Europarecht

Dublin III-Verfahren (Ungarn)

Aktenzeichen  W 4 K 15.50319

Datum:
16.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1

 

Leitsatz

Weder die mögliche Anwendung von Asylhaft bei Rückkehr im Dublin-Verfahren noch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission begründen derzeit die ernsthafte Befürchtung, dass in Ungarn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber systemische Mängel aufweisen, die einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK begründen können. Nach dem ungarischen Gesetz über die Aufnahme Serbiens als sicheren Drittstaat kann diese gesetzliche Vermutung durch den Asylbewerber widerlegt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist unbegründet.
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 27a AsylG (Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids) als eigenständiger Verwaltungsakt ist eine isolierte Anfechtungsklage statthaft und auch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses zulässig. Denn im Falle der Aufhebung der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist die Beklagte bereits nach § 31 Abs. 2 AsylG von Gesetzes wegen zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet (BayVGH, B.v. 6.3.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 7; B.v. 5.3.2015 – 11 ZB 14.50046 – juris Rn. 11; B.v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071 – juris; U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22; jeweils m. w. N. zur obergerichtlichen Rspr.). Nach Sinn und Zweck des § 27a AsylG und des dahinter stehenden Gebotes, im Interesse der Verfahrensbeschleunigung schnellstmöglich Klarheit über den zuständigen Mitgliedstaat für die Prüfung eines im Geltungsbereich der Dublin-Verordnungen gestellten Asylantrags zu gewinnen (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – juris Rn. 84, 98), ist die Zuständigkeitsprüfung durch das Bundesamt der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur (inhaltlichen) Prüfung des Asylantrags zu unterscheiden (BayVGH, B.v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071 – juris Rn. 6). Eine Verpflichtung des Verwaltungsgerichts, die Sache insoweit spruchreif zu machen, besteht nicht (BayVGH, B.v. 23.1.2015 a. a. O.). Statthaft ist daher die Anfechtungsklage mit dem Ziel, die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig aufzuheben, damit die Beklagte in eigener Zuständigkeit über den Asylantrag (inhaltlich) entscheiden muss. Einer auf ein weitergehendes Ziel gerichteten Verpflichtungsklage fehlte deshalb das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) gegen den Bescheid, welcher eine Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 26 Abs. 1 Dublin III-VO ist, ergibt sich zum einen daraus, dass der Kläger Adressat desselben ist und zum anderen daraus, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorschreibt, dass ein Antragsteller ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung hat.
2. Die Klage ist jedoch in der Sache unbegründet, da der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2015 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Bei Ungarn handelt es sich um einen sicheren Drittstaat i. S. d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG, § 26a Abs. 2 AsylG. Ungarn ist nach Art. 13 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Der Asylantrag ist unzulässig (§ 27a AsylG).
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen in der Klagebegründung führt zu keiner anderen Beurteilung.
a) Die ausnahmsweise Zuständigkeit der Beklagten, insbesondere durch die Begründung eines Selbsteintritts (vgl. Art. 3 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO), ist nicht ersichtlich. Wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn für den Kläger systemische Mängel bzw. Schwachstellen aufweisen, sind nicht gegeben.
Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Asylbewerber nur dann nicht an den nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedsstaat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat aufgrund systemischer Mängel, d. h. regelhaft, so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen kann ein Asylbewerber einer Überstellung im Dublin-Verfahren entgegentreten. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und hat im Einklang damit die Annahme systemischer Mängel an hohe Hürden geknüpft. Im Hinblick auf die Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen kommt es nicht darauf an, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel im Einzelfall zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommen kann (BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – Buchholz 402.25, § 27a AsylVfG Nr. 2; B.v. 15.4.2014 – 10 B 16/14 – Buchholz 402.25, § 27a AsylVfG Nr. 1; B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – NVwZ 2014, 1039 mit Anmerkung Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014, Anm. 3).
Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass in Ungarn systemische Mängel (Schwachstellen) des Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen herrschen. Dies hat die zur Entscheidung berufene Kammer wie auch andere Kammern des Verwaltungsgerichts Würzburg wiederholt so entschieden (vgl. VG Würzburg, B.v. 11.12.2015 – W 4 S 15.50418; B.v. 8.1.2016 – W 4 S 16.50002; B.v. 28.10.2015 – W 4 S 15.50363; B.v. 6.7.2015 – W 6 S 15.50413; B.v. 15.12.2015 – W 4 S 15.50411).
