Europarecht

Aussetzung des Schadensersatzprozesses im Hinblick auf Verfahren vor dem EuG – Lkw-Kartell

Aktenzeichen  29 W 1380/19 Kart

Datum:
9.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
WuW – 2020, 490
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AEUV Art. 101, Art. 263, Art. 267
ZPO § 148, § 252
GWB § 33 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Die Verhandlung ist bis zum rechtskräftigen Abschluss der beim EuG  (Aktenzeichen T-799/17) anhängigen Nichtigkeitsklage auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits vom Bestand der mit der Nichtigkeitsklage angegriffenen Kommissionsentscheidung betreffend die Beteiligung am Lkw-Kartell abhängig ist. (Rn. 10 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein kartellbedingter Schadensersatzanspruch kann auch dann bestehen, wenn die Erwerbsvorgänge auf vertraglichen Beziehungen zu einem Kartellaußenseiter beruhen (Schaden durch “umbrella pricing”); im Hinblick auf die Plausibilität der Schadensentstehung erfordert ein Erwerbsvorgang von einem Kartellanten aber andere Feststellungen als im Falle eines Schadens durch “umbrella pricing”, so dass die Frage der Kartellbeteiligung entscheidungserheblich und damit vorgreiflich ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

37 O 10015/19 2019-09-23 Bes LGMUENCHENI LG München I

Tenor

Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 23.09.2019 wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche vor dem Landgericht München I gegen die Beklagten aufgrund deren Beteiligung am sog. Lkw-Kartell (ursprüngliches Aktenzeichen 37 O 18935/17) geltend. Streitgegenständlich sind insgesamt 1.695 Lkw-Beschaffungsvorgänge, darunter fünf Fahrzeuge aus der Produktion des S.-Konzerns. Die Beklagten haben gegen den wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV ergangenen Bußgeldbescheid der EU-Kommission vom 19.07.2016 (Az. AT.39824-LKW) keine Nichtigkeitsklage erhoben.
Die EU-Kommission verhängte auch gegen die zum S. Konzern gehörenden Streithelferinnen mit Bescheid vom 27.09.2017 (Az. AT.39824-LKW) wegen Beteiligung an dem Lkw-Kartell ein Bußgeld. Die Streithelferinnen haben am 11.12.2017 gegen diesen Bescheid Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV erhoben, die unter dem Aktenzeichen T-799/17 beim Gericht der Europäischen Union anhängig ist.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 12.07.2019 von dem ursprünglichen Verfahren Az. 37 O 18935/17 das hiesige Verfahren, in dem fünf Lkw-Erwerbsvorgänge der Marke S. streitgegenständlich sind, abgetrennt und mit Beschluss vom 23.09.2019 gestützt auf § 148 ZPO die Verhandlung bis zum rechtskräftigen Abschluss der bei dem Gericht der Europäischen Union unter dem Aktenzeichen T-799/17 anhängigen Nichtigkeitsklage ausgesetzt.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Klägerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass jedenfalls im Hinblick auf ihr Hauptbegehren, das ausschließlich auf die adäquatkausale Verursachung mittelbarer Schäden durch die Beklagten und nicht auf eine gesamtschuldnerische Haftung mit den Streithelferinnen gestützt sei (diese werde nur hilfsweise geltend gemacht), eine Vorgreiflichkeit des beim Europäischen Gericht anhängigen Verfahrens nicht in Betracht komme. Für das Hauptbegehren komme es nicht darauf an, ob die Streithelferinnen Kartellaußenseiter oder Kartellanten gewesen seien, denn wenn die Streithelferinnen an den fraglichen Verhaltensweisen nicht beteiligt gewesen sein sollten, hafteten die Beklagten aufgrund eines Preisschirmeffektes für die mittelbar verursachten Schäden und wenn die Streithelferinnen an den fraglichen Verhaltensweisen beteiligt gewesen sein sollten, hafteten die Beklagten für die mittelbar verursachten Schäden aufgrund der gemeinsamen Teilnahme.
Zudem stehe die Beteiligung der Streithelferinnen an den fraglichen Verhaltensweisen fest, weil die Streithelferinnen die tatsächlichen Feststellungen des Kommissionsbescheids mit der Nichtigkeitsklage nicht angegriffen hätten.
Die Klägerin beantragt,
den Aussetzungsbeschluss des Landgerichts München I vom 23. September 2019 – Az. 37 O 10015/19 aufzuheben.
Die Beklagte zu 2) beantragt,
die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde.
Die Streithelferinnen beantragen,
die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 23.09.2019 – Az. 37 O 10015/19 – zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.
Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 06.11.2019 nicht abgeholfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Das Landgericht hat das Verfahren zu Recht wegen Vorgreiflichkeit des beim Europäischen Gericht anhängigen Verfahren T- 799/17 gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.
1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 252 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere fehlt es entgegen der Auffassung der Streithelferinnen nicht an der für die Zulässigkeit der Beschwerde notwendigen Beschwer der Klägerin. Auch wenn sich die Aussetzung nur auf fünf der insgesamt 1.695 geltend gemachten Erwerbsvorgänge bezieht, kann die Klägerin durch die Aussetzung und die dadurch bedingte Verzögerung, z. B. durch eintretende Beweisschwierigkeiten, finanzielle Nachteile, erleiden.
2. Die sofortige Beschwerde ist nicht begründet, da die Entscheidung des Rechtsstreits – auch im Hinblick auf das Hauptsachebegehren der Klägerin – von dem Bestand der Kommissionentscheidung vom 27.09.2017, die die Streithelferinnen mit ihrer Nichtigkeitsklage angegriffen haben, abhängt.
a) Zwar kann ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten im Hinblick auf die streitgegenständlichen Erwerbsvorgänge auch bestehen, wenn die Streithelferinnen Kartellaußenseiter waren, denn die volle Wirksamkeit von Art. 101 AEUV wäre in Frage gestellt, wenn das jedem zustehende Recht, Ersatz des ihm entstandenen Schadens zu verlangen, nach dem nationalen Recht kategorisch und unabhängig von den speziellen Umständen des konkreten Falls vom Vorliegen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs abhängig gemacht würde und auf Grund der Tatsache ausgeschlossen wäre, dass der Betroffene vertragliche Beziehungen nicht zu einem Kartellbeteiligten, sondern zu einem Kartellaußenseiter hatte, auch wenn dessen Preispolitik eine Folge des Kartells ist, das zu einer Verfälschung der auf wettbewerbsorientierten Märkten herrschenden Preisgestaltungsprozesse beigetragen hat. Daher kann ein durch das „umbrella pricing“ Geschädigter den Ersatz des ihm durch die Mitglieder eines Kartells entstandenen Schadens verlangen, obwohl er keine vertraglichen Beziehungen zu ihnen hatte, wenn erwiesen ist, dass dieses Kartell nach den Umständen des konkreten Falls und insbesondere den Besonderheiten des betreffenden Marktes ein „umbrella pricing“ durch eigenständig handelnde Dritte zur Folge haben konnte, und wenn diese Umstände und Besonderheiten den Kartellbeteiligten nicht verborgen bleiben konnten (EuGH GRUR 2014, 1018 Rn. 33f – KONE u.a.). Da aber ein solcher auf „umbrella pricing“ gestützter Schadensersatzanspruch, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, im Hinblick auf die Plausibilität der Schadensentstehung andere Feststellungen erfordert als bei einem Erwerbsvorgang von einem Kartellanten, bei dem es nicht darauf ankommt, ob das Kartell zu Preiserhöhungen beim Erwerb von nicht am Kartell beteiligten Personen geführt haben kann, ist es entscheidungserheblich, ob die Streithelferinnen Kartellanten oder Kartellaußenseiter waren.
b) Entgegen der Auffassung der Klägerin fehlt es an der Vorgreiflichkeit der Entscheidung des Europäischen Gerichts auch nicht deshalb, weil die Streithelferinnen die tatsächlichen Feststellungen des Bescheids der Kommission vom 27.09.2017 nicht angegriffen haben, sondern die Rügen sich auf formale Fehler, die Bußgeldhöhe, die Beweiswürdigung und die rechtliche Bewertung beschränken. Derzeit ist das Gericht an die tatsächlichen Feststellungen und die rechtliche Bewertung als Verstoß gegen EU-Kartellrecht im Kommissionsbescheid gemäß § 33 Abs. 4 GWB gebunden (vgl. Lübbig in Münchener Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl., § 33 Rn. 108). Es darf gemäß Art. 16 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 keine Entscheidung treffen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderläuft. Diese Bindungswirkung entfällt jedoch, wenn der Bußgeldbescheid – sei es aus formalen oder sonstigen Gründen – aufgrund der Nichtigkeitsklage seine Gültigkeit verliert. Es wäre dann im hiesigen Verfahren festzustellen, ob die Streithelferinnen an dem Lkw-Kartell beteiligt waren, so dass eine Vorgreiflichkeit unabhängig von den geltend gemachten Nichtigkeitsgründen gegeben ist.
c) Da die Entscheidung des Landgerichts somit von der Gültigkeit der Entscheidung der Kommission abhängt, folgt aus der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit, dass dieses, um nicht eine der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufende Entscheidung zu erlassen, das Verfahren aussetzen sollte, bis die Gemeinschaftsgerichte eine endgültige Entscheidung über die Nichtigkeitsklage erlassen haben, es sei denn, es hält es unter den gegebenen Umständen für gerechtfertigt, dem EuGH eine Vorabentscheidungsfrage nach der Gültigkeit der Entscheidung der Kommission vorzulegen (vgl. EuGH NJW 2001, 1265 Rn. 57 – Masterfoods).
Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht sein Ermessen hinsichtlich der Aussetzung des Verfahrens fehlerhaft ausgeübt hat, sind nicht ersichtlich. Es ist der angegriffenen Entscheidung zu entnehmen, dass das Landgericht nicht davon ausgegangen ist, zur sofortigen Aussetzung verpflichtet zu sein (vgl. S. 7, 8 des Beschlusses vom 23.09.2019). Es hat vielmehr sein Ermessen dahingehend ausgeübt, dass in Anbetracht des Umstandes, dass nur fünf von 1.695 Lkw betroffen sind und zu vier von diesen noch nicht einmal Unterlagen zum Nachweis des Erwerbs vorgelegt wurden, die der Klägerin drohenden Nachteile im Interesse der Einheit der nationalen und europäischen Rechtsordnung hinzunehmen sind. Dass im vorliegenden Fall, in dem der ausgesetzte Teil im Verhältnis zum Gesamtstreit wirtschaftlich nur eine völlig untergeordnete Rolle spielt, der unionsrechtliche Grundsatz effektiver Kartellrechtsdurchsetzung eine Verfahrensfortführung gebietet, ist fernliegend.
III.
Die Rechtsbeschwerde war nicht gemäß § 574 Abs. 1, Abs. 2 ZPO zuzulassen. Weder liegt eine Divergenz vor, noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung. Eine überragende Bedeutung im Hinblick auf die effektive Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen vermag der Senat in Anbetracht der wirtschaftlich geringen Bedeutung des ausgesetzten Teils im Verhältnis zum Gesamtverfahren nicht zu erkennen.
IV.
Die von der Klägerin begehrte Vorlage an den EuGH gemäß § 267 AEUV im Hinblick darauf, ob die Aussetzung des Verfahrens gegen Art. 101 AEUV verstößt, wenn die Frage, ob die Streithelferinnen Kartellverstöße verwirklicht haben, nur für das Hilfsbegehren relevant werden kann, kam schon deshalb nicht in Betracht, weil die Entscheidung des beim Europäischen Gericht anhängigen Verfahrens nicht nur für das Hilfsbegehren, sondern auch für das Hauptbegehren der Klägerin von Relevanz ist.
V. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da der Beschluss des Landgerichts als Teil der Hauptsache keine Kostenentscheidung enthalten durfte und das Beschwerdeverfahren daher nur einen Bestandteil des Hauptsacheverfahrens darstellt (vgl. BGH NJW-RR 2006, 1289). Auch eine Festsetzung des Streitwerts des Beschwerdeverfahrens war im Hinblick auf GKG KV Nr. 1812 gemäß § 33 Abs. 1, Abs. 2 RVG nicht vorzunehmen.


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