Europarecht

Dringlichkeitsschädlicher Verfügungsantrag nach jahrelanger Kenntnis der Rechtsverletzung

Aktenzeichen  21 O 5470/21

Datum:
14.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
GRUR-RS – 2021, 36725
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 563 Abs. 2, § 935
RL 2004/48/EG Art. 9 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung wegen Patentverletzung ist nicht dringlich, wenn der Patentinhaber seit mehreren Jahren davon ausgeht, dass die betroffenen Produkte von der technischen Lehre des Verfügungspatents Gebrauch machen, ohne dass er konkrete Schritte zur gerichtlichen Rechtsdurchsetzung ergriffen hat.   (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einem Patentinhaber ist es auch vor der (erstinstanzlichen) Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungspatentes im Nichtigkeitsverfahren möglich, im Rahmen des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung den Rechtsbestand des Verfügungspatents darzutun und glaubhaft zu machen; bei der Entscheidung des BPatG im Nichtigkeitsverfahren handelt es sich im Hinblick auf die Darlegung des Rechtsbestands im Verfügungsverfahren nicht um eine bestandsrelevante Tatsache, sondern lediglich um die rechtliche Einschätzung auf Grundlage der bestandsrelevanten Tatsachen.  (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die beschränkte Aufrechterhaltung eines Verfügungspatents kann eine zuvor auf Grund zögerlichen Verhaltens bei der Rechtsdurchsetzung widerlegte Dringlichkeit nicht wieder aufleben lassen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4. Nach Auffassung der Europäschen Kommission ist das von der Rechtsprechung des OLG München aufgestellte Erfordernis eines „hinreichend gesicherten Rechtsbestands“ der Systematik der Durchsetzungsrichtlinie fremd. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 24.04.2021 wird zurückgewiesen.
2. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Verfügungsklägerin kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

II.
Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung war auch nach nochmaliger Prüfung zurückzuweisen. Es bleibt dabei, dass bereits der Verfügungsgrund nicht gegeben ist. Dabei kann die Kammer die Frage offen lassen, ob und inwieweit eine Bindung an die Beurteilung des Beschwerdegerichts gemäß § 563 Abs. 2 ZPO (analog) besteht.
Nach dem insoweit seitens der Verfügungsklägerin unwidersprochen gebliebenen Sachvortrag der Verfügungsbeklagten liegt unabhängig von der ab dem Jahr 2020 bestehenden Kenntnis von der behaupteten Verletzungshandlung und der insoweit verantwortlichen Verfügungsbeklagten ein sonstiges, ohne sachlichen Grund erfolgtes zögerliches Verhalten auf Seiten der Verfügungsbeklagten vor, das den für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Verfügungsgrund nach dem Dafürhalten der Kammer im Ergebnis ausschließt (nachfolgend Ziff. 1). Auch unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung kann der für den Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung notwendige Verfügungsgrund nicht bejaht werden (nachfolgend Ziff. 2).
Ungeachtet dessen hält die Kammer an ihrer Rechtsansicht und damit der Begründung des Zurückweisungsbeschlusses vom 28.04.2021 fest, wonach der Grundsatz des Erfordernisses einer positiven Rechtsbestandsentscheidung zur Bejahung der Dringlichkeit nicht mit Art. 9 Abs. 1 der RL 2004/48/EG vereinbar ist (LG München I GRUR 2021, 466); diese Ansicht wird uneingeschränkt auch von der Europäischen Kommission geteilt (nachfolgend Ziff. 3).