Das Vorbringen des Klägers rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Die Kammer verkennt nicht das Bestehen der in den vorliegenden Berichten dargestellten Missstände, insbesondere bei der Inhaftierungspraxis und den Unterbringungsbedingungen in Ungarn. Diese begründen jedoch für sich keine systemischen Mängel im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
Denn weiterhin ist festzuhalten, dass der UNHCR bislang keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder Aufnahmebedingungen in Ungarn explizit festgestellt und keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen. Das Fehlen einer generellen Empfehlung des UNHCR, von einer Überstellung nach Ungarn abzusehen, kommt besondere Bedeutung zu, weil die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem Drittstaat, der nach den Kriterien der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird, angesichts der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, die bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens zu beachten ist, besonders relevant sind (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C 528/11 – ABl EU 2013 Nr. C 225, 12 – NVwZ-RR 2013, 660).
Anzumerken ist, dass der UNHCR zwar in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 mit Blick auf die Inhaftierungsmöglichkeiten in Ungarn seine tiefe Besorgnis geäußert hat, jedoch sind seitdem mittlerweile über sieben Monate vergangen, ohne dass sich der UNHCR zu einer generellen Empfehlung, etwa wie in Griechenland oder teilweise in Bulgarien durchgerungen hat, obwohl er die Situation in Ungarn kritisch beobachtet (vgl. VG Stade, B.v. 4.11.2015 – 1 B 1749/15 – juris; VG Ansbach, B.v. 29.10.2015 – AN 3 S 15.50473 – juris; siehe auch BayVGH, B.v. 12.6.2015 – 13a ZB 15.50097 – juris; B.v. 27.4.2015 – 14 ZB 13.30076 – juris).
Auch die Europäische Kommission hat in einer Stellungnahme vom 30. Oktober 2015 an das VG Köln ausdrücklich darauf verwiesen, dass der UNHCR derzeit noch keine Empfehlung abgegeben hat, Überstellungen nach Ungarn wegen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen (im Gegensatz wie etwa im Verhältnis zu Griechenland und Bulgarien). Die Europäische Kommission hat zwar weiter auf eine Entscheidung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. September 2015 (RA 2015/18/0113) hingewiesen. Allerdings hat der österreichische Verwaltungsgerichtshof nur deshalb ausgesprochen, dass eine Überstellung nach Ungarn im Dublin-Verfahren vorläufig nicht erfolgen dürfe, weil die Vorinstanz sich im dortigen Verfahren nicht hinreichend auf der Grundlage zeitnaher, die aktuellen Entwicklungen berücksichtigenden Berichte mit der aktuellen Lage in Ungarn auseinandergesetzt, sondern nur auf ältere Erkenntnisse Bezug genommen hatte (vgl. https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Vwgh/JWR_2015180113_20150908L12/JWR_2015180113_20150908L12.html). Die Europäische Kommission hat weiter darauf hingewiesen, dass sie die im Juli und September vorgenommenen Änderungen der nationalen Rechtslage im Bereich des Asylrechts, des Strafrechts und des Rechts der Grenzsicherung, des Polizeirechts und des Rechts zur nationalen Verteidigung mit dem Recht der Union prüft und zu diesem Zweck mit den ungarischen Behörden in direkten Kontakt tritt. Des Weiteren hat die Europäische Kommission mittlerweile auch gegen Ungarn sowie gegenüber weiteren Staaten wegen mangelhafter Umsetzung von EU-Asylrecht acht schon früher eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren verschärft (vgl. EU-Aktuell vom 10.12.2015). Dieses Vorgehen spricht nicht für die Annahme systemischer Mängel, sondern infolge der Kontrolle und des Kontakts seitens der EU-Kommission mit den ungarischen Behörden für eine frühzeitige Prüfung zur Bekämpfung etwaiger Missstände, um dem Aufkommen von systemischen Schwachstellen von vornherein zu begegnen.
