Europarecht

Erfolgloser Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung (Iran)

Aktenzeichen  W 8 S 18.50563

Datum:
4.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 444
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 4
AsylG § 24 Abs. 1 S. 3, § 25, § 31, § 80, § 83b
VwGO § 80 Abs. 5, § 154 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Das früher erteilte Visum eines anderen Mitgliedsstaates fällt als zuständigkeitsbegründendes Kriterium im Fall der erneuten Einreise des Asylsuchenden weg. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Glaubhaftigkeit des Vorbringens eines Asylantragstellers lässt sich bei einer Personenverschiedenheit von Anhörer und Entscheider nur verneinen, wenn allein aus der Lektüre des Protokolls der Anhörung eine Analyse der Angaben des Antragstellers auf seine Glaubhaftigkeit hin möglich ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 3. Dezember 2018 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist iranische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 28. August 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte ein Asylgesuch und stellte am 6. September 2018 einen förmlichen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 1. Oktober 2018 reagierten die italienischen Behörden nicht.
Mit Bescheid vom 3. Dezember 2018 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 10. Dezember 2018 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 18.50562 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
1.die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Dezember 2018, Geschäftszeichen: …, zugestellt am 5. Dezember 2018, wiederherzustellen;
2.der Antragsgegnerin mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur Entscheidung über den Eilantrag nicht durchgeführt werden dürfen.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin im Wesentlichen vorbringen: Zutreffend sei, dass die Antragstellerin ein italienisches Visum erhalten habe und für wenige Tage nach Italien gereist gewesen sei. Von dort aus sei sie wieder nach Teheran zurückgereist. In Teheran sei sie inhaftiert und wegen ihrer Reise nach Italien verhört worden. Dort seien bei der Inhaftierung ihre Unterlagen einbehalten worden. Die Antragstellerin sei dann in die Türkei gereist und von dort direkt nach Nürnberg geflogen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 18.50562) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragstellerin ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 3. Dezember 2018 begehrt.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 3. Dezember 2018 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten, so dass das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Es spricht viel dafür, dass Italien für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig ist, sondern die Antragsgegnerin. Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO. Zwar liegt ein am 10. Juni 2018 von Italien erteiltes Visum vor (gültig vom 19.6.2018 bis 18.7.2018). Das Visum ist auch noch nicht mehr als sechs Monate abgelaufen (vgl. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO).
Jedoch besteht bei summarischer Prüfung keine Zuständigkeit Italiens, weil es an der weiteren Voraussetzung des Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO fehlt, dass die Antragstellerin zwischenzeitlich das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten nicht verlassen hat. Jeder Fall der Ausreise aus dem Unionsgebiet ist relevant. Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ist eindeutig. Das früher erteilte Visum fällt als zuständigkeitsbegründendes Kriterium im Fall der erneuten Einreise des Asylsuchenden weg (Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 29 AsylG Rn. 36; Funke-Kaiser in GK-AsylG, Herausgeber Fritz, Vormeier, Lfg. 111, 1.4.2017, § 29 AsylG Rn. 138; vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 11.8.2017 – W 8 S 17.50436 – juris; ebenso VG Meiningen, U.v. 30.8.2018 – 2 K 1018/18 Me – Asylmagazin 2018, 377; VG München, B.v. 14.2.2018 – M 1 S7 17.53424 – juris).
Das Gericht ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nach Aktenlage nicht davon überzeugt, dass die zwischenzeitliche Heimreise der Antragstellerin lediglich eine Schutzbehauptung ist. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugestehen, dass die Antragstellerin keinerlei Dokumente oder sonstige Belege für ihre zwischenzeitliche Heimreise in den Iran vorgelegt hat, jedoch ist die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid (vgl. dort S. 12) nicht auf die ausführlichen Angaben der Antragstellerin zu den Vorkommnissen nach ihrer Rückkehr aus Italien eingegangen.
