Europarecht

Einreiseverweigerung wegen Einreise aus sicherem Drittstaat

Aktenzeichen  M 24 E 17.2217

Datum:
6.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 15 Abs. 1
AsylG AsylG § 18 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 26a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit g, Art. 7 Abs. 1, Abs. 3, Art. 9

 

Leitsatz

Eine vorrangige Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass der Zwillingsbruder des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland subsidiären Schutz genießt, da Geschwister schon begrifflich nach der Legaldefinition des Art. 2 lit. g Dublin III-VO keine Familienangehörigen sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein syrischer Staatsangehöriger, versuchte am … April 2017 an der Grenzübergangsstelle … in die Bunderepublik Deutschland einzureisen.
Mit Bescheid vom … April 2017 verfügte die Antragsgegnerin gemäß Art. 14 Schengener Grenzkodex i.V.m. § 15 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Einreiseverweigerung gegenüber dem Antragsteller, da er ohne gültige Ausweisdokumente und ohne gültiges Visum oder gültigen Aufenthaltstitel an der Grenze erschienen sei.
Am … Mai 2017 beantragte der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten,
dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, dem Antragsteller bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu EUR 250.000,00 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorläufig zu gestatten.
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller habe einen Zwillingsbruder, der bereits vor mehreren Monaten in die Bundesrepublik eingereist sei und dort einen Asylantrag gestellt habe. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe diesem subsidiären Schutz zuerkannt. Der Antragsteller beabsichtige nun ebenfalls, zu seinem Zwillingsbruder in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen, um dort einen Asylantrag zu stellen. Am … April 2017 habe der Antragsteller gegen 21.30 Uhr an der Grenzübergangsstelle … in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen. Mit Bescheid vom gleichen Tag habe die Antragsgegnerin eine Einreiseverweigerung verfügt, da der Antragsteller ohne gültige Reisedokumente vorgesprochen habe bzw. nicht über ein gültiges Visum oder einen Aufenthaltstitel verfüge. Der Antragsteller halte sich derzeit unter der im Rubrum angegebenen Adresse auf. Die Einreise in die Bundesrepublik sei nicht erfolgt. Der Antragsteller beabsichtige, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl zu beantragen. Dies habe er gegenüber dem diensttuenden Grenzkontrollbeamten auch unmissverständlich geäußert. Dennoch sei ihm die Einreise verwehrt worden. Der Antragsteller habe gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … April 2017 am … Mai 2017 Widerspruch eingelegt. Ihm sei nicht zuzumuten, abzuwarten, bis über den Widerspruch rechtskräftig entschieden worden sei. Die Einreise zum Zwecke der Asylantragstellung sei ihm vorläufig zu gestatten.
Mit Schreiben vom … Mai 2017 legte der Antragsgegner die Sachakte der Bundespolizei vor. Mit weiterem Schreiben vom … Mai 2017 beantragte die Antragsgegnerin, den Antrag zurückzuweisen.
Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller halte sich in Italien (in einem sicheren Drittstaat) auf. Er habe eine italienische Adresse. Sein aktueller aufenthaltsrechtlicher Status in Italien sei nicht bekannt. Es sei ihm unbenommen, sich in Italien registrieren zu lassen und die Erlangung eines Aufenthaltstitels für Italien zu betreiben. Er könne auch aus dem Ausland ein Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland betreiben; das Erfordernis einer Einreise ergebe sich daraus nicht. Die Voraussetzungen einer Vereitelung oder wesentlichen Erschwerung eines Rechts des Antragstellers sei nicht erkennbar. Es werde lediglich ohne nähere Begründung behauptet, es sei ihm nicht zuzumuten, in Italien die rechtskräftige Entscheidung über seinen Widerspruch abzuwarten. Die Dringlichkeit der Entscheidung sei nicht glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller habe auch keinen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Er erfülle die bestehenden Pass- und Visa-Voraussetzungen für eine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht, da er nicht die eine Einreise legitimierenden Dokumente vorweisen könne. Sein syrischer Reisepass sei von …2015 bis …2017 gültig gewesen und mithin abgelaufen. Entgegen dem Vorbringen seiner Prozessvertretung habe der Antragsteller im Rahmen seiner Befragung zum Anlass der Einreise nach Deutschland gerade nicht unmissverständlich geäußert, Asyl in Deutschland beantragen zu wollen. Auf die konkrete Frage, ob er in seinem Heimatland wegen seiner Rasse, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden, habe er im Rahmen der Befragung zum Anlass der Einreise am … April 2017 ausdrücklich erklärt: „Nein, ich werde nicht verfolgt“. Er habe weiter erklärt: „In meinem Land ist Krieg, besonders in dem Ort, in dem ich lebte. Ich bin geflüchtet, weil ich keinen Wehrdienst leisten wollte. Ich möchte Schutz“. Diese Äußerungen würden kein unmissverständliches Schutzersuchen im Sinne des Art. 16a Grundgesetz, § 2 Asylgesetz (AsylG) darstellen. Zu der Mitteilung, ein Zwillingsbruder lebe in Deutschland, werde darauf hingewiesen, dass ein Bruder kein Familienangehöriger i.S.v. Art. 2 lit. g) Dublin-III-VO sei, so dass sich daraus keine Pflicht des Staates zum Schutz der Familie ableiten lasse.
Die Einreiseverweigerung sei rechtmäßig gewesen. Sie sei sofort vollzogen worden (§ 15 AufenthG, Art. 14 Abs. 3 Satz 4 Schengener Grenzkodex). Das Widerspruchsverfahren könne daher auch nicht zu einer Aufhebung der Einreiseverweigerung führen, genauso wenig zu dem gewünschten Rechtsschutzziel einer Gestattung der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Der Antragsteller habe keine Rechtsposition, um aus Italien zur Asylantragstellung vorläufig nach Deutschland einzureisen. Ungeachtet dessen käme es einer Vorwegnahme der Hauptsache gleich, wenn dem Antragsteller eine Einreise vorläufig gestattet würde.
