Europarecht

Eilantrag auf Familienzusammenführung in Deutschland im Wege des Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50328

Datum:
20.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 28317
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 52 Nr. 3 S. 2, § 53 Abs. 1 Nr. 3, § 88, § 122 Abs. 1, § 123, § 154 Abs. 1, § 161 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 21, Art. 22 Abs. 3, Abs. 5, Art. 27
GRCh Art. 47
VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) Anhang II
ZPO § 920 Abs. 2
AufenthG § 25 Abs. 3
AsylG § 29, § 80, § 83

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen der Aufnahmegesuche sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – diesem gegenüber für die Asylverfahren der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die beiden Antragsteller begehren von Griechenland aus die Durchführung ihres Asylverfahrens in Deutschland bzw. den Nachzug zusammen mit zwei weiteren Antragstellern im Parallelverfahren AN 17 E 20.50327, ihren Geschwistern, zu dem in Deutschland lebenden volljährigen Bruder aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO).
Der Antragsteller zu 1), …, ist eigenen Angaben nach … 2004 in Afghanistan geboren. Die Antragstellerin zu 2), …, ist eigenen Angaben nach … 2008 ebenfalls in Afghanistan geboren. Die Antragsteller sind ihren Angaben zufolge Geschwister, zwei weitere Geschwister, … (geb. …2002) und … (geb. …2002) sind Antragsteller im Parallelverfahren AN 17 E 20.50327. Der Antragsteller zu 1) lebt derzeit im „…“ in der Straße …, …, Griechenland, die Antragstellerin zu 2) im „…“ unter der Adresse …, …, …, Griechenland. Der Antragsteller zu 1) steht aufgrund seiner Minderjährigkeit unter der Vormundschaft der griechischen Rechtsanwältin … (Bestellung vom 19.5.2020), die Antragstellerin zu 2) unter der Vormundschaft der griechischen Rechtsanwältin … (Bestellung vom 28.5.2020). Die Referenzperson, zu der zugezogen werden soll, ist der volljährige Bruder … Dieser lebt in Deutschland unter der Adresse …, …, und verfügt über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG gültig bis 23. Juli 2022 (Nummer …). Der Vater aller Kinder lebt noch in Afghanistan, die Mutter ist … 2017 im Iran aufgrund einer Erkrankung verstorben. Ein Kontakt zum Vater besteht seit mehreren Jahren nicht mehr. Der Antragsteller zu 1) stellte am 12. August 2019 seinen Asylantrag in Griechenland, die Antragstellerin zu 2) am 6. August 2019.
Hinsichtlich des Antragstellers zu 1) ersuchte Griechenland die Antragsgegnerin am 25. Oktober 2019 die Zuständigkeit für dessen Asylverfahren gestützt auf Art. 8 Dublin III-VO zu übernehmen. Das Gesuch enthielt in den Anlagen eine englischsprachige Zustimmungserklärung vom 12. August 2019, in der sich der Antragsteller zu 1) mit der Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland und mit der Zusammenführung mit seinem in Deutschland lebenden Bruder … einverstanden erklärte. Es folgte ein Datenblatt in griechischer Sprache mit Porträtfoto, das den Antragsteller zu 1) zeigen soll. Weiter das „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019. In diesem ist der Name der Mutter mit „…“ und der Name des Vaters mit „…“ angegeben. Die Beziehung zu dem in Deutschland lebenden Bruder …, zu dem zugezogen werden soll, wird als von häufiger Kommunikation geprägt beschrieben. Zuletzt habe er ihn vor viereinhalb Monaten in der Türkei gesehen (Datum des Best Interests Assessments: 24. Oktober 2019), davor habe es vier Jahre gedauert, bis sie sich seit der Einreise des … nach Deutschland gesehen hätten. Viele Erinnerungen von früher habe er an seinen Bruder nicht. Mit dem Bruder … (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327) lebe er in einer Schutzeinrichtung in Athen zusammen und würde sich unsicher fühlen, würde dieser woanders leben. Zu den Schwestern … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und … (Antragstellerin zu 2)) bestehe täglicher Kontakt per Telefon und persönlicher Kontakt zwei bis drei Mal pro Woche, sie kümmerten sich jeweils umeinander. Nach dem Best Interests Assessment folgten ein weiteres Porträtfoto sowie ein Dokument in arabischer Sprache ebenfalls mit einem Porträtfoto. Zudem enthielt das Übernahmegesuch eine Kopie des afghanischen Passes des Antragstellers zu 1) sowie ein Foto, das ihn mit seinen Geschwistern zeigen soll. Zudem eine Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des … nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer …) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer …) und dessen schriftliche Zustimmungserklärung in englischer Sprache zum gemeinsamen Leben aller Geschwister in Deutschland. Daran anschließend eine Kopie einer Übersetzung der Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1) mit Ausstellungsdatum 9. April 2018, in der der Name des Vaters mit „…“ angegeben ist. Weiterhin ein Tabellenauszug in griechischer Sprache, in dem das Datum 3. August 2019 gelb hinterlegt ist. Und schließlich ein „Psychological Report“ der …, die darin als „Psychologist of Shelter“ bezeichnet ist. Im Bericht wird über den Antragsteller zu 1) ausgeführt, dass er und … im Iran, nicht in Afghanistan geboren seien, da die Familie in den Iran vor dem Krieg und finanziellen Schwierigkeiten in Afghanistan geflohen sei. Der Antragsteller zu 1) habe keine psychologischen Probleme oder eine Persönlichkeitsstörung. Er habe aber eine sehr enge Beziehung zu seiner verstorbenen Mutter gehabt. Für seine soziale Integration werde ein Kontakt mit Familienmitgliedern empfohlen.