Auch und gerade unter Einbeziehung der neuesten Berichte zur tatsächlichen Situation in Ungarn, vor allem im Hinblick auf die mögliche Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern ist festzustellen, dass die dort genannten Missstände nach Überzeugung der Kammer jedenfalls nicht die Qualität systemischer Mängel erreichen. Insbesondere enthält die jüngste Auskunft der Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2016 an das VG Regensburg hinsichtlich der Inhaftierungsbedingungen und -möglichkeiten keine neuen Erkenntnisse. Das Gericht folgt daher nicht der vom Klägerbevollmächtigten teilweise zitierten Rechtsprechung, die das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn nunmehr für gegeben bzw. für überprüfungsbedürftig hält (vgl. so etwa VG Arnsberg, B.v. 4.11.2015 – 6 L 1171/15.A – juris; VG Oldenburg, U.v. 2.11.2015 – 12 A 2572/15 – juris; VG Freiburg, U.v. 13.10.2015 – A 5 K 1862/13 – juris; VG Minden, B.v. 2.10.2015 – 10 L 923/15.A – juris; VG Düsseldorf, GB v. 21.9.2015 – 8 K 5062/15.A – juris; VG Bayreuth, B.v. 18.9.2015 – B 3 S 15.50219 – juris; VG München, U.v. 11.9.2015 – M 23 K 15.50045 – juris; U.v. 26.8.2015 – M 24 K 15.50507 – juris; VG Lüneburg, B.v. 9.9.2015 – 4 B 153/15; VG Magdeburg, B.v. 8.9.2015 – 9 B 713/15 – juris; VG Köln, Ue.v. 8.9.2015 – 18 K 4584/15.A und 18 K 4368/15.A – jeweils juris; VG Potsdam, B.v. 4.9.2015 – 4 L 810/15.A – Asylmagazin 2015, 344; VG Saarland, B.v. 12.8.2015 – 3 L 816/15 – juris). Die Kammer schließt sich vielmehr der gegenteiligen Rechtsauffassung an (vgl. etwa VG Stade, B.v. 4.11.2015 – 1 B 1749/15 – juris; B.v. 15.10.2015 – 1 B 1605/15 – juris; VG Ansbach, B.v. 29.10.2015 – AN 3 S 15.50473 – juris; Be.v. 20.10.2015 – AN 3 S 15.50398 und AN 3 S 15.50425 – jeweils juris; VG Gelsenkirchen, B.v. 22.9.2015 – 9a L 1873/15.A – juris; VG Dresden, B.v. 9.9.2015 – 2 L 719/15.A – juris; VG München, B.v. 28.8.2015 – M 3 S 15.50616 – juris).
Nach der genannten Rechtsprechung, auf die Bezug genommen wird, und unter Berücksichtigung sonstiger Erkenntnisquellen ist – nach Überzeugung des Gerichts aufgrund nochmaliger Prüfung – festzustellen, dass die Inhaftierungsvorschriften in Ungarn und die Anwendung dieser Vorschriften für sich noch keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen von systemischen Mängeln belegen. Die ungarischen Inhaftierungsvorschriften entsprechen im Prinzip den Vorgaben des europäischen Rechts. Konkret ist nicht ersichtlich, dass die ungarische Asylhaftpraxis die Grenzen des europäischen Rechts systematisch überschreitet, selbst wenn Dublin-Rückkehrer regelmäßig, jedoch nicht ausnahmslos, inhaftiert werden, weil und soweit die ungarischen Behörden einen legalen Haftgrund (wie insbesondere Fluchtgefahr) annehmen. Die Inhaftierung ist nicht Folge der Stellung des Asylantrags, sondern ist Folge der Umstände, die das individuelle Verhalten des Asylantragstellers vor und bei der Antragstellung kennzeichnen. Weiterhin ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnissen, dass im Einzelfall auch von einer Asylhaft abgesehen werden kann und auch abgesehen wird, mithin die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls bei einer Haftanordnung berücksichtigt werden. Auch die Dauer der Asylhaft ist nach dem ungarischen System an das Fortbestehen eines Haftgrundes gekoppelt. Des Weiteren ist ein Rechtsschutzsystem in Ungarn gesetzlich installiert. Aus der geringen Erfolgsquote der Rechtsbehelfe in Ungarn kann nicht ohne weiteres gefolgert werden, dass das ungarische Verfahren insoweit die europäischen Asylstandards generell nicht erfüllt. Ebenso wenig kann das Gericht den aktuellen Auskünften entnehmen, dass die Haftbedingungen in Ungarn systemisch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der Dublin-Rückkehrer bewirken, vielmehr werden insbesondere die elementaren Bedürfnisse befriedigt. Sofern in den Berichten auf einzelne Fälle Bezug genommen wird, ist nicht erkennbar, dass diese Fälle unterschiedslos verallgemeinerungsfähig sind. Des Weiteren ist anzumerken, dass sich die ungarische Regierung auftretenden Problemen in der Vergangenheit nicht verschlossen hat, sondern durchaus konstruktiv an Verbesserungen gearbeitet hat und arbeitet.