1. Eine Dringlichkeit ist nach den Grundsätzen der Selbstwiderlegung zu verneinen.
a) In rechtlicher Hinsicht gilt insoweit folgender Maßstab: Ungeachtet der Frage des hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents und des insoweit relevanten Prüfungsmaßstabes fehlt ein Verfügungsgrund immer dann, wenn der Antragsteller die Annahme der Dringlichkeit durch sein eigenes Verhalten ausgeschlossen hat, insbesondere weil er nach Eintritt der Gefährdung seines Rechts lange Zeit mit einem Antrag zugewartet oder das Verfügungsverfahren nicht zügig betrieben hat (vgl. OLG München, Urt. v. 22.04.2021, Az. 6 U 6968/20, GRUR-RR 2021, 297, 289 – Cinacalcet; Urt. v. 30.06.2016, Az. 6 U 531/16, GRUR-RR 2016, 499, 505; Beschluss vom 24.08.2018, Az. 18 W 1294/18, NJW 2018, 3115, 3118 Rn. 54; KG, Urt. v. 09.02.2001, Az. 5 U 9667/00, NJW 2001, 1201, 1202; Mayer in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 41. Edition, Stand: 01.07.2021, § 935 ZPO, Rn. 16). Dringlichkeitsschädlich ist eine späte Antragstellung immer dann, wenn einem Gläubiger die Gefährdung seiner Rechtsstellung bekannt war oder aus grober Fahrlässigkeit unbekannt blieb. Hat der Verfügungskläger gleichartige Verstöße in der Vergangenheit hingenommen, ist die Dringlichkeit grundsätzlich zu verneinen, es sei denn, Art oder Umfang der Verstöße ändern sich wesentlich und die neuen Verletzungshandlungen wiegen für den Antragsteller schwerer als die bisherigen (Mayer in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 41. Edition, Stand: 01.07.2021, § 935 ZPO, Rn. 17 f. m.w.N.). Maßgeblich ist insoweit stets, ob die Verfügungsklägerin das Ihrige getan hat, um ihre Verbietungsrechte zügig durchzusetzen, also ob sie ihre Rechtsverfolgung in einer Weise vorantreibt, die die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens erkennen lässt und es deswegen objektiv rechtfertigt, ihr Zugang zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu gewähren. Dabei ist nicht von Belang, ob jede Aufklärungs- und Verfolgungsmaßnahme für sich betrachtet gegebenenfalls auch zügiger hätte absolviert werden können. Entscheidend ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung, aufgrund der unter Berücksichtigung der Gesamtumstände festgestellt werden kann, dass der Antragsteller im Rahmen der Ermittlung des Verletzungssachverhalts nicht die gebotene Eile und Zielstrebigkeit an den Tag gelegt hat, um den Schluss zu rechtfertigen, dass sie auf die Durchsetzung ihres Rechtsschutzziels in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren angewiesen ist (OLG München, Urt. v. 22.04.2021, Az. 6 U 6968/20, GRUR-RR 2021, 297, 298, Rn. 49 f. – Cinacalcet m.w.N.).
b) Diese Maßstäbe zu Grunde gelegt, kann eine Dringlichkeit nach der Überzeugung der Kammer im vorliegenden Fall schlechterdings nicht angenommen werden. Wie das unter dem Datum vom 16.01.2014 (möglicherweise tatsächlich vom 16.01.2015 stammende) Schreiben der Unternehmensgruppe der Verfügungsklägerin an die Muttergesellschaft der Verfügungsbeklagten (Anlage K 1 im Verfahren 21 O 6555/20) zeigt, ging man bei der Verfügungsklägerin im Zeitpunkt der Antragstellung seit nunmehr mindestens sechs Jahren (!) davon aus, dass seitens der Verfügungsbeklagten hergestellte und vertriebene Produkte von der technischen Lehre des Verfügungspatents Gebrauch machen. Der verfügungsgegenständliche Unterlassungsanspruch wurde gleichwohl in einem Hauptsacheverfahren erstmals mit der Klage vom 26. Mai 2020 (21 O 6555/20) – also sechs Jahre nach Kenntniserlangung – geltend gemacht; noch später, nämlich