Die Bundesrepublik Deutschland lehnte das griechische Aufnahmegesuch mit Schreiben vom 12. November 2019 mit der Begründung ab, dass die familiären Beziehungen zwischen dem Antragsteller zu 1) und dem in Deutschland lebenden … nicht ausreichend nachgewiesen seien.
Gegen diese Ablehnung remonstrierten die griechischen Behörden mit Schreiben vom 3. Dezember 2019 und führten aus, dass der Antragsteller und seine Geschwister keine Dokumente zum Nachweis der familiären Verbindung hätten, jedoch bereit seien, sich einem DNA-Test zu unterziehen.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin eine Zuständigkeitsübernahme für den Antragsteller zu 1) erneut mit Verweis auf den fehlenden Nachweis verwandtschaftlicher Verhältnisse ab.
Hiergegen wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2019, welches am 23. Dezember 2019 vollständig vorlag, und teilten mit, dass die Antragsteller (auch die im Verfahren AN 17 E 20.50327) bereits einen DNA-Test in die Wege geleitet hätten. Weiterhin werde auf Art. 12 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) verwiesen, nach dem die Dauer der Verfahren im Zusammenhang mit der Unterbringung von Minderjährigen über die Fristen gemäß Art. 18 Abs. 1 und Abs. 6 und Art. 19 Abs. 4 der Dublin III-VO hinausgehen könnten und dieser Umstand nicht zwangsläufig dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates oder der Durchführung der Überstellung entgegenstehe. Insofern werde um mehr Zeit gebeten, um den DNA-Test fertigstellen und übersenden zu können.
Mit weiterem Schreiben vom 5. März 2020 übersandten die griechischen Behörden die Ergebnisse des DNA-Tests an die Antragsgegnerin. In dem DNA-Test der Firma … vom 28. Februar 2020 ist festgestellt, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9981% … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und … (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327) Vollgeschwister sind. Weiter, dass … (in Deutschland lebend) mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999% Vollbruder der Vollgeschwister … und … ist. Und weiter mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999%, dass … (Antragsteller zu 1)) Vollbruder der Vollgeschwister …, … und … ist. Und schließlich mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999%, dass … (Antragstellerin zu 2)) Vollschwester der Vollgeschwister …, …, … und … ist.
Die Bundesrepublik Deutschland reagierte hierauf mit Schreiben vom 23. April 2020 und lehnte eine erneute Überprüfung des Übernahmegesuchs mit dem Argument ab, dass das zeitliche Limit der Dublin III-VO überschritten sei.
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) ersuchte Griechenland die Antragsgegnerin am 25. Oktober 2019 die Zuständigkeit für deren Asylverfahren gemäß Art. 8 Dublin III-VO zu übernehmen. Das Aufnahmegesuch enthielt in den Anlagen zunächst einen Tabellenauszug in griechischer Sprache, in dem das Datum 25. Juli 2019 gelb hinterlegt war. Sodann folgten eine Übersetzung der Geburtsurkunde der … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und daran anschließend eine Kopie des afghanischen Reisepasses der …, gültig vom 2. Mai 2018 bis zum 2. Mai 2013 (Nummer …). Weiterhin die englischsprachige Zustimmungserklärung vom 12. August 2019, dass die Antragstellerin zu 2) mit der Prüfung ihres Asylantrages durch die Bundesrepublik Deutschland einverstanden sei sowie die Zusammenführung mit dem in Deutschland lebenden … wünsche und die englischsprachige Zustimmungserklärung des … vom 8. Oktober 2019, dass alle Geschwister zusammen in Deutschland leben wollten. Dem schloss sich ein Porträtfoto, das die Antragstellerin zu 2) zeigen soll, an. Zudem war das „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019 enthalten, allerdings das der … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327). Dem folgend schloss sich eine Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des … nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer …) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer …), an.