Die immer wieder ins Feld geführten, auch neueren Inhaftierungsmöglichkeiten in Ungarn führen zur Überzeugung des Gerichts angesichts der tatsächlich in Ungarn bislang praktizierten Inhaftierungen nicht zur Annahme systemischer Mängeln. Denn nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2015 an das VG Magdeburg ist ausdrücklich ausgeführt, dass Asylhaft immer nur nach einer Prüfung im Einzelfall angeordnet wird. Die Wahrscheinlichkeit, in Asylhaft genommen zu werden, ist für Dublin-Rückkehrer gegenüber Neuankömmlingen erhöht. Insofern mag die vorangegangene Ausreise als gewichtiges Indiz dafür gelten, dass sich die Rückkehrer bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens nicht freiwillig in Ungarn zur Verfügung halten werden. Im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2015 wurden in Ungarn 492 Personen in Asylhaft genommen. Dies entspricht 0,7% aller Asylantragsteller. Die Inhaftierungsquote für Dublin-Rückkehrer dürfte laut der Auskunft des Auswärtigen Amtes etwa drei- bis viermal so hoch sein wie bei den andern Asylantragstellern. Derzeit ist Asylhaft nur für allein reisende Männer angeordnet. Es befinden sich derzeit nur ca. 50 Personen in Asylhaft (Kapazitäten für 300 Personen). Die Kapazitäten der Haftanstalten sind nicht ausgeschöpft. Asylhaft wird nach einer Einzelfallprüfung nur angeordnet, wenn keine mildere Maßnahme möglich ist. Asylhaft wird für 72 Stunden angeordnet und kann per Gerichtsbeschluss auf sechs Wochen verlängert werden. Sie darf maximal sechs Monate dauern. Ein Grund für die Asylhaft ist unter anderem ein hohes Fluchtrisiko. Ein Widerspruch gegen die Anordnung ist möglich.
Die jüngste Auskunft der Auswärtigen Amtes an das VG Regensburg vom 27. Januar 2016 enthält hinsichtlich der Inhaftierungspraxis der ungarischen Behörden keine abweichenden Erkenntnisse.
Zur neuen Rechtsentwicklung in Ungarn wird noch ergänzend angemerkt: Soweit systemische Mängel mit Blick auf die Einstufung Serbiens (das sich seinerseits zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet hat) als sicheres Drittland herangezogen wird, ist darauf hinzuweisen, dass allein eine solche Einstufung nicht zu systemischen Mängel führt, weil eine mögliche Überstellung nach Serbien nicht gleichzeitig bedeutet, dass dessen Asyl- und Aufnahmesystem heute nicht mehr den europäischen Mindeststandards genügt. Vielmehr liegen mit Bezug auf die Behandlung von Rückkehrern in Dublin-Verfahren keinerlei auf Tatsachen gestützte Erkenntnisse vor, die Anlass dazu gäben, systemische Mängel für Asylverfahren und in Aufnahmebedingungen anzunehmen. Die verschärften Gesetze dienen primär auch in Ungarn genauso wie in anderen Staaten – wie etwa auch in der Bundesrepublik Deutschland – dazu, dem ungehinderten Zustrom von Flüchtlingen Herr zu werden. Die ungarische Regierung ist bemüht, den Vorschriften der Dublin-Verordnung Rechnung zu tragen und für eine geregelte Einreise und Registrierung der Flüchtlinge zu sorgen (vgl. VG Stade, B.v. 4.11.2015 – 1 B 1749/15 – juris; VG Ansbach, B.v. 29.10.2015 – AN 3 S 15.50473 – juris).