Dies mag auch daran liegen, dass Anhörer und Entscheider auseinanderfallen. Zwar ist mittlerweile geklärt, dass eine Personenidentität von Anhörer und Entscheider im Asylverfahren nach den einschlägigen Vorschriften (vgl. § 5, §§ 24 ff., § 31 AsylG) nicht als erforderlich vorgesehen ist und eine Personenverschiedenheit verfassungsrechtlich und europarechtlich nicht bedenklich ist (vgl. m.w.N. BayVGH, B.v. 5.2.2018 – 11 ZB 17.31802 – juris; VG München, B.v. 17.10.2017 – M 21 S 17.38121 – juris; OVG NRW, B.v. 1.8.2017 – 11 A 533/17.A – juris; VG Bayreuth, B.v. 4.4.2017 – B 4 S 17.30876 – juris; VGH BW, B.v. 31.1.2017 – A 9 S 1047/16 – VBlBW 2017, 424; Berlit, NVwZ-Extra 4/2017 S. 8).
Jedoch lässt sich – wenn es wie hier entscheidungserheblich auf die Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Antragstellerin ankommt – bei einer Verschiedenheit von Anhörer und Entscheider die Antragsablehnung wegen Unglaubhaftigkeit nur begründen, wenn das Protokoll über die Anhörung eine entsprechende Schlussfolgerung zulässt. Danach muss allein aus der Lektüre des Protokolls der Anhörung eine Analyse der Angaben der Antragstellerin auf ihre Glaubhaftigkeit möglich sein. Hierzu sind etwa Angaben im Protokoll nötig, ob und in welcher Weise auf eine detailarme und/oder oberflächliche bzw. widersprüchliche Darstellung des Sachverhalts durch die Antragstellerin reagiert wurde, beispielsweise durch konkrete Vorhalte ungereimter Angaben, Nachfragen oder durch Aufforderungen, nähere Details zu ergänzen, gerade weil subjektive Eindrücke aus der Anhörung wie Körpersprache, Stimmlage, Blickkontakt für den Entscheider fehlen (vgl. VG Braunschweig, B.v. 15.6.2017 – 5 B 283/17 – Asylmagazin 2018, 90; VG Greifswald, B.v. 6.12.2016 – 4 B 1987/16 As HGW – juris; vgl. ebenso schon VG Würzburg, B.v. 20.6.2017 – W 8 S 17.32595 – juris; B.v. 19.12.2016 – W 5 S 16.32663 – juris; B.v. 27.7.2015 – W 6 S 15.30502 – juris, jeweils m.w.N.; vgl. auch Berlit, NVwZ-Extra 4/2017, S. 8).
Ausgehend davon kann das Gericht bei Lektüre der behördlichen Anhörungsprotokolle die Unglaubhaftigkeit des Vorbringens der Antragstellerin zu ihrer zwischenzeitlichen Heimreise bei summarischer Prüfung nicht mit hinreichender Gewissheit feststellen. In dem Zusammenhang ist schon darauf hinzuweisen, dass die Antragsgegnerin in ihrem streitgegenständlichen Bescheid auf Seite 12 ihrerseits widersprüchlich argumentiert, indem sie im vorletzten Absatz ausdrücklich anmerkt, „selbst bei Wahrunterstellung ihres Vortrags, wonach ihr alle Dokumente bei der Ankunft im Iran abgenommen worden seien, … sei nicht ersichtlich …“. Denn wenn die Antragsgegnerin wirklich, wie von ihr formuliert, mit ihrer Wahrunterstellung konsequent bliebe, würde und müsste sie selbst gerade als wahr unterstellen, dass die Antragstellerin im Iran gewesen ist, wo ihr die Dokumente bei ihrer Ankunft nach der Rückkehr aus Italien abgenommen worden sind.
Abgesehen davon hat die Antragstellerin bei ihrer Anhörung am 11. September 2018 substanziiert, detailliert und auch widerspruchsfrei von den Vorkommnissen, insbesondere ihrer Inhaftierung, nach ihrer Rückkehr aus Italien berichtet und auch in Einzelheiten ausführlich geschildert, wie sie etwa im Rahmen ihrer Inhaftierung an Händen und Füßen gefesselt gewesen sei, wie ihr einmal mit dem Schlagstock auf den Kopf geschlagen und sie bewusstlos geworden sei. Man habe sie auch getreten, man habe ihr mit Nachteile für ihre Mutter gedroht, man habe sie getreten und auch mit der Faust auf den Kopf geschlagen. Insofern gab es seitens des Anhörers keine Nachfragen oder gar Vorhalte wegen vermeintlichen unglaubhaften Vorbringens. Der Vermerk auf Seite 6 des Anhörungsprotokolls (Bl. 73 der Bundesamtsakte), wonach die Antragstellerin mehrmals aufgefordert worden sei, Fragen bitte konkret zu beantworten, ist nicht nachvollziehbar. Denn die betreffende Aussage der Antragstellerin, mit anderen Flüchtlingen zusammen in einem Zimmer gewesen zu sein, ist nicht unbedingt unkonkret oder ausweichend, wie die nachfolgende Passage zeigt, in der die Antragstellerin auf nochmalige Nachfrage gesagt hatte, sie sei vom Lkw ausgestiegen und für ungefähr eine Woche in einem Haus mit den anderen Flüchtlingen geblieben. Danach sei sie für einen Monat in ein anderes Haus gekommen und mit einem Taxi und dem Schleuser dann zum Flughafen in Istanbul gebracht worden. Auch der weitere Vorhalt auf Seite 8 des Anhörungsprotokolls (Bl. 75) ist nicht plausibel. Der Anhörer hat der Antragstellerin auf die Antwort nach dem letzten Telefonat mit der Schwester vor zwei Tagen vorgehalten, er habe die Antragstellerin zu Beginn der Anhörung gefragt, wann und mit wem sie den letzten Kontakt gehabt habe und warum sie das nicht angegeben habe. Denn ausweislich des Protokolls Seite 3 (Bl. 70) war die Frage nur nach dem Wann und nicht nach dem mit Wem des letzten Telefonats. Die Antragstellerin wurde vielmehr lediglich gefragt, wann sie das letzte Mal mit jemand aus ihrer Familie telefoniert habe. Als Antwort ist protokolliert, sie habe vor zwei Tagen mit ihrer Familie telefoniert. Insofern erscheint es stimmig, dann später zu konkretisieren, sie habe vor acht Tagen mit der Mutter telefoniert und vor zwei Tagen mit der Schwester. Im Übrigen ist auffällig, dass – was für die Glaubhaftigkeit des Vorbringens spricht – die Antragstellerin auch Einzelheiten und durchaus auch Nebensächlichkeiten berichtet. So schilderte sie etwa auch bei ihrer Anhörung am 27. September 2018 auf Seite 3 (Bl. 103), dass ihr nicht nur alle Dokumente, sondern sogar die Andenken, die sie in Europa gekauft habe, bei ihrer Rückkehr in den Iran weggenommen worden seien. Sie beschrieb im Übrigen wiederholt, dass sie nicht nur in Italien gewesen sei, sondern bei ihrer ersten Europareise mit ihren Brüdern, die sie in Italien getroffen habe, auch nach Deutschland/Würzburg gefahren sei und dann einen Freund in Griechenland besucht habe (vgl. Bl. 64 und Bl. 101 der Bundesamtsakte).
Steht die Zuständigkeit Italiens nach alledem nicht fest, sondern spricht viel für die Zuständigkeit der Antragsgegnerin, überwiegt das Interesse der Antragstellerin, einstweilen nicht nach Italien abgeschoben zu werden, sondern im Bundesgebiet zu bleiben.
Die Antragstellerin kann sich im Rahmen ihres Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auch auf den Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO berufen. Denn die Dublin III-VO gewährleistet, dass dem Schutzsuchenden ein wirksamer Rechtsbehelf gegen jede ihm gegenüber möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zusteht (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – ABl EU 2017, Nr. C 309, 17; siehe auch VG Meiningen, U.v. 30.8.2018 – 2 K 1018/18 Me – Asylmagazin 2018, 377).
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.


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