Die Bundesrepublik Deutschland lehnte das griechische Aufnahmegesuch mit Schreiben vom 12. November 2019 mit der Begründung ab, dass die familiären Beziehungen zwischen der Antragstellerin zu 2) und dem in Deutschland lebenden … nicht ausreichend nachgewiesen seien. Zudem habe letzterer in seiner Anhörung behauptet, über keine Tazkira zu verfügen. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass einige der übermittelten Dokumente … und nicht die Antragstellerin zu 2) beträfen.
Gegen diese Ablehnung remonstrierten die griechischen Behörden mit Schreiben vom 3. Dezember 2019 und führten aus, dass die Antragstellerin zu 2) und … keine Dokumente zum Nachweis ihrer familiären Verbindung beschaffen könnten, sie aber bereit seien, sich einem DNA-Test zu unterziehen.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Zuständigkeit für die Antragstellerin zu 2) erneut unter Verweis auf die nicht nachgewiesene verwandtschaftliche Beziehung ab.
Hiergegen wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2019, welches am 23. Dezember 2019 vollständig vorlag, und teilten mit, dass die Antragsteller (auch die im Verfahren AN 17 E 20.50327) bereits einen DNA-Test in die Wege geleitet hätten. Weiterhin werde auf Art. 12 Abs. 2 der VO (EG) Nr. … (Dublin-DurchführungsVO) verwiesen, nach dem die Dauer der Verfahren im Zusammenhang mit der Unterbringung von Minderjährigen über die Fristen gemäß Art. 18 Abs. 1 und Abs. 6 und Art. 19 Abs. 4 der Dublin III-VO hinausgehen könnten und dieser Umstand nicht zwangsläufig dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates oder der Durchführung der Überstellung entgegenstehe. Insofern werde um mehr Zeit gebeten, um den DNA-Test fertigstellen und übersenden zu können.
Mit weiterem Schreiben vom 5. März 2020 übersandten die griechischen Behörden die Ergebnisse des DNA-Tests an die Antragsgegnerin, aus dem hervorging, dass alle Antragsteller und der in Deutschland lebende … Vollgeschwister sind (s.o).
Die Bundesrepublik Deutschland reagierte hierauf mit Schreiben vom 10. März 2020 und lehnte eine erneute Überprüfung des Übernahmegesuchs mit dem Argument ab, dass das zeitliche Limit der Dublin III-VO überschritten sei.
Daran anschließend wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 26. März 2020 nochmals an die Antragsgegnerin an führten aus, dass die Durchführung eines DNA-Tests nur ausnahmsweise und als letztes Mittel zum Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses in Betracht komme. Dieser sei eine langwierige Prozedur, insbesondere wenn Proben von Personen aus anderen Mitgliedstaaten beschafft werden müssten. Zudem gebe es zwischen den Dublineinheiten der Mitgliedstaaten eine inoffizielle Vereinbarung, ein Übernahmegesuch sechs Monate offen zu halten, wenn ein DNA-Test in Auftrag gegeben worden sei. Des Weiteren werde insbesondere auf die besondere Verankerung der Rechte und Interessen von Kindern in Art. 24 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und in Art. 6, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 und Art. 27 der UN-Kinderrechtskonvention hingewiesen, die durch die Ablehnung der Zuständigkeitsübernahme durch die Antragsgegnerin verletzt würden. Nun läge das Ergebnis vor und sei bereits am 5. März 2020 übersandt worden. Eine Rückantwort Deutschlands erfolgte nicht mehr.
Laut der Seiten 63 ff. der Behördenakte der Antragstellerin zu 2), …, verfügte das Bundesamt über das Anhörungsprotokoll der Anhörung nach § 25 AsylG des … am 18. Januar 2017. Darin äußerte dieser, dass der Name seines Vaters … und der Name seiner Mutter … seien und dass er zwei Brüder und zwei Schwester habe, die allesamt jünger als er seien und im Iran lebten.
Mit am 29. September 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten haben die Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO gestellt und beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin Referat für die Asylanträge der Antragstellenden zu 1) bis 4) für zuständig zu erklären und auf ihre Überstellung hinzuwirken.