Hinzu kommt, dass laut einem Rechtsgutachten über das ungarische Asylrecht durch das Institut für Ostrecht, München, vom 2. Oktober 2015 an das VG Düsseldorf im Gesetz über die Aufnahme Serbiens als sicheren Drittstaat insoweit eine gesetzliche Vermutung aufgenommen ist, die der Asylbewerber jedoch widerlegen kann, indem er nachweist, dass in seinem konkreten Fall der Drittstaat nicht sicher war, weil er dort keinen dem ungarischen Asyl adäquaten Schutz erhalten konnte. Das Gesetz dient dazu, Asylmissbrauch dadurch zu verhindern, dass es die Möglichkeit für die Behörden schafft, nicht nur zu überprüfen, was das Herkunftsland des Asylantragstellers ist, sondern auch, durch welches Transitland er gereist war. Die Liste der sicheren Drittstaaten stellt dafür in Bezug auf die Länder, die den allgemeinen Voraussetzungen entsprechen, nur eine Vermutung auf, aufgrund derer sich die Beweislast umgekehrt. Der Antragsteller muss glaubhaft machen, dass das Transitland für ihn nicht sicher ist, weil dort z. B. die Möglichkeit einen Asylantrag einzureichen oder Flüchtlingsstatus zu erwerben, nicht gewährleistet ist. Die Vermutung kann – auf den konkreten Fall des Klägers bezogen – sowohl durch den Kläger als auch durch das Gericht überprüft und widerlegt werden.
Zusammenfassend ist auch unter Berücksichtigung der vorliegenden neuen Erkenntnisse festzuhalten, dass – solange keine systemischen Mängel in Ungarn nach Überzeugung des Gerichts belegt sind – weiterhin davon auszugehen ist, dass auch für Ungarn die Vermutung besteht, dass Asylsuchende – abgesehen von Ausnahmen in Einzelfällen – in Einklang mit den Vorgaben der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention behandelt werden. Selbst wenn dem Kläger bei einer Rückkehr nach Ungarn gemäß den dortigen Vorschriften eine Inhaftierung zeitweilig drohen sollte, reicht dies nicht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts aus, die auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens gründende Vermutung zu widerlegen, dass die jeweiligen Mitgliedsstaaten (hier Ungarn) die geltenden rechtlichen Vorgaben einhalten.
b) Weiter sind in der Person des Klägers keine Gründe ersichtlich, die den streitgegenständlichen Bescheid rechtswidrig machen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Dublin-Rückkehrer aus Deutschland nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. September 2015 an das VG Magdeburg über den Flughafen überstellt werden. In Budapest erfolgt eine Überprüfung des Sachverhalts inklusive einer ersten Rückkehrerbefragung. Die Dublin-Rückkehrer werden darüber immer informiert, dass sie nach Überstellung automatisch als Asylbewerber in Ungarn behandelt werden. Bei einer Asylantragstellung läuft das normale Asylverfahren. Für die Zeit der Durchführung des Asylverfahrens werden Antragsteller in Ungarn in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht. Dort gibt es separate Schlafräume, Sportmöglichkeiten, drei Mahlzeiten am Tag sowie eine ärztliche Grundversorgung (vgl. auch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2015 an das VG Regensburg, S. 5). Anders ist die Sachlage bei einer Folgeantragstellung. Ein Folgeantragsteller hat in der Regel nur die gleiche Möglichkeit der Unterstützung wie mittellose ungarische Staatsangehörige. Sie werden nicht in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht, sondern haben nur die Möglichkeit der Unterbringung in einem Obdachlosenasyl.
c) Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht sonst aufgrund außergewöhnlicher humanitärer Gründe – zur Vermeidung eines willkürlichen, gleichheitswidrigen Vorgehens – im vorliegenden Fall veranlasst, gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben. Eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers ist nicht gegeben; er hat keinen Anspruch auf einen entsprechenden Selbsteintritt.
