Europarecht

Eilrechtsschutz gegen Abschiebungsanordnung nach Italien

Aktenzeichen  M 9 S 17.51089

Datum:
13.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 56795
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, §  29 Abs. 2 S. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 5 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2c
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Überstellungsfrist wird durch Stellung eines Eilantrags unterbrochen.  (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Durchführung der Erstbefragung ist vor der Stellung des (Wieder-)Aufnahmegesuchs nicht notwendig.  (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Durchführung der Erstbefragung wäre (hypothetisch) auch vor der Unzulässigkeitsentscheidung nicht notwendig, wenn die Entscheidung bei Durchführung der Anhörung nicht anders ausgefallen wäre. Dies erscheint allerdings bei Vorliegen eines Eurodac-Treffers ausgeschlossen.  (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der laut eigener Aussage am … Dezember 19.. geborene Antragsteller (Bl. 50 d. Behördenakts – i.F.: BA -) ist nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Nigerias (Bl. 50 d. BA). Er reiste nach seinen Angaben in der Erstbefragung vom 2. März 2017 am 13. Februar 2017 von Italien kommend in das Bundesgebiet ein (Bl. 69f. d. BA). Er beantragte am 14. Februar 2017 förmlich beim Bundesamt Asyl (Bl. 50 d. BA). Die Behördenakte (Bl. 77f. d. BA) enthält zwei vom Antragsteller jeweils nicht unterzeichnete Bescheinigungen über die Meldung als Asylsuchender (i.F.: BÜMA), wovon nur eine einen Eingangsstempel des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (i.F.: Bundesamt) trägt (Bl. 77 d. BA); demnach ist die BÜMA vom 16. Februar 2017 am 20. Februar 2017 beim Bundesamt eingegangen.
Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie 1 (IT1…) vom 14. Februar 2017 (Bl. 24 d. BA) wurde am 21. Februar 2017 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (i.F.: Dublin III-VO) ein Wiederaufnahmegesuch an Italien gerichtet (Bl. 25ff. d. BA); eine Zugangsbestätigung liegt vor (Bl. 32ff. d. BA). Die italienischen Behörden haben bis dato nicht geantwortet.
Mit gegen Postzustellungsurkunde vom 12. April 2017 (Bl. 147f. d. BA) zugestelltem Bescheid vom 10. April 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Wegen des Bescheidinhalts wird auf diesen Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Der Antragsteller persönlich hat am 12. April 2017 zur Niederschrift des Urkundsbeamten Klage gegen den Bescheid erhoben. Vorliegend beantragt er, hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Italien die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen.
Der Antragsteller habe keine Einladung zum “Interview” beim Bundesamt erhalten, ihm sei lediglich auf einmal der ablehnende Bescheid zugegangen. Mit weiterer persönlicher Erklärung vom 14. Juni 2017 brachte er vor, ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attests vom 16. Mai 2017 schwer depressiv zu sein mit Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Mit weiterer persönlicher Erklärung vom 1. März 2018 ergänzte der Antragsteller, seines Erachtens nach sei die Überstellungsfrist längt abgelaufen. Das Bundesamt habe in eigener Zuständigkeit über seinen Asylantrag zu entscheiden. Wegen des Sachvortrags im Übrigen wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen. Die Bevollmächtigte des Antragstellers, die sich zwischenzeitlich bestellt hatte, nahm inhaltlich nicht zum Verfahren Stellung.
Das Bundesamt stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
1. An der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt zutreffend auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung keine Zweifel. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Italien ist hier für die Prüfung zuständig. Dies ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 1, Abs. 2 Unterabs. 1, Art. 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Dublin III-VO. Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch, das am 21. Februar 2017 und damit rechtzeitig innerhalb der 2-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO – die am 14. Februar 2017 anlief – gestellt wurde, nicht binnen zwei Wochen, Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO reagiert. Auch die nach der jüngeren EuGH-Rechtsprechung “parallel” einzuhaltende 3-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO wurde gewahrt, diese lief vorliegend frühestens mit Eingang der – einzigen gestempelten – BÜMA vom 16. Februar 2017 beim Bundesamt am 20. Februar 2017 als frühestmöglichem Datum einer “Antragstellung” i.S.v. Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO an (VG München, B.v. 23.8.2017 – M 9 S7 17.51363 – juris m.w.N.).
a) An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung ändert auch die Tatsache nichts, dass die Anhörung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO der Stellung des Wiederaufnahmegesuchs nachfolgte.