Zur Begründung führen sie im Wesentlichen aus, dass die Antragsteller unter Zugrundelegung der in Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und Art. 24 GRCh niedergelegten Grundrechtsgarantien zur Wahrung der Familieneinheit und des Kindeswohls gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland gemäß Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO haben. Diese, Geburtsjahr 2004 und 2008, seien zum nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung in Griechenland unbegleitete Minderjährige gewesen. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Antragstellern und … sei hinreichend nachgewiesen und zwar nicht erst durch den DNA-Test, sondern bereits durch die Übersendung der Übernahmegesuche mitsamt ihrer Anlagen. Für den Nachweis der Familienbindung könne eine Zuständigkeit auch alleine aufgrund von kohärenten und nachprüfbaren Indizien erfolgen, wenn keine förmlichen Beweismittel zur Verfügung stünden. Da sich mehrere Geschwister der Antragsteller in verschiedenen Mitgliedstaaten aufhielten, sei nach Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nach dem Kindeswohl zu bestimmen. Dem Kindeswohl diene es am meisten, eine Zusammenführung mit dem ältesten Bruder in Deutschland zu organisieren. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des griechischen Dublin-Referats und einem psychologischen Gutachten hinsichtlich des Antragstellers zu 1). Demnach fehle es diesem an Stabilität und Sicherheit, er habe sich deswegen bereits mehrfach selbst verletzt und in Folge ins Krankenhaus begeben müssen. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) sei ihr Alter von gerade erst zwölf Jahren zu bedenken. Dem Kindeswohl entspreche es am ehesten, wenn sie mit ihrem ältesten Bruder, der bereits gut in Deutschland integriert sei, zusammenleben könne. Zudem entspreche das Zusammenleben mit … in Deutschland dem ausdrücklichen Wunsch der Antragsteller. Ein Zuständigkeitsübergang auf Griechenland folge auch nicht aus der Regelung des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1, Unterabs. 3 Dublin III-VO, da bereits das Aufnahmegesuch ausreichende Nachweise der Familienbindung enthalten habe. Im Übrigen komme den Verfahrensfristen keine absolute Wirkung zu, die Dublin III-VO sei im Lichte des Art. 24 GRCh auszulegen. Ob eine Zusammenführung dem Kindeswohl entspreche, könne sich gerade bei Minderjährigen nicht an Fristfragen orientieren, was auch aus Art. 12 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO und Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO folge. Jedenfalls aber folge ein Anspruch der Antragsteller auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und den genannten humanitären Gründen. Die Anwesenheit der beiden volljährigen Geschwister der Antragsteller (die Antragsteller des Verfahrens AN 17 E 20.50327) in Griechenland reiche nicht aus, eine Stabilisierung sei nur durch eine Zusammenführung mit … in Deutschland zu erwarten. Eine Ermessensreduzierung auf Null folge zudem daraus, dass bereits eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO bestehe, die nur an der Fristproblematik scheitern könnte. Andernfalls würde das Menschenrecht auf Familienzusammenführung durch eine Fristversäumnis versagt.
Der Anordnungsgrund folge daraus, dass kurzfristig mit einem Anhörungstermin durch die griechischen Asylbehörden zu rechnen sei und nach einer Entscheidung in der Sache die Antragsteller aus dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO herausfielen. Daher sei hier auch eine Vorwegnahme der Hauptsache geboten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Verfahrensakte.
Das Gericht hat für die Verfahren nach § 123 VwGO der ursprünglich vier Antragsteller (Antragsschriftsatz vom 29.9.2020) zwei Aktenzeichen vergeben: AN 17 E 20.50328 für die ursprünglichen Antragsteller zu 3) und 4) und AN 17 E 20.50327 für das vorliegende Verfahren mit den ursprünglichen Antragstellern zu 1) und 2).
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen elektronischen Akten der Antragsteller beim Bundesamt sowie die Gerichtsakten, jeweils auch die der Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327, verwiesen.
II.
Die Antragsteller begehren bei verständiger Würdigung (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) ihres Begehrens im Hauptantrag die Verpflichtung der Antragsgegnerin, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – diesem gegenüber für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären. Denn ohne eine Mitteilung der Zuständigkeitsübernahme an die zuständigen griechischen Behörden würde die begehrte Familienzusammenführung der sich noch in Griechenland befindlichen Antragsteller mit dem in Deutschland lebenden Bruder nicht in Gang gesetzt (so auch der Tenor bei VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 – AN 17 E 20.50216 – juris).
Das zusätzlich beantragte Hinwirken der Antragsgegnerin auf die Überstellung ist lediglich als unselbstständiger Annex zu betrachten, da bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass die Antragsgegnerin die in ihrer Sphäre liegenden Folgemaßnahmen der Zuständigkeitsübernahme ergreifen wird und dem Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller durch die Zuständigkeitserklärung Genüge getan ist.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (2.) und begründet (3.). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber auch zuständig (1.).
1. Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach ergibt sich hier aus § 52 Nr. 2 Satz 3, Nr. 3 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 5 VwGO, da sich sämtliche Antragsteller in Griechenland aufhalten. Die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 -1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO und auch § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 3 Satz 2 VwGO greift daher nicht, denn die Antragsteller haben weder i.S.d. § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO ihren Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes zu nehmen noch verfügen sie über einen Wohnsitz im Bundesgebiet (§ 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO), weshalb für die örtliche Zuständigkeit nur die Auffangregelung des § 52 Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO in Betracht kommt. Danach ist dasjenige Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Antragsgegnerin ihren Sitz hat. Wird der Antrag gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, ist auf den Sitz der handelnden Behörde abzustellen. Im vorliegenden Fall ist dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das seinen Sitz in Nürnberg und mithin nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 4 AGVwGO im Bezirk des Verwaltungsgerichts Ansbach hat (zum Ganzen BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Person, zu der zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.
Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, wofür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts ausreicht. Eine solche ergibt sich für die Antragsteller jedenfalls aus der humanitären Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, auch soweit sie sich aus dem Ausland auf sie berufen (VG Freiburg, B.v. 18.6.2020 – A 3 K 1718/20 – juris Rn. 27; VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 E 19.50958 – juris Rn. 23; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; s.a. BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 12). Ebenfalls können die Antragsteller eine mögliche Verletzung des sowie einen möglichen Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO geltend machen (VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21 m.w.N.).
Der Antrag nach § 123 VwGO ist auch nicht aus anderen Gründen unstatthaft. Zwar sieht die Dublin III-VO in deren Art. 27 nur Rechtsmittel gegen Überstellungsentscheidungen vor, allerdings ist im Lichte des Art. 47 GRCh als Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV) auch ein Rechtsbehelf für die vorliegende Konstellation bereitzustellen. Ein Verweis auf die griechischen Gerichte trägt insofern nicht, als diese nicht das Bundesamt als Behörde der Bundesrepublik zur Zuständigkeitsübernahme verpflichten könnten (so VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 21; a.A. etwa VG Bayreuth, B.v. 17.02.2020 – B 8 E 19.50589, BeckRS 2020, 15734 Rn. 50 ff.; offenlassend VG Düsseldorf, B.v. 28.1.2020 – 15 L 3299/19.A – BeckRS 2020, 1383 Rn. 35). Dies überzeugt auch angesichts der Erwägungsgründe der Dublin III-VO, insbesondere der Erwägungsgründe 13, der die Mitgliedstaaten insbesondere auf die Berücksichtigung der Belange von Minderjährigen verpflichtet, 14, der die Achtung des Familienlebens als vorrangige Erwägung bei der Anwendung der Dublin III-VO definiert, 15, der eine gemeinsame Bearbeitung der Anträge von Familienmitgliedern zur Vermeidung einer Trennung anmahnt, sowie 16 und 17, die das Fundament für die Art. 8 ff. und 17 Abs. 2 Dublin III-VO legen. Zudem ist, auch wenn sich der Europäische Gerichtshof soweit ersichtlich noch nicht explizit zur Frage der Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine ablehnende Übernahmeentscheidung des Zielstaates auf Basis der Art. 8 ff. Dublin III-VO geäußert hat, angesichts seiner Entscheidungen zum drittschützenden Charakter sowohl der in Kapitel III der Dublin-III VO festgelegten Zuständigkeitskriterien (Art. 7 ff. Dublin III-VO) sowie des Ablaufs von Antrags-, Antwort- und Überstellungsfristen nach der Dublin III-VO, etwa nach Art. 21 Abs. 1 oder Art. 29 Dublin III-VO, und der Möglichkeit sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung hierauf zu berufen (EuGH, U.v. 7.6.2016 – Ghezelbash, C-63/15 – NVwZ 2016, 1157; EuGH, U.v. 7.6.2016 – Karim, C-155/15 – NVwZ 2016, 1155; EuGH, U.v. 25.10.2017 – Shiri, C-201/16 – NVwZ 2018, 43 Ls. 2 u. Rn. 35 ff.; EuGH, U.v. 26.7.2017 – Mengesteab, C-670/16 – NVwZ 2017, 1601; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 42 m.w.N.), davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof die rechtswidrige Ablehnung eines auf die Art. 8 ff. Dublin III-VO gestützten Übernahmegesuchs ohne die Möglichkeit des Rechtsschutzes hiergegen nicht akzeptieren würde.
3. Der zulässige Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 47 GRCh) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris Rn. 5, 7).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch (a) und einen Anordnungsgrund (b) glaubhaft gemacht. Die Vorwegnahme der Hauptsache war ausnahmsweise geboten (c).
a) Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch auf Zuständigkeitsübernahme gegen die Antragsgegnerin aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO glaubhaft gemacht.
Nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ist, wenn es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.
aa) Sowohl der Antragsteller zu 1), …, als auch die Antragstellerin zu 2), haben ihre Minderjährigkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO glaubhaft gemacht. Minderjährig ist nach Art. 2 Buchst. i Dublin III-VO ein Drittstaatsangehöriger unter 18 Jahren. Der Antragsteller zu 1) hat sein Geburtsdatum mit dem … 2004 angegeben, die Antragstellerin zu 2) mit dem … 2008. Hinsichtlich des Antragstellers zu 1) war zudem eine Übersetzung der Geburtsurkunde sowie eine Kopie des Reisepasses im Anhang des Übernahmegesuchs enthalten, die beide ebenfalls das Geburtsdatum … 2004 ausweisen. Diese sind jeweils als Beweis im Sinne des Art. 21 Abs. 3 Unterabs. 1, Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO i.V.m. Anhang II Verzeichnis A I. 1. der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) anzusehen. Dazu treten als Indizien (Anhang II Verzeichnis B I. 1. Dublin-Durchführungs-VO) die ebenfalls als Teil des Übernahmegesuchs enthaltenen Porträtfotos des Antragstellers zu 1), die den optischen Eindruck eines minderjährigen jungen Mannes vermitteln und damit, wenn auch angesichts der vorherrschenden gravierenden Mängel bei der präzisen Erfassung von Geburtsdaten in Afghanistan (s. etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juni 2020, S. 25 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 13.11.2019, S. 360 ff.) nicht das konkrete Geburtsdatum, so doch die Glaubhaftmachung der Minderjährigkeit des Antragstellers zu 1) stützen. Auch hat das Bundesamt die Minderjährigkeit des Antragstellers zu 1) nicht in Frage gestellt. Ähnliches gilt für die Antragstellerin zu 2), bezüglich derer im Übernahmegesuch allerdings nur eine Kopie des afghanischen Reisepasses mit dem Geburtsdatum … 2008 und nicht zusätzlich eine Kopie der Geburtsurkunde enthalten war. Allerdings ergibt auch hier eine Zusammenschau mit dem Porträtfoto der Antragstellerin zu 2), dass sie jedenfalls minderjährig ist. Auch bezüglich ihr hat das Bundesamt die Minderjährigkeit nicht in Frage gestellt.
Hinsichtlich der Minderjährigkeit kann hier dahinstehen, ob als Zeitpunkt für das Vorliegenmüssen der Minderjährigkeit gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO derjenige der erstmaligen Antragstellung auf internationalen Schutz oder etwa derjenige der Stellung des Aufnahmegesuchs im Sinne des Art. 21 Dublin III-VO oder gar derjenige der gerichtlichen Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine verweigerte Aufnahme maßgeblich ist, da hier selbst im letztmöglichen Zeitpunkt die Minderjährigkeit der Antragsteller glaubhaft gemacht ist.
bb) Bei den Antragstellern handelt es sich auch um unbegleitete Minderjährige im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO. Unbegleitet ist ein Minderjähriger gemäß Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO, wenn er ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet.
Die Antragsteller sind glaubhaft ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen nach Griechenland eingereist. Selbst wenn man eine Volljährigkeit der Geschwister der Antragsteller (dies sind die Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327, … und …*) bei Einreise annehmen würde, wären diese nicht als verantwortliche Erwachsene nach griechischem Recht gemäß Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO anzusehen, da selbst nach deren mittlerweile jedenfalls eingetretener Volljährigkeit durch den griechischen Staat die Bestellung der temporären Vormundschaft für die Antragsteller durch zwei griechische Rechtsanwältinnen nicht aufgehoben worden ist bzw. die volljährigen Geschwister nicht als Vormund bestellt worden sind. Zudem befinden sich die Antragsteller nicht im Sinne des Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO in tatsächlicher Obhut eines solchen Erwachsenen, sie bewohnen derzeit je eine Schutzeinrichtung für Minderjährige. Daran ändern auch die durch den „Prosecutor of the First Instance Court of Athens“ am 19. Mai und 28. Mai 2020 für die Antragsteller als gesetzliche Vormundinnen bestellten Rechtsanwältinnen nichts. Diese übernehmen zwar die Vertretung in rechtlichen Angelegenheiten, insbesondere was das Asylverfahren anbelangt, nehmen die Antragsteller aber nicht in ihre Obhut oder üben gar die elterliche Sorge (abgesehen von rechtlichen Angelegenheiten) aus.
cc) Mit … hält sich ein Vollbruder der Antragsteller, die untereinander Vollgeschwister sind, rechtmäßig in Deutschland auf, Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO.