In der Sache ist in der praktischen Handhabung der Überstellung kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz infolge eines willkürlichen Vorgehens festzustellen (vgl. so aber VG Bayreuth, B.v. 18.9.2015 – B 3 S 15.50219 – juris). Denn die Bundesrepublik Deutschland hatte zunächst – ausnahmsweise – nur die Rücküberstellung von Flüchtlingen aus Syrien nach Ungarn ausgesetzt, aber mittlerweile laut der vorliegenden (allgemein bekannten) Pressemitteilungen im Oktober 2015 erklärt, auch wieder Dublin-Rückführungen nach Ungarn zu prüfen.
d) Weiterhin setzt die Anordnung der Abschiebung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG voraus, dass die Abschiebung in den zuständigen Mitgliedsstaat durchgeführt werden kann. Dies ist der Fall, wenn der Abschiebung keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen (vgl. BVerfG, B.v 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – NVwZ 2014, 1511) und eine Abschiebung nicht unmöglich ist.
Der Abschiebung stehen keine rechtlichen Hindernisse entgegen. Insbesondere ist die Überstellungsfrist nicht abgelaufen. Da das Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet hat, ist der Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO entsprechend § 209 BGB gehemmt (vgl. z. B. VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1285/14 – juris Rn. 36, 58; VG Würzburg, U.v. 31.3.2015 – W 1 K 14.30151 – juris; VG Frankfurt, U.v. 5.2.2015 – 5 K 567/14.F.A – juris; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, AsylG § 27 a Rn. 65).
Auch dem vorgelegten Kurzarztbrief vom 17. September 2015 kann ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 34a Abs. 1 AsylG nicht entnommen werden. Aus der ärztlichen Stellungnahme ergibt sich weder eine Reiseunfähigkeit noch eine Suizidgefahr des Klägers. Eine Reiseunfähigkeit hat die Klägerbevollmächtigte schon nicht geltend gemacht. Zudem enthält die ärztliche Stellungnahme keinerlei Anhaltspunkte für eine Transportunfähigkeit des Klägers. Auch besteht ausweislich der von der Antragstellerin vorgelegten Bescheinigung des psychiatrischen Klinikums Schloss Werneck keine psychische Erkrankung, insbesondere keine Suizidgefahr des Klägers im Falle seiner Abschiebung. Vielmehr wird ausdrücklich festgestellt, dass zum Entlassungszeitpunkt eine Fremd- oder Eigengefährdung, insbesondere eine Suizidalität, nicht bestand. Der Kläger sei in psychisch stabiler Verfassung entlassen worden. Er habe außerdem seinen Suizidversuch als „Fehler“ und „Kurzschlussreaktion“ auf die angedrohte Abschiebung bezeichnet. Die von der Klägerbevollmächtigten behauptete Gefahr, dass sich der Kläger bei einer Abschiebung nach Ungarn „etwas antue“, besteht daher ausweislich der ärztlichen Bescheinigung nicht.
Schließlich bestehen über die Aufnahmebereitschaft Ungarns keine grundsätzlichen Zweifel, nachdem es erklärt hat, es werde alle Verpflichtungen und Regelungen einhalten, selbst wenn in der Vergangenheit vereinzelt auch gegenläufige Erklärungen zur Rücknahme von Flüchtlingen verlautbart wurden. Aus der geringen Zahl der tatsächlich erfolgten Überstellungen im Dublin-Verfahren kann nicht hergeleitet werden, dass Ungarn zur Übernahme nicht bereit ist. Zudem fehlen nachweisbaren Anhaltspunkte, dass Überstellungen nach Ungarn gegenwärtig und auf absehbare Zeit innerhalb der offenen Überstellungsfrist tatsächlich nicht durchgeführt werden können bzw. werden (so aber VG Freiburg, U.v. 13.10.2015 – A 5 K 1862/13 – juris). Vielmehr erfolgen offensichtlich tatsächlich Überstellungen nach Ungarn, wie aus anderen Verfahren bekannt ist (vgl. nur VG Magdeburg, B.v. 8.9.2015 – 9 B 713/15 – juris).
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von 1 Monat nach Zustellung des Urteils schriftlich beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg, Hausanschrift: Burkarderstraße 26, 97082 Würzburg, oder Postfachanschrift: Postfach 11 02 65, 97029 Würzburg, zu beantragen. Hierfür besteht Vertretungszwang.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte, Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder die in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Beschluss:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe:
Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, hat die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, so dass auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen war (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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