im April 2021, wurde der hiesige Verfügungsantrag gestellt. Gründe, die die Verfügungsklägerin an einer frühzeitigen Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs gehindert haben könnten, sind weiterhin nicht ersichtlich. Die Verfügungsklägerin hat die erforderlichen Schritte zur Rechtsverfolgung und -durchsetzung ganz offensichtlich nicht „mit der gebotenen Zielstrebigkeit“ (vgl. OLG München a.a.O. Rn. 52 – Cinacalcet) unternommen. Angesichts dieses auch vom OLG München zugrundegelegten Maßstabs der zügigen Rechtsdurchsetzung auf der Antragstellerseite (OLG München a.a.O. Rn. 53 – Cinacalcet) ist nicht verständlich, weshalb einerseits der zeitliche Verzug von einigen Wochen in einem Testlabor, in dem im Auftrag einer Patentinhaberin die Frage der Zusammensetzung des pharmazeutischen Präparats eines Wettbewerbers untersucht wird, dringlichkeitsschädlich sein soll, wenn die Untersuchung nicht mit Nachdruck vorangetrieben wird (OLG München a.a.O. – Cinacalcet), während – wie hier – eine mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung viel länger währende Untätigkeit bei der Rechtsdurchsetzung, welche auch das OLG München ausweislich seines Zurückverweisungsbeschlusses (dort unter Ziffer 2.) gesehen hat, offenbar nicht ohne weitere „Feststellungen“ dringlichkeitsschädlich sein soll.
Eine solch zögerliche Rechtsverfolgung ist im Hinblick auf das Verfügungsverfahren ersichtlich dringlichkeitsschädlich: Wird eine seitens des Patentinhabers behauptete Patentverletzung über mehrere Jahre hinweg geduldet, ohne dass konkrete Schritte zur gerichtlichen Rechtsdurchsetzung ergriffen werden, ist eine Dringlichkeit zum Erlass einer einstweiligen Verfügung schlechterdings ausgeschlossen.
Es ist aus Sicht der Kammer zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nachvollziehbar und legitim, dass die Verfügungsklägerin als Patentverwertungsgesellschaft zunächst den Markt mit Blick auf mögliche patentverletzende Produkte analysiert und sodann die aus ihrer Sicht erfolgversprechendste Strategie wählt, um die zu ihrem Patentportfolio zählenden Schutzrechte zu monetarisieren. Lässt die entsprechend durchgeführte Marktanalyse indes – wie hier – erkennen, dass einen bestimmten Technologiestandard implementierende Produkte eines bestimmten Unternehmens bereits Jahre vor der eigentlichen Rechtsdurchsetzung als patentverletzend identifiziert wurden, so begibt sich der Patentinhaber der Möglichkeit, seine Rechte gegenüber diesem mutmaßlichen Patentverletzer im Wege einer einstweiligen Verfügung durchzusetzen. Dies gilt ungeachtet dessen, ob das Verfügungspatent eine für den fraglichen Technologiestandard zwingende oder optionale technische Lehre beansprucht. Denn jedenfalls besteht ab dem Zeitpunkt, ab dem der Patentinhaber Kenntnis davon erlangt, dass ein bestimmtes Unternehmen den fraglichen Technologiestandard implementierende Produkte anbietet, ein konkreter Anlass, die Frage der Implementierung der fraglichen, standardrelevanten technischen Lehre des Streitpatents in den von dem mutmaßlichen Verletzer vertriebenen, standardkonformen Produkten zu prüfen. Zu einer entsprechenden Überprüfung hat die Verfügungsklägerin indes nichts vorgetragen. Vielmehr beschränkte sie ihren Vortrag bis zuletzt darauf, berechtigt gewesen zu sein, das Ergebnis einer kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung abzuwarten. Ein solches Verhalten der Verfügungsklägerin lässt ein Interesse an einer zeitnahen Durchsetzung ihrer Rechtsposition mit Hilfe eines Unterlassungsanspruchs aber nicht im Ansatz erkennen.