Das Geschwisterverhältnis zwischen den Antragstellern und der Referenzperson …, zu der zugezogen werden soll, ist im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO hinreichend glaubhaft gemacht. Hinsichtlich des Maßstabes für die Glaubhaftmachung gilt im Allgemeinen der Grundsatz des Art. 22 Abs. 2 Dublin III-VO, dass das Beweiserfordernis nicht über das für eine ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen soll. Dies geht einher mit der Zielsetzung der Dublin III-VO, wie sie aus deren Erwägungsgrund 5 ersichtlich wird, möglichst rasch den zuständigen Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zu bestimmen. Für den Fall, dass und soweit keine förmlichen Beweismittel im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO zum Beweis der verwandtschaftlichen Beziehungen verfügbar sind, bestimmt Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO, dass der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu überprüfen. Förmliche Beweismittel im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO und Anhang II Verzeichnis A. I. 1. der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) liegen hier nur insoweit vor, als die Identität des Antragstellers zu 1) durch eine Kopie seiner Geburtsurkunde sowie seines Reisepasses ausgewiesen ist und die Identität der Antragstellerin zu 2) durch eine Kopie ihres Reisepasses. Zusätzlich enthält die Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1) den Namen seines Vaters, „…“. Schließlich ist auch die Identität der Referenzperson … durch die in den Aufnahmegesuchen enthaltene Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des … nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer …) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer …), nachgewiesen. Ein Verwandtschaftsverhältnis als Geschwister zwischen den genannten Personen ist alleine dadurch noch nicht belegt.
Jedoch kann zunächst als Indiz für eine Geschwisterbeziehung im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. b Dublin III-VO und Anhang II, Verzeichnis B I. 1. Dublin-DurchführungsVO gewertet werden, dass die Antragsteller und die Referenzperson … je den gleichen Nachnamen tragen (VG Bremen, B.v. 7.2.2020 – 5 V 2557/19 – juris Rn. 33; VG Ansbach, B.v. 24.9.2020 – AN 17 E 20.50307 – n.v.). Dieses Indiz wird weiter dadurch verstärkt, dass in den englischsprachigen Zustimmungserklärungen des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerin zu 2) vom 12. August 2019 jeweils als Name des Vaters „…“ und der Mutter „…“ vermerkt ist. Dies deckt sich hinsichtlich des Vaters zum einen mit der Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1), in der der Vater als „…“ bezeichnet ist; das fehlende „y“ dürfte plausibel mit Unterschieden bei der Transkription zu erklären sein. Die Bezeichnung des Vaters als „…“ findet sich überdies in den Geburtsurkunden der … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und des … (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327), die als Teil deren Aufnahmegesuche dem Bundesamt übermittelt wurden. Die sich so darstellende Indizienlage verklammert sich mit den Angaben der Referenzperson … in dessen Anhörung vor dem Bundesamt nach § 25 AsylG bereits am 18. Januar 2017, die als Teil des Anhangs des Aufnahmegesuchs der Antragstellerin zu 2) der Antragsgegnerin vorlag. Damals äußerte …, dass der Name seines Vaters … und der Name seiner Mutter … seien und dass er zwei Brüder und zwei Schwester habe, die allesamt jünger als er seien und im Iran lebten. Die Unterschiede beim genannten Namen der Mutter sind, wenn man sie mit den Angaben des Antragstellers zu 1) in dessen „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019 abgleicht, damit erklärbar, dass „…“ der Vorname der Mutter ist und „…“ zumindest ein Teil des Nachnamens.
Damit ist das Geschwisterverhältnis zwischen den Antragstellern und der Referenzperson …, zu der zugezogen werden soll, im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO und des Art. 22 Abs. 2 bis Abs. 5 Dublin III-VO i.V.m. Anhang II der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) hinreichend glaubhaft gemacht. Die beigebrachten Beweismittel zur Identität der Antragsteller und des … und die übrigen Indizien erreichen hier aggregiert die Schwelle des Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO, nämlich, dass sie kohärent sind, überprüfbar jedenfalls durch wechselseitigen Abgleich der Informationen, und hinreichend detailliert.
Damit kommt es nicht mehr auf eine mögliche Verfristung hinsichtlich der Übermittlung des Ergebnisses des DNA-Tests nach Art. 21 Abs. 1, Abs. 3 Dublin III-VO und Art. 5 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO an, der im Übrigen das Geschwisterverhältnis bestätigt hat.
dd) Die Referenzperson … hält sich im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO rechtmäßig in Deutschland auf. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bemisst sich mangels europarechtlicher Definition – Art. 2 Buchst. l Dublin III-VO, „Aufenthaltstitel“, passt hier nicht – nach nationalem Recht (so auch Thomann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Ed. 1.7.2020, Art. 8 Dublin III-VO Rn. 13). … verfügt über eine bis 23. Juli 2022 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, mithin über einen nach deutschem Recht rechtmäßigen Aufenthalt.