Mit Beschluss vom … Juni 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO bleibt ohne Erfolg.
1. Auf Antrag kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung u.a. nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Mit dem Eilantrag sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund geltend und glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO).
2. Für die Entscheidung über den Antrag ist das Verwaltungsgericht München insbesondere örtlich zuständig, weil der streitgegenständliche Bescheid von der Bundespolizeiinspektion … erlassen wurde, die ihren Sitz im Regierungsbezirk Oberbayern und damit im Gerichtsbezirk hat (§ 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO, § 52 Nr. 2 Satz 1 und 2 VwGO, Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung – AGVwGO).
3. Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft in Form der Regelungsanordnung (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO) mit dem Ziel der Gestattung der Einreise, da in der Hauptsache die Verpflichtungsklage die statthafte Klage wäre (§ 123 Abs. 5 VwGO).
4. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Vorliegend wurde ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat gegenüber der Antragsgegnerin keinen Anspruch auf Gestattung der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland.
4.1. Nach § 15 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, der unerlaubt einreisen will, an der Grenze zurückgewiesen. Da der Antragsteller weder im Besitz eines gültigen Reisedokuments noch eines gültigen Visums oder Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland ist, wäre seine Einreise am … April 2017 unerlaubt gewesen (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG, Art. 6 Abs. 1 lit a) und lit b) Schengener Grenzkodex i.V.m. § 1 Abs. 1 EG-VisaVO und deren Anlage 1).
4.2. Aufgrund seines Vorbringens im Rahmen der Befragung zum Anlass der Einreise, „dass in seinem Land Krieg sei, besonders in dem Ort, in dem er lebte, und er geflüchtet sei, weil er keinen Wehrdienst habe leisten wollen, und er Schutz wolle“, ist dem Antragsteller auch nicht unabhängig vom Fehlen eines gültigen Reisedokuments und eines gültigen Visums oder Aufenthaltstitels die Einreise zu gestatten (§ 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nicht zurückgewiesen werden, solange ihm ein Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes gestattet ist.
Insoweit ist vorliegend zweifelhaft, ob in dem Vorbringen des Antragstellers im Rahmen der Befragung zum Anlass der Einreise bereits die Äußerung eines Asylbegehrens zu sehen ist. Selbst wenn dies jedoch der Fall sein sollte, wäre dem Antragsteller auch nach der Vorschrift des § 18 AsylG die Einreise zu verweigern gewesen.
4.2.1. Nach § 18 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) ist ein Ausländer, der bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, unverzüglich an die zuständige oder, sofern diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten.
Ihm ist jedoch u.a. die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) einreist oder wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AsylG).
Von der Einreiseverweigerung ist im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) u.a. abzusehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG).
4.2.2. Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob und ggf. im Hinblick auf welchen Staat von der Antragsgegnerin ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. der Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin-III-VO) eingeleitet würde, da der Antragsteller jedenfalls von Österreich kommend am Grenzübergang Kiefersfelden aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) einreisen wollte, so dass ihm bereits deshalb die Einreise zu verweigern war (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG).
Im Rahmen des Eilantrages wurde auch weder geltend, jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den Vorschriften der Dublin-III-VO für die Durchführung eines Asylverfahrens im Hinblick auf den Antragsteller zuständig ist, so dass nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG von der Einreiseverweigerung hätte abgesehen werden müssen. Eine nach der gemäß Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO verbindlichen Rangfolge des Zuständigkeitskriterienkatalogs vorrangige Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich jedenfalls nicht daraus, dass der Zwillingsbruder des Antragstellers in Deutschland lebt und hier subsidiären Schutz erhalten hat. Da Geschwister nach der verbindlichen Definition des Art. 2 lit g) Dublin-III-VO schon begrifflich keinen Familienangehörigen i.S. der Dublin-III-VO sind und der Antragsteller ebenso wie sein Zwillingsbruder volljährig ist, sind die Zuständigkeitsregelungen der Art. 8 bis 11 Dublin-III-VO nicht einschlägig.
5. Da der Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO erfolglos bleibt, kommt es auf die rechtliche Bewertung des Passus „bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu EUR 250.000,00“ vorliegend nicht an. Es sei jedoch darauf hinwiesen, dass nach § 172 VwGO ein etwaiges Zwangsgeld bis 10.000,00 Euro gegen eine Behörde erst nach deren Säumnis angedroht und erst nach fruchtlosem Fristablauf festgesetzt werden kann.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der unterliegende Teil hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nr. 1.5 und Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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