Eine Anhörung ist grundsätzlich auch angesichts von § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG erforderlich. Zwar wird § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG von der in § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG enthaltenen Verweisung explizit ausgenommen, dies aber nach den Motiven des deutschen Gesetzgebers (BT-Drs. 266/16, S. 52) nur deshalb, weil sich das Erfordernis eines persönlichen Gesprächs im Anwendungsbereich der Dublin III-VO bereits aus Art. 5 Dublin III-VO ergebe.
Vorliegend wurde die Anhörung aber rechtzeitig vorgenommen. Art. 5 Abs. 3 Dublin III-VO bestimmt, dass das persönliche Gespräch zeitnah geführt werden soll, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat gem. Art. 26 Abs. 1 Dublin III-VO entschieden wird. Art. 26 Abs. 1 Dublin III-VO hebt mit der “Überstellungsentscheidung” auf die Unzulässigkeitsentscheidung ab – diese ist erst durch Bescheid vom 10. April 2017 erfolgt und damit weit nach der Anhörung (vom 2. März 2017) – und nicht auf das Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch.
Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass selbst eine gänzlich fehlende Anhörung auch angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 17.1.2017 – 2 BvR 2013/16 – juris) nicht automatisch die Rechtswidrigkeit des Bescheids begründen würde: Wenn die Entscheidung des Bundesamtes auch bei Durchführung des nach Art. 5 Dublin III-VO erforderlichen Gesprächs nicht anders ausgefallen wäre, scheidet eine Verletzung des Klägers in seinen materiellen Rechten aus, denn aus einem Verfahrensfehler an sich erwächst ihm nicht in jedem Fall ein subjektives Recht (statt aller VG Potsdam, Gerichtsbescheid v. 21.6.2017 – 1 K 2454/16.A – juris m.w.N.). Es ist hier nichts dafür ersichtlich, dass die Entscheidung für den hypothetischen Fall einer fehlenden Anhörung anders ausgefallen wäre; das Bundesamt stützte seine Entscheidung maßgeblich auf Erkenntnisse in Form eines Eurodac-Treffers für Italien.
b) Weiter ist auch, anders als der Antragsteller meint, die Überstellungsfrist nicht abgelaufen. Es wird verwiesen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – juris), wonach ein Eilantrag – wie der hier gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO – den Lauf der Frist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO unterbricht.
c) Die Überstellung an Italien ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinn des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Italien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt wäre. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) entspricht. Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Betroffenen führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GRCharta ausgesetzt zu werden. Eine Widerlegung der Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten anzunehmen, an die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
Das Gericht geht nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im oben genannten Sinne gegeben sind. Dazu wird Bezug genommen auf die fast einhellige Rechtsprechung, die keine systemischen Mängel hinsichtlich Italien (an-)erkennt (VG Osnabrück, B.v. 8.8.2017 – 5 B 212/17 – juris; VG München, B.v. 20.2.2017 – M 9 S 17.50105 – juris; B.v. 29.12.2016 – M 1 S 16.50997 – juris; VG Hamburg, B.v. 8.2.2017 – 9 AE 5887/16 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 18.1.2017 – 12 L 3754/16.A – juris; BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris; OVG NW, U.v. 21.6.2016 – 13 A 1896/14.A – juris; NdsOVG, U.v. 25.6.2015 – 11 LB 248/14 – juris; zumeist mit Bezug u.a. auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NW vom 23. Februar 2016 und auf den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (i.F.: SFH) vom August 2016: “Aufnahmebedingungen in Italien – Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden in Italien”, einsehbar z.B. über MILO oder