Da die Verfügungsklägerin trotz der relevanten Kenntnisse zu einer aus ihrer Sicht bestehenden Verletzung jahrelang keinerlei Schritte zur gerichtlichen Durchsetzung des Unterlassungsanspruches ergriffen hat, ist die Dringlichkeit nach der Rechtsauffassung der Kammer unabhängig von der vom OLG für relevant erachteten Frage, ob es der Verfügungsklägerin vor der Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren möglich war, den (beschränkten) Rechtsbestand des Verfügungspatents darzutun und glaubhaft zu machen, zu verneinen. Ungeachtet dessen, dass die Frage des Rechtsbestands vorliegend keiner Antwort bedarf, erschließt sich der Kammer nicht, weshalb es nicht möglich gewesen sein soll, eben die Tatsachen, welche der Entscheidung des BPatG im Nichtigkeitsverfahren zugrundeliegen (also die für den Rechtsbestand relevanten Tatsachen), aufgrund derer das BPatG also den (beschränkten) Rechtsbestand begründet hat und welche allesamt bereits im Erteilungszeitpunkt bekannt waren (Ereignisse nach dem Erteilungszeitpunkt sind für die Rechtsbestandsfrage naturgemäß nicht relevant), vordem im Rahmen eines Verfügungsantrags darzutun und glaubhaft zu machen. Wie gesagt: Sämtliche Tatsachen, welche zur Entscheidung des BPatG geführt haben, müssen bereits im Erteilungszeitpunkt bekannt gewesen sein und hätten daher in einem Verfügungsverfahren ohne weiteres dargelegt und glaubhaft gemacht werden können. Was vor der Entscheidung des BPatG nicht bekannt war, ist lediglich, wie das BPatG entscheiden würde. Dabei handelt es sich aber – gedanklich sauber zu trennen – nicht um eine bestandsrelevante Tatsache, sondern lediglich die rechtliche Einschätzung des Bestandsgerichts aufgrund der bestandsrelevanten Tatsachen. Die erstinstanzliche Entscheidung im Bestandsverfahren selbst kann schon insofern keine bestandsrelevante Tatsache sein, da diese im Entscheidungszeitpunkt der Rechtskraft ermangelt und mit ihr daher nur die Einschätzung eines Instanzgerichts zum Rechtsbestand dargetan werden kann, nicht aber der Bestand selbst.
2. Ein Verfügungsgrund kann überdies auch unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Interessenabwägung nicht bejaht werden:
a) Der Verfügungsklägerin bleibt es unbenommen, die nach ihrem Dafürhalten gegebene Verletzung des Verfügungspatents im Rahmen des vor der Kammer anhängigen Hauptsacheverfahrens zu verfolgen. Dabei berücksichtigt die Kammer auch, dass das Verfügungspatent am 14.11.2021 ausläuft. Ob eine Dringlichkeit unter dem Gesichtspunkt der alsbald auslaufenden Schutzdauer des in Rede stehenden Verfügungspatents bejaht werden kann, ist eine Frage des Einzelfalles und entzieht sich einer pauschalen Beantwortung. In wie vorliegenden Fallkonstellationen geht die Kammer davon aus, dass die alsbald auslaufende Schutzdauer eine Dringlichkeit im Ergebnis gerade nicht begründen kann. Denn anderenfalls würde ein zuvor zögerliches Verhalten letztlich privilegiert, wenn eine an sich gegebene Selbstwiderlegung der Dringlichkeit dadurch wiederum in Frage gestellt und ihrerseits widerlegt werden könnte, dass gerade besonders weitreichende Verzögerungen bis hin zu einer unmittelbaren zeitlichen Nähe zum Datum des Ablaufs der Schutzdauer des Streitpatents erfolgen.