ee) Eine Auswahl des zuständigen Mitgliedstaats nach Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO war vorliegend nicht zu treffen, da die Antragsteller zwar neben … in Deutschland weitere zwei Geschwister in Griechenland haben (die Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327), allerdings befinden sich diese noch im griechischen Asylverfahren und verfügen nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nur bis zum Abschluss des Asylverfahrens in der ersten Beschwerdeinstanz über ein Aufenthaltsrecht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland, Stand 4.10.2019, S. 8), was der deutschen Rechtslage nach § 55 AsylG ähnelt. Damit steht jedenfalls in einem für die Glaubhaftmachung erforderlichen Maß fest, dass während der Dauer des griechischen Asylverfahrens kein verfestigter rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO besteht (ein verfestigtes Aufenthaltsrecht fordert auch Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, § 29 AsylG Rn. 41), sondern nur ein temporäres Aufenthaltsrecht gewährt wird.
ff) Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland als Antragsgegnerin für das Asylverfahren der Antragsteller dient auch deren Wohl gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO. Diese Voraussetzung ist im Allgemeinen bei der Zusammenführung von Minderjährigen mit ihren Eltern aber auch sonstigen Familienangehörigen, wie Geschwistern, zu bejahen. Allenfalls Fälle von Gewalt, Missbrauch oder sonstigen außergewöhnlichen Umständen können eine andere Beurteilung rechtfertigen (Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, § 29 AsylG Rn. 41; Thomann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Ed. 1.7.2020, Art. 8 Dublin III-VO Rn. 14; VG Ansbach, B.v. 28.5.2020 – AN 17 E 20.51065 – n.v., unter II. 3.: Regelvermutung). Im vorliegenden Fall sprechen im Hinblick auf das Wohl der Minderjährigen keine konkreten Anhaltspunkte gegen eine Zusammenführung der Antragsteller mit ihrem in Deutschland lebenden Bruder … Ganz im Gegenteil haben alle ihre schriftliche Zustimmung mit einer Zusammenführung erklärt und dementsprechende Wünsche geäußert.
gg) Eine abweichende Zuständigkeit Griechenlands ergibt sich auch nicht aus dem Fristenregime der Art. 21 ff. Dublin III-VO oder Art. 5 Dublin-DurchführungsVO. Insbesondere hat Griechenland gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 3 Dublin III-VO fristgerechte Aufnahmegesuche gestellt, die wie aus den obigen Ausführungen ersichtlich auch hinreichende Beweismittel, Indizien und sachdienliche Angaben zur Zuständigkeitsbestimmung enthielten. Nicht erforderlich für ein form- und fristgerechtes Aufnahmegesuch im Sinne des Art. 21 Dublin III-VO war, bereits mit diesem einen DNA-Test vorzulegen (s. Anhang II Verzeichnis A. I. 1. 5. Spiegelstrich).
b) Der Anordnungsgrund besteht in der Gefahr des unmittelbar drohenden Rechtsverlustes. Durch den Fortgang des Asylverfahrens in Griechenland ist für die Antragsteller ein zeitnaher und dauerhafter Verlust des geltend gemachten Nachzugsrechts zu ihrem in Deutschland lebenden Bruder ernsthaft zu befürchten. Wenn das Asylverfahren in Griechenland durchgeführt und abgeschlossen ist, greifen in der Folge die Regelungen der Dublin III-VO nicht mehr ein (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) und die Familienzusammenführung nach der Dublin III-VO wird auf Dauer ausgeschlossen (vgl. auch VG Münster, B. v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 – 4 L 478/19.WI.A). Hierfür ist es insbesondere nicht zwingend erforderlich, dass den Antragstellern bereits ein Anhörungstermin bekannt ist. Auch ohne einen solchen ist hier grundsätzlich mit einer jederzeitigen Sachentscheidung der griechischen Behörden über die Asylanträge zu rechnen. Dies gilt umso mehr, als die letztmaligen Ablehnungen der Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin bereits etwa sechs Monate zurückliegt (VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 – AN 17 E 20.50216 – juris Rn. 44).
c) Aus denselben Gründen ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 47 GRCh ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig. Im Fall der Sachentscheidung über die Asylanträge droht den Antragstellern ein unumkehrbarer Zuständigkeitsübergang auf Griechenland. Dieser ist den Antragstellern auch nicht zuzumuten, da in diesem Fall eine Wiederherstellung der Familieneinheit auf Grundlage der Dublin III-VO endgültig nicht mehr in Betracht kommt. Zuletzt besteht – wie oben dargelegt – ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für ein Obsiegen in einer gedachten Hauptsache (VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 – AN 17 E 20.50216 – juris Rn. 45).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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