Asylfact bzw. in der Gerichtsbibliothek – Dublin-Sammlung: Italien – bzw. teils frei zugänglich im Internet abrufbar). Nach dieser Erkenntnislage erhalten Asylsuchende (Neuankömmlinge und Rückkehrer gleichermaßen) zuverlässig eine Unterkunft – u.a. über die CAS- bzw. über die SPRAR-Einrichtungen – und sonstige Versorgung (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. Februar 2016, a.a.O., S. 4ff.; Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., S. 18ff., insb. S. 28ff.). Es werden stetig zusätzliche Aufnahmezentren geschaffen; das Aufnahmesystem in Italien ist innerhalb von vier Jahren von ca. 5.000 Plätzen auf ca. 120.000 Plätze angewachsen (Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., S. 15). Es ist mithin nichts dafür ersichtlich, dass die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung überschritten wäre; dies wäre erst dann der Fall, wenn absehbar wäre, dass auf die erhöhte Zahl von Einwanderern keinerlei Maßnahmen zur Bewältigung des Problems ergriffen würden (z.B. VG Schwerin, U.v. 26.9.2016 – 16 A 1757/15 As SN – juris; VG Hamburg, B.v. 8.2.2017 – 9 AE 5887/16 – juris; OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris). Probleme bei der Unterbringung in der zweiten Jahreshälfte 2015 rechtfertigen keine andere Einschätzung, da diesbezügliche Schwierigkeiten nicht nur in Italien, sondern in weiten Teilen Europas bestanden. Auch der insgesamt eher kritische Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., sieht diesbezüglich in erster Linie nur die Aufnahmesituation von “Personen mit Schutzstatus” in Italien als problematisch an, nicht aber die Bedingungen für Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer (vgl. S. 18ff. einerseits und S. 33ff. andererseits). Es ist klarzustellen, dass die Frage “systemischer Mängel” nur die Durchführung des Asylverfahrens betrifft und dass eine Anwendung dieser Rechtsfigur auf bereits anerkannte Flüchtlinge deshalb ausscheiden muss (vgl. VG Hamburg, U.v. 9.1.2017 – 16 A 5546/14 – juris in Auseinandersetzung mit anderen Ansichten; VG München, B.v. 20.2.2017 – M 9 S 17.50105 – juris; VG München, B.v. 11.1.2017 – M 8 S 16.51193 – juris). Weiter ist festzuhalten, dass die Dublin III-VO gerade nicht zu einem “forum shopping” dergestalt verhelfen soll, dass der Betroffene ein Recht darauf habe, sich einen Mitgliedstaat für die Prüfung seines Asylantrags auszusuchen, der beispielsweise ein besseres soziales Sicherungssystem oder bessere Unterbringungsmöglichkeiten bietet (statt aller OVG NW, U.v. 10.3.2016 – 13 A 1657/15.A – juris). Auch der Umstand, dass sich die Situation des Antragstellers in Italien eventuell schlechter darstellt als im Bundesgebiet, begründet keinen systemischen Mangel des dortigen Asylverfahrens (vgl. EGMR, E.v. 2.4.2013 – Nr. 27725/10 – juris; VG München, B.v. 9.11.2016 – M 6 S 16.50638 – juris). Alle Asylbewerber haben in Italien kostenfreien Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem (OVG NW, U.v. 22.9.2016 – 13 A 2448/15.A – juris; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. Februar 2016, a.a.O., S. 6). Alle, auch irregulär anwesende Personen und Rückkehrer, haben ein Recht auf medizinische Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall, auch ohne Selbstbehalt (Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., S. 54f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. Februar 2016, a.a.O., S. 6). Das sog. ticket – der Selbstbehalt – muss darüber hinaus auch langfristig nicht bezahlt werden, solange eine nicht erwerbstätige Person bspw. in einer SPRAR-Einrichtung untergebracht ist oder eine sog. STP-Karte besitzt (Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., S. 56f.). Zugang zu einem Hausarzt und zu weiteren medizinischen Leistungen erhält man über eine Gesundheitskarte, die man ohne weiteres über eine Registrierung bei den lokalen Institutionen erlangt (Bericht der SFH vom August 2016, a.a.O., S. 55).
2. Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse – bezogen auf Italien -, § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG, oder inlandsbezogene Vollzugshindernisse, die jeweils im Rahmen der Abschiebungsanordnung, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG zu prüfen sind (vgl. BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris), wurden nicht belegt.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass eine vonseiten eines Facharztes diagnostizierte Krankheit keinesfalls zwingend “generell” eine Reiseunfähigkeit oder die Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen zur Folge hat (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 8.2.2013 – 10 CE 12.2396 – juris). Krankheiten hindern nicht per se die Überstellung im Sinne einer Transportunfähigkeit, v.a. nicht ins innereuropäische Ausland – vorliegend: Italien – (kurze Reisewege, geringe Belastung), und begründen nicht etwa “regelhaft” ein ernsthaftes Risiko dergestalt, dass sich der Gesundheitszustand des Betroffenen unmittelbar durch die Ausreise oder Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird.
Das Vorbringen des Antragstellers bezüglich etwaig bestehender Erkrankungen ist nicht stringent. In seiner Zweitbefragung vom 2. März 2017 gab er gegenüber dem Bundesamt noch an, nicht an Beschwerden, Erkrankungen, Gebrechen oder an einer Behinderung zu leiden (Bl. 89 d. BA).
Im Laufe des Gerichtsverfahrens wurden dann zunächst eine Stellungnahme der Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt vom 27. März 2017 (Bl. 6ff. d. Gerichtsakts – i.F.: GA – im Verfahren M 9 K 17.51088) und ein Befundbericht von B. & Kollegen (…), Fachärzte für Laboratoriumsmedizin, Mikrobiologie, Virologie (…) vom 4. April 2017 (Bl. 3 d. GA) vorgelegt. Danach habe die serologische Untersuchung bezüglich Hepatitis B einen isoliert positiven Nachweis von anti-HBc ergeben. Es handele sich in diesen Fällen bekanntlich meist um eine zurückliegende Infektion mit HBV oder um einen unspezifischen Befund. Es könne jedoch in sehr seltenen Fällen auch eine chronische HBV-Infektion zugrunde liegen. Hepatitis B-DNA (PCR) habe nicht nachgewiesen werden können. Es gebe keine Hinweise auf Virämie, Infektiosität sei unwahrscheinlich.
Nach diesen fachlichen Stellungnahmen leidet der Antragsteller nicht an (akuter) Hepatitis B. Er hat im Zweifel in der Vergangenheit eine akute Hepatitis B durchgemacht und dann Antikörper ausgebildet. Es wird darauf hingewiesen, dass auch eine – nach den fachlichen Stellungnahmen nicht wahrscheinliche, aber nicht sicher auszuschließende – chronische Hepatitis B medikamentös behandelt werden kann. Auch eine chronische Hepatitis B begründete weder ein inlandsbezogenes Vollzugs- noch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis.
Auch das knapp 1 ½-seitige, im Folgenden überwiegend wörtlich wiedergegebene, von einem Assistenzarzt unterzeichnete Attest der Praxis Dr. S. M. vom 16. Mai 2017, wonach der Antragsteller an einer Schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (ICD-Code F32.2G) leide und wonach “Verdacht” bestehe auf PTBS (F43.1), ändert hieran nichts.