b) Nichts anderes gilt unter Berücksichtigung der mit Urteil vom 24.03.2021 erfolgten, beschränkten Aufrechterhaltung des Verfügungspatents. Die spätere, noch dazu beschränkte Aufrechterhaltung eines Verfügungspatents kann eine zuvor auf Grund zögerlichen Verhaltens bei der Rechtsdurchsetzung widerlegte Dringlichkeit nicht wieder aufleben lassen. Entscheidend ist insoweit, dass der Verfügungsklägerin bereits seit mehreren Jahren bewusst war, dass seitens der Verfügungsbeklagten Produkte hergestellt und vertrieben werden, welche aus ihrer Sicht von dem streitgegenständlichen WiFi-Standard Gebrauch machen. Dazu kommt, dass es sich bei dem Patent in seiner mit Urteil vom 24.03.2021 aufrechterhaltenen Fassung schon mit Blick auf das Verbot der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 123 Abs. 2 EPÜ nicht um ein Aliud, sondern um ein wesensgleiches Minus gegenüber dem Verfügungspatent in seiner ursprünglich erteilten Fassung handelt. Ist aber eine Selbstwiderlegung infolge zögerlichen Handelns bereits mit Blick auf die weit gefasste und damit auf Grund der weitreichenderen Verbietungswirkung an sich wirtschaftlich wertvollere Fassung des Patents anzunehmen, kann für das Patent in seiner letztlich eingeschränkten Fassung nichts anderes gelten.
c) Dazu kommt, dass die Verfügungsklägerin ihr eigentliches wirtschaftliches Interesse an einer Monetarisierung ihres Patentportfolios auch über die im Wege der Hauptsacheklage geltend gemachten Auskunfts- und Schadensersatzansprüche durchsetzen kann. Dies gilt umso mehr, als in dem vor der Kammer parallel anhängigen Hauptsacheverfahren für den 17.09.2021 und damit in unmittelbarer zeitlicher Nähe der Termin zur mündlichen Verhandlung angesetzt ist (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 08.07.2009, Az. 6 U 61/09, juris, Rn. 66). Auch mit Blick auf die gebotene Interessenabwägung verbietet sich im vorliegenden Fall daher die Annahme der für den Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung notwendigen Dringlichkeit.
3. Im Übrigen bleibt es dabei, dass sich die Verfügungsklägerin nicht mit Erfolg darauf berufen kann, eine Entscheidung im Rechtsbestandsverfahren abwarten zu dürfen, um die Dringlichkeitsfrist zu wahren. Für den Lauf der Dringlichkeitsfrist ist auf einen Zeitpunkt deutlich vor der Entscheidung des Bundespatentgerichts abzustellen, so dass die Dringlichkeitsfrist am Tage der Einreichung des Verfügungsantrages längst verstrichen war. Diese von der Kammer vertretene Rechtsansicht zur Frage der Relevanz einer Bestandsentscheidung für das Verfügungsverfahren (siehe GRUR 2021, 466) wird auch von der Europäischen Kommission geteilt. In ihrer Stellungnahme im Rahmen des Verfahrens C-44/21 führt die Kommission aus:
„Nach Auffassung der Kommission ist … das von der OLGM-Rechtsprechung (OLGM = OLG München) aufgestellte Erfordernis eines „hinreichend gesicherten Rechtsbestands“ der Systematik der DurchsetzungsRL fremd.
DurchsetzungsRL, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Entgegen der Bestimmung des Art. 9 Abs. 1 der DurchsetzungsRL ist die Möglichkeit der Anordnung einstweiliger Maßnahmen nicht sichergestellt, wenn diese pauschal mit der Begründung verweigert werden, dass bislang kein erstinstanzliches kontradiktorisches Einspruchsoder Nichtigkeitsverfahren stattgefunden hat. Ein solches Erfordernis, welches praktisch eine zusätzlichen Bedingung für die Gewährung einstweiliger Maßnahmen darstellt, ist Art. 9 Abs. 1 der DurchsetzungsRL nicht zu entnehmen. Der Unionsgesetzgeber hat vielmehr den zuständigen nationalen Gerichten die Möglichkeit eingeräumt, in den in Art. 9 DurchsetzungsRL vorgesehenen Fällen einstweilige Maßnahmen nach Einschätzung der besonderen Umstände des Einzelfalles zu erlassen (nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a DurchsetzungsRL: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte die Möglichkeit haben.“). Ferner erklärt Erwägungsgrund 17 der „..
Rechtsbehelfe sollten in jedem Einzelfall so bestimmt werden, dass den spezifischen Merkmalen dieses Falles […] gebührend Rechnung getragen wird“. Diese Ermächtigung der zuständigen Gerichte zur Prüfung im Einzelfall und gegebenenfalls Anordnung von einstweiligen Rechtsschutz würde durch die Auferlegung einer zusätzlichen Bedingung für die Gewährung einstweiliger Maßnahmen ins Leere laufen und ineffektiv bleiben.
Zudem würde die praktische Einführung eines zusätzlichen Schutzverweigerungsgrundes das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel vereiteln, ein hohes Schutzniveau für geistiges Eigentum im Binnenmarkt zu gewährleisten. Die Einführung einer zusätzlichen Bedingung für die Gewährung einstweiliger Maßnahmen würden – entgegen der Maßgabe des Art. 2 Abs. 1 der DurchsetzungsRL – ein niedrigeres Schutzniveau zur Folge haben und dementsprechend die Rechtsinhaber schlechter stellen.
Es ist mit der DurchsetzungsRL ein Mindeststandard für die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums festgeschrieben: die Mitgliedstaaten sind damit grundsätzlich daran gehindert, diesen Mindeststandard zu unterschreiten. Selbst wenn die OLGM-Rechtsprechung Ausnahmen von dem – entgegen der sich aus Art. 9 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 der DurchsetzungsRL ergebenden unionsrechtlichen Verpflichtung – aufgestellten Grundsatz der automatisierten Schutzverweigerung zulassen sollte, stellt letzterer dennoch eine Unterschreitung des unionsrechtlich gebotenen hohen Mindestschutzniveaus dar. Der (vorläufige) Rechtsschutz muss nämlich die Regel – nicht eine Ausnahme – darstellen. Die OLGM-Rechtsprechung verkehrt jedoch dieses von der DurchsetzungsRL aufgestellte Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil. Eine solche allgemeine Regelung würde es den nationalen Gerichten weder ermöglichen, alle spezifischen Merkmale des Einzelfalls zu berücksichtigen, noch die Ziele von Artikel 9 zu erreichen und im allgemeineren Sinne das Ziel der DurchsetzugsRL zu erreichen, ein hohes Schutzniveau des geistigen Eigentums sicherzustellen.
Soweit die OLGM-Rechtsprechung darauf abzielt, der Position des Antragsgegners im vorläufigen Rechtsschutz Rechnung zu tragen und der Gefahr entgegenzutreten, dass dem Antragsgegner durch die einstweiligen Maßnahmen Schaden entstehen könnte, ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber diesem Gesichtspunkt bereits Rechnung getragen hat. Der Unionsgesetzgeber hat den vorläufigen Rechtsschutz nämlich mit zwei – sich einander ergänzenden – rechtlichen Instrumenten versehen, welche das für den Antragsgegner bestehende Risiko umfassend mildern und somit abzusichern.
Erstens sieht Art. 9 Abs. 6 der DurchsetzungsRL die Möglichkeit vor, die einstweiligen Maßnahmen an die Stellung einer angemessenen Kaution oder die Leistung einer entsprechenden Sicherheit durch den Antragsteller zu knüpfen, um eine etwaige Entschädigung des Antragsgegners sicherzustellen. Dieses – vorgelagerte -Absicherungsinstrument steht dem zuständigen, mit der Verfügungsbeurteilung befassten Gericht bereits zum Zeitpunkt der Prüfung des Verfügungsantrags zur Verfügung.
Zweitens sieht Art. 9 Abs. 7 der DurchsetzungsRL die Möglichkeit vor, auf Antrag des Antragsgegners anzuordnen, dass der Antragsteller dem Antragsgegner angemessenen Ersatz für den durch diese Maßnahmen entstandenen Schaden zu leisten hat. Dieses – nachgelagerte – Absicherungsinstrument steht dem mit der Substanz der Verletzungs- bzw. Entschädigungsklage befassten (ordentlichen) Gericht zur Verfügung.
Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, stellen diese beiden komplementären Instrumente Sicherheiten dar, welche der Unionsgesetzgeber als Gegenstück zu den von ihm vorgesehenen schnellen und wirksamen einstweiligen Maßnahmen für erforderlich hielt. Sie entsprechen den Sicherheiten, die in der DurchsetzungsRL zugunsten des Antragsgegners im Gegenzug für den Erlass einer einstweiligen Maßnahme, die seine Interessen beeinträchtigt hat, vorgesehen sind.
In diesem Zusammenhang sind nach Art. 3 Abs. 2 der DuchsetzungsRL die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der unter diese Richtlinie fallenden Rechte zu gewährleisten, so anzuwenden, dass sie wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind und so, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird.
Zudem muss Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten und letztlich die nationalen Gerichte, Garantien anzubieten, dass unter anderem die in Art. 9 der DuchsetzungsRL genannten Maßnahmen und Verfahren nicht missbraucht werden. Zu diesem Zweck müssen die zuständigen nationalen Gerichte prüfen, ob der Antragsteller in einer bestimmten Rechtssache diese Maßnahmen und Verfahren nicht missbräuchlich verwendet hat.
Aus der Systematik der Erwägungsgründe 22 und 24, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der DurchsetzungsRL geht hervor, dass der Faktor Zeit für die wirksame Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums von Bedeutung ist.
Die Beendigung der Verletzung muss im Prinzip „unverzüglich“ bzw. schnellstmöglich erfolgen. Dementsprechend sieht das materielle Recht des geistigen Eigentums vor, dass zum Beispiel erteilte Europäischen Patente und eingetragene Unionsmarken mit der „Vermutung der Rechtsgültigkeit“ vom Tag der Veröffentlichung ihrer Erteilung bzw. Eintragung an versehen sind. Mithin genießen diese Rechte von diesem Zeitpunkt an den vollständigen Schutzumfang erga omnes – und zwar auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Hingegen hätte das Erfordernis eines „hinreichend gesicherten Rechtsbestands“ zur Folge, dass die vom Gesetzgeber ausdrücklich an die Eintragung geknüpfte gesetzliche Wirkung der Vermutung der Rechtsgültigkeit eines erteilten Europäischen Patents (aber etwa auch einer eingetragenen Unionsmarke) faktisch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und damit ins Leere laufen würde. In dem Zeitraum zwischen der Eintragung und der Feststellung eines „hinreichend gesicherten Rechtsbestands“ würde dem eingetragenen und in Anspruch genommenen Recht kein einstweiliger Rechtsschutz gewährt. Diese Schutzverweigerung beträfe selbst solche Rechte, die von Gesetzes wegen erst nach einer eingehenden fachlichen Prüfung ihrer Schutzfähigkeit bzw. Rechtsbeständigkeit durch die zuständige Ausstellungsbehörde erteilt bzw. eingetragen würden.
Der von der OLGM-Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz ist außerdem nicht zielführend. Ein Rechtsstreit ist immer risikobehaftet. Selbst ein Erfolg im erstinstanzlichen Rechtsbestandsverfahren kann durch eine anschließende Niederlage in zweiter Instanz jederzeit nachträglich in sein Gegenteil verkehrt werden. Die in Rechtsbestandsverfahren ergangenen Entscheidungen wirken immer inter partes, so dass sie nur eine begrenzte Rechtskraft erlangen. Hingegen bieten diese Entscheidungen keine Garantie bzw. Sicherheit einer absoluten Beständigkeit.“


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