Herstellung der Familieneinheit zwischen den Antragstellerinnen und ihrer Mutter nach Ansicht des Gerichts zwingend. Jedenfalls bis zu einem Kindesalter von zwölf Jahren kann regelmäßig, d.h. beim Fehlen entgegen stehender Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass die Zusammenführung mit den leiblichen Eltern dem Wohl des Kindes am besten entspricht und das Kindeswohl die Zusammenführung auch fordert.
Ernsthafte und durchschlagende Gründe, die für eine Aufrechterhaltung der Trennung der Familieneinheit im vorliegenden Fall sprechen, sind nicht ersichtlich und von der Antragsgegnerin auch nicht substantiiert geltend gemacht. Zwar ist es richtig, dass die Antragstellerinnen die längste Zeit ihres Lebens von ihrer Mutter getrennt waren, da diese bereits im Jahr 2015 die Flucht aus Somalia angetreten hat. Damit muss eine enge Mutter-Kind-Beziehung wohl erst wieder hergestellt werden. Da die Mutter und die Kinder die Herstellung einer dauernden Lebensgemeinschaft aber begehren, ist anzunehmen, dass es dem Wohl der Antragstellerinnen entspricht. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerinnen eine Zusammenführung mit der Mutter nicht wirklich wünschen oder die Mutter die erforderliche Fürsorge nicht leisten wird, bestehen nicht. Der in Griechenland erstellte Sozialbericht vom 4. September 2020 geht zwar nicht konkret auf geäußerte Wünsche der Antragstellerinnen ein, sondern ist im Verhältnis zur Mutter nur sehr allgemein gehalten. Es ergeben sich hieraus aber auch keine entgegenstehenden Kindesbelange. Die den Bericht erstellende Person war mit den Verhältnissen der Kinder und des Onkels ersichtlich vertraut. Es kann deshalb angenommen werden, dass entgegenstehende Kindeswohlaspekte erkannt worden wären und hätten sie vorgelegen, benannt worden wären. Dass die erstellende Organisation Solidarity Now, etwa als verlängerter Arm einer auf möglichst hohe Abwanderung hinarbeitende griechische Migrationsbehörde auftritt, wäre reine Spekulation. Anhaltspunkte bestehen hierfür nicht. Ein solches Vorgehen legen verantwortungsvollen Sozialarbeiter regelmäßig nicht an den Tag. Im Übrigen wurde am 6. Oktober 2020 ein weiterer Sozialbericht durch das „Mobile Info Team“ in Thessaloniki für die Kinder erstellt, in dem ausdrücklich ausgeführt ist, dass die Antragstellerinnen ihre Mutter vermissten und über die Besuche der Mutter sehr glücklich gewesen seien. Eine dem Kindewohl entgegenstehende totale Entfremdung von einander kann damit nicht angenommen werden. Dass die Mutter der Antragstellerinnen in ihrem Asylverfahren ihre Verfolgungsgeschichte wohl überwiegend erfunden hat (überzeugend hierzu VG Trier, U.v. 3.5.2017 – 5 K 3115/16.TR) und an diese unwahre Geschichte auch in ihrer Stellungnahme vom 7. September 2020 anknüpft, macht die vorgetragene Trennungsgeschichte zwar unglaubhaft, dies stellt aber die Betreuungseignung und das Verantwortungsbewusstheit der Mutter und die gegenseitig empfundene Zuneigung und Nähe nicht in Frage. Ein eventuell unlauteres Verhalten der Mutter kann im Übrigen nicht den hierfür nicht verantwortlichen Antragstellerinnen entgegen gehalten werden.
Auch auf die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in Griechenland kann die Familie ebenfalls nicht verwiesen werden, da die Mutter der Antragstellerinnen sich in Deutschland rechtmäßig aufhält. Ein Aufenthaltsrecht für Griechenland steht ihr, soweit ersichtlich, nicht zu. Ein nationales, nach deutschen Recht bestehendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG berechtigt in Griechenland nicht zum längerfristigen Aufenthalt.
Nach Ansicht des Gerichts ist damit eine Ermessensreduzierung auf Null für einen Nachzug der Antragstellerinnen zu ihrer Mutter gegeben. Jede andere Entscheidung erscheint unter Kindeswohlgesichtspunkten unvertretbar und würde eine nicht vertretene Härte für die Antragstellerinnen bedeuten (vgl. auch VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 32 m.w.N., ähnlich zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO: BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22).
c) Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland zu befürchten ist und die Familieneinheit der Antragstellerinnen mit ihrer Mutter – jedenfalls basierend auf der Dublin III-VO – nicht mehr herbeigeführt werden könnte. Dies ist unzumutbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen. Zudem besteht nach dem Ausgeführten eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben