Europarecht

Dieselskandal – Sittenwidrige Schädigung durch Thermofenster

Aktenzeichen  9 U 2891/20

Datum:
27.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 47478
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 826

 

Leitsatz

1. Auch wenn ein sogenanntes „Thermofenster“ unter eine Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 der Verordnung (EG) zu subsumieren sein mag (so OLG Stuttgart vom 24.03.2020 – 16 AU 75/19, BeckRS 2020, 5655 Rn. 18), sofern nicht die ausdrücklich normierten Ausnahmetatbestände des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 greifen, so ist damit nicht die Frage beantwortet, ob in der Verwendung der Technik eine sittenwidrige Schädigung des Fahrzeugerwerbers zu sehen ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Senat teilt nicht die Auffassung des OLG Stuttgart, zunächst die genaue technische Ausgestaltung zu ergründen und erst anschließend die möglicherweise Sittenwidrigkeit zu beurteilen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

41 O 5858/19 2020-04-29 LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I. Die Berufung des Klägers vom 30.04.2020 gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 29.04.2020, Az.: 41 O 5858/19, wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das in Ziffer I. genannte Endurteil des Landgerichts München I ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 27.400,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche, gestützt auf die Behauptung, der vom Kläger erworbene BMW Typ 320 D sei vom sogenannten Abgasskandal betroffen.
Hinsichtlich der weiteren Feststellungen wird Bezug genommen auf den Tatbestand des angefochtenen Endurteils des Landgerichts München I vom 29.04.2020, Az.: 41 O 5858/19, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Mit Endurteil vom genannten Tag wies das Erstgericht die Klage ab. Tragend stellte es dabei darauf ab, dass jedenfalls der für § 826 BGB bzw. § 263 StGB erforderliche Vorsatz nicht festgestellt werden könne.
Gegen dieses dem anwaltlichen Vertreter des Klägers unter dem 30.04.2020 zugestellte Urteil legte derselbe mit Schriftsatz vom 30.04.2020, beim Oberlandesgericht München eingegangen am gleichen Tag, Berufung ein und begründete diese gleichzeitig (Bl. 82/102 d.A.). Er argumentiert, durch die verbaute Motorelektronik würde bei Temperaturen unterhalb von 10 Grad Celsius die Emmissionskontrolle so beeinflusst, dass die Vorgaben der Verordnung (EG) 715/2007 nicht mehr erfüllt würden. Ferner würde bei Erreichen einer Motordrehzahl von 2500 Umdrehungen pro Minute die Abgasreinigung heruntergeregelt, um sie bei 3500 Umdrehungen pro Minute endgültig abzuschalten. Im Neuen Europäischen Fahrzyklus würden weder die genannten Temperaturen noch die genannten Drehzahlen erreicht. Das Erstgericht habe das rechtliche Gehör des Klägers verletzt. Auch verkenne es die Rechtsnatur der Verordnung (EG) 715/2007 als bindendes Recht.
Der Kläger beantragt zuletzt unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts München I, Az.: 41 O 5858/19 vom 29.04.2020, zugestellt am 30.04.2020 zu erkennen wie folgt:
„1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 27.400,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Kaufdatum 08.04.2013 zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke BMW mit der Fahrgestellnummer …279 und Zug-um-Zug gegen Zahlung einer Nutzungsentschädigung für Nutzungen des Pkw in Höhe von 15.608,78 €,
2. die Beklagte zu verurteilen, die Klagepartei von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten auf Grundlage einer 1,3 Gebühr freizustellen,
hilfsweise
3. die Beklagte zu verurteilen, einen Schadensersatz in Höhe von mindestens 8.220,00 € an die Klagepartei zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.07.2013,
4. festzustellen, dass die Beklagte mit der Rücknahme des im Klageantrag Ziffer 1 genannten Fahrzeugs in Verzug ist.“
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Mit Beschluss vom 24.06.2020 (Bl. 146/150 d.A.) hat der Senat darauf hingewiesen, dass er beabsichtigt, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Hierauf hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16.07.2020 (Bl. 151/152 d.A.), vom 07.08.2020 (Bl. 153/165 d.A.) und vom 10.08.2020 (Bl. 166/167 d.A.) Stellung genommen, die Beklagte mit Schriftsatz vom 10.08.2020 (168 d.A.).
Im Übrigen wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers hat nach einhelliger Überzeugung des Senats in der Sache keine Aussicht auf Erfolg und ist deshalb, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Berufungsgerichts aufgrund mündlicher Verhandlung erfordert, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Zur Begründung wird zunächst gemäß § 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO auf den Hinweis des Senats vom 24.06.2020 (Bl. 146/150 d.A.) Bezug genommen.
Im Hinblick auf die Stellungnahmen des Klägers ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:
Auch wenn ein sogenanntes „Thermofenster“ unter eine Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 der Verordnung (EG) zu subsumieren sein mag (so OLG Stuttgart, Verfügung vom 24.03.2020 – 16 AU 75/19, Rn. 18), sofern nicht die ausdrücklich normierten Ausnahmetatbestände des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 greifen (vgl. BGH, Beschluss vom 08.01.2019 – VIII ZR 225/17, Rn. 11), so ist damit nicht die Frage beantwortet, ob in der Verwendung der Technik eine sittenwidrige Schädigung des Fahrzeugerwerbers zu sehen ist. Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des OLG Stuttgart, zunächst die genaue technische Ausgestaltung zu ergründen und erst anschließend die möglicherweise Sittenwidrigkeit zu beurteilen. Denn jedenfalls wenn es weder zu strafrechtlichen Ermittlungen wegen des konkreten Motortyps gekommen ist, noch zu einer verpflichtenden Rückrufaktion, muss eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden. Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20). Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2016 – VI ZR 536/15; BGH, Urteil vom 07.05.2019 – VI ZR 512/17 Rn. 8). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urteil vom 28.06.2016 – VI ZR 536/15, Rn. 16 m.w.N.). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 07.05.2019 – VI ZR 512/17, Rn. 8; BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rn. 15).
Bei der demnach gebotenen Gesamtbetrachtung ist das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig zu beurteilen.
Dies kann wegen der als nicht unzweifelhaft und nicht eindeutig einzustufenden europarechtlichen Gesetzeslage und dem Expertenstreit über die Zulässigkeit und Größe des Thermofensters nicht ohne nähere Anknüpfungspunkte angenommen werden.
III.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit gründet in §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Streitwertfestsetzung fußt in §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 40, 48 GKG, 3 ff. ZPO.


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