Nach dem Attest wurden die genannten Diagnosen aufgrund einer einzigen Sitzung gestellt, vgl. unter “Aktuelle Beschwerden” folgende Passage: “Herr O. stellte sich mit einem schweren depressiven Syndrom zum ersten Mal vor”. Ebenfalls unter “Aktuelle Beschwerden” wird Folgendes – wohl zum Auslöser der festgestellten Krankheitsbilder – festgehalten: “Sein Vater war ein wohlhabender Mann in Nigeria, er besaß viele Grundstücke. Er hatte Konflikte mit seinen Verwandten wegen diesen Ländereien, danach wurden viele von seinen Arbeitern getötet und sein Haus wurde zerstört. Dann Herr O. flüchten musste und sein Land verlassen, weil sein leben war in Gefahr.” Unter “Psychisch Befund” findet sich Folgendes: “Spricht leise, wach, klar, zur Person, situativ und örtlich orientiert. Psychosomatik war unruhig. Spricht monotone, keine Motivation. Konzentration reduziert, ebenso die Merkfähigkeit. Kein Anhalt für inhaltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen oder psychotische Ich-Störungen. Im Affekt sehr depressive, gedrückte Stimmungslage, ängstlich, unter druck stehend. Im interpersonellen Kontakt Hilfe suchend und freundlich. Ein und Durchschlafstörungen mit Alpträume. Kein Anzeichen von akute Suizidalität.” Nach diesem Absatz kommt der behandelnde Arzt unter “Beurteilung/Empfehlung” zu folgendem Ergebnis: “Bei der Patient besteht weiterhin ein ausgeprägtes depressives Trauma, assoziierte Symptomatik mit Müdigkeit, Antriebslosigkeit und wenig Ausdauer, seit dem Trauma in seinem Heimatland. Eine ambulante Behandlung wäre aus fachärztlicher Sicht sehr empfehlenswert. Aufgrund der o.g. Beschwerden – im Rahmen der Depression und PTSD – ist der Patient in vielen Bereichen überfordert. Eine zusätzliche psychosoziale Belastung kann den Behandlungsprozess massiv erschweren bzw. zu einer Dekompensation / Verschlechterung der Erkrankung führen. Bei einer Abschiebung ist ernsthaft mit einer Selbstgefährdung zu rechnen. Eine ambulante Psychotherapie sei dringend zu empfehlen.” Unter “Aktuelle Psychopharmaka-Medikation” schließlich sind 20 mg Citalopram und 50 mg Quetiapin aufgeführt.
Den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG wird das Attest nicht gerecht. Hiernach soll die ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2017 – 19 CE 17.657 – juris).
Es ist bereits unklar, woran der Antragsteller nach dem Attest leiden soll. Während zunächst lediglich ein “Verdacht auf PTBS” genannt wird, scheint das Krankheitsbild weiter unten angenommen worden zu sein – “im Rahmen der (…) PTSD” -. Im Übrigen fehlen nachvollziehbare Angaben u.a. dazu, worauf sich die gestellten Diagnosen stützen, insbesondere dazu, wie der Assistenzarzt nach nur einer Sitzung zu seinen Annahmen kommt – etwaige Vorbefunde wurden weder dargelegt noch in die Beurteilung einbezogen. Methoden der Tatsachenerhebung (z.B. ausführliche Gespräche mit dem Antragsteller mit Dolmetscher in mehreren Sitzungen, Therapieplan, Untersuchungsmethoden, psychologische Testverfahren) werden nicht aufgezeigt. Die Exploration scheint sich ausschließlich auf die Angaben des Antragstellers in einer einzigen Sitzung zu stützen; es erfolgte kein Abgleich der Schilderungen mit etwaigen eigenen Befunden. Schließlich wird zunächst kein Anzeichen von akuter Suizidalität gesehen, später aber apodiktisch festgestellt, dass bei einer Abschiebung – wohlgemerkt: nach Italien – ernsthaft mit seiner Selbstgefährdung zu rechnen sei. Es bleibt unklar, worauf sich diese letzte Einschätzung gründet, gerade eingedenk dessen, dass als Grund etwaiger psychischer Erkrankungen (wohl) ein “Trauma im Heimatland”, sprich: in Nigeria, ausgemacht wurde. Nach alledem ist das Attest weder geeignet, die gestellten Diagnosen zu belegen noch – darüber hinaus – ein inlandsbezogenes Vollzugshindernis darzutun. Offen bleiben kann nach alledem, ob die Beurteilung durch einen Assistenzarzt überhaupt eine “qualifizierte ärztliche Bescheinigung” darstellen kann.
Nur ergänzend wird darauf verwiesen, dass selbst bei Annahme einer Suizidgefahr – die hier nicht dargetan wurde – nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vorläge; vielmehr ist die Abschiebung von der Ausländerbehörde dann so zu gestalten, dass einer Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (vgl. bspw. bei BayVGH, B.v. 23.8.2016 – 10 CE 15.2784 – juris).
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kommt, ungeachtet dessen, dass das Krankheitsbild nicht glaubhaft gemacht wurde, ebenfalls nicht in Betracht. Die Medikamente, die der Antragsteller einnimmt, erhält er als Asylsuchender auch in Italien. Eine “ambulante Psychotherapie”, die das Attest weiter empfiehlt, kann er – falls erforderlich – dort ebenfalls absolvieren.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben