Europarecht

Erfolgloser Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  M 9 S 18.50073

Datum:
16.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 7053
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1
EMRK Art. 14
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Das durch Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessen wird nicht überschritten, wenn der Selbsteintritt nicht zugunsten beider Elternteile eines Kindes, dessen Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird, ausgeübt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen einen sog. Dublin-Bescheid.
Er wurde nach eigenen Angaben und ausweislich seines Nationalpasses am 21. Februar 1987 geboren und ist Staatsangehöriger Nigerias (Bl. 17, 82 d. Behördenakts – i. F.: BA -). Der Antragsteller reiste nach eigenen Angaben am 25. Dezember 2015 nach Italien und am 12. November 2017 in das Bundesgebiet ein (Bl. 5f., 81 d. BA) – was durch eine im Verwaltungsvorgang befindliche Aufgriffsanzeige der Polizei bestätigt wird (Bl. 65ff. d. BA) -. Er habe in Italien zwar internationalen Schutz beantragt, nicht aber zuerkannt bekommen (Bl. 6, 291f. d. BA). Der Antragsteller beantragte am 1. Dezember 2017 förmlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (i. F.: Bundesamt) Asyl (Bl. 17 d. BA).
Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie 1 für Italien, übermittelt am 13. November 2017 – Datum der Fingerabdruckabnahme und der Erstantragsstellung in Italien demnach: 22. Februar 2016 – (Bl. 3, 53 d. BA), wurde am 11. Dezember 2017 ein Wiederaufnahmegesuch an Italien gerichtet (Bl. 54ff. d. BA); eine Zugangsbestätigung liegt vor (Bl. 61ff. des BA). Die italienischen Behörden haben bis dato nicht geantwortet. Der Verwaltungsvorgang enthält eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (i. F.: BÜMA) vom 20. November 2017, die dem Bundesamt laut Eingangsstempel am 23. November 2017 zugegangen ist (Bl. 37 d. BA).
Mit Bescheid vom 29. Dezember 2017, Gz. 7277459-232, bekanntgegeben am 5. Januar 2018 (Bl. 128 d. BA), lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Das Bundesamt habe am 13. November 2017 durch behördliche Mitteilung schriftlich Kenntnis vom Asylgesuch des Antragstellers erhalten. Wegen der Begründung des Bescheids im Übrigen wird auf diesen Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Der Antragsteller persönlich hat am 8. Januar 2018 Klage gegen den Bescheid erhoben und Eilantrag gestellt. Vorliegend beantragt er, hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Italien die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Es werde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen. Zudem werde darauf hingewiesen, dass die Ehefrau des Antragstellers, Fr. Rebecca C., schwanger sei. Eine Kopie des Mutterpasses sowie der noch zu erklärenden Vaterschaftsanerkennung würden nachgereicht. Seine Ehefrau habe versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem sie ihren Dublin-Bescheid erhalten habe.
Die Antragsgegnerin hat sich weder eingelassen noch Anträge gestellt.
Das Gericht hat die Antragstellerseite mit Schreiben vom 28. Februar 2019 aufgefordert, die angekündigte Vaterschaftsanerkennung und die Geburtsurkunde vorzulegen. Auch auf dieses Schreiben hin sind keine Unterlagen vorgelegt worden. Der Dublin-Bescheid von Fr. Rebecca C. ist mit Aufhebungsbescheid vom 7. Mai 2018 mit Hinweis auf die Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR aufgehoben worden; ihre Gerichtsverfahren (M 9 K 18.50070 und M 9 S 18.50071) sind daraufhin mit Beschluss vom 28. Mai 2018 eingestellt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
1. An der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt zutreffend auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung keine Zweifel. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Antragsgegnerin war hier zu Recht der Auffassung, dass Italien nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO zuständig ist.
Dies ergibt sich nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – BeckRS 2019, 4643 Rn. 61) schlicht daraus, dass Italien „den Erfordernissen nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO genügt“; d. h. dort wurde ein erster Asylantrag gestellt – wie durch den Eurodac-Treffer, Kategorie 1, nachgewiesen ist -, dessen Prüfung nach Aktenlage noch nicht abgeschlossen war, als im Bundesgebiet ein weiterer Asylantrag gestellt wurde. Sollte hingegen das nicht belegte Vorbringen des Antragstellers zutreffen, sein Asylantrag sei abgelehnt worden (Bl. 291ff. d. BA), träfen obige Überlegungen gleichermaßen auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO zu.
Auf Art. 8ff. Dublin III-VO kommt es nicht an; ob Italien tatsächlich zuständig ist, wird von den deutschen Institutionen inhaltlich nicht mehr geprüft, weder vom Bundesamt noch – im Entscheidungszeitpunkt, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG – vom Gericht.
Das Wiederaufnahmeverfahren wurde korrekt durchgeführt, Art. 23 Abs. 1, Abs. 2 Unterabs. 1 und 2, Art. 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 Dublin III-VO i.V.m. Art. 24 Abs. 4, Art. 9 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 603/2013. Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch, das am 11. Dezember 2017 (Bl. 56 d. BA) und damit rechtzeitig innerhalb der 2-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestellt wurde, nicht reagiert; Italien ist damit nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO zur Wiederaufnahme des Antragstellers verpflichtet. Auch die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris) parallel einzuhaltende 3-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO – die nach den Bescheidgründen bereits am 13. November 2017, nach der im Verwaltungsvorgang befindlichen BÜMA am 23. November 2017 anlief – wurde gewahrt.
b) Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO steht der Rückführung nicht entgegen.
Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 – BeckRS 2019, 4643) ist zweifelhaft, ob das Vorliegen systemischer Mängel im Wiederaufnahmeverfahren überhaupt noch zu prüfen ist (vgl. auch VG München, B.v. 15.4.2019 – M 9 S 18.52520 – wird veröffentlicht). Dies folgt daraus, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO voraussetzt, dass eine Überstellung des Antragstellers an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat aufgrund des dortigen Asylverfahrens und der dortigen Aufnahmebedingungen unmöglich ist. Eine derartige Zuständigkeitsbestimmung soll vom ersuchenden Mitgliedstaat aber im Fall von Wiederaufnahmeverfahren gerade nicht mehr durchgeführt werden. Andererseits ist der Frage systemischer Mängel wohl auch dann nachzugehen, wenn nur festzustellen ist, dass Italien – wie vom EuGH, a. a. O., Rn. 61 sibyllinisch formuliert – „den Erfordernissen nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO genügt“ und damit tauglicher Adressat des Wiederaufnahmegesuchs ist.
Da das Gericht nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ohnehin davon ausgeht, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen gegeben sind, kommt es auf die o. g. Frage nicht an. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Italien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) ausgesetzt wäre. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) entspricht. Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Betroffenen führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GRCharta ausgesetzt zu werden. Eine Widerlegung der Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten anzunehmen, an die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
Zum Nichtvorliegen systemischer Mängel wird Bezug genommen auf die einhellige Rechtsprechung und auf die ihr zugrunde liegende Erkenntnismittellage (exemplarisch NdsOVG, B.v. 6.6.2018 – 10 LB 167/18 – juris, bestätigt von BVerwG, B.v. 12.9.2018 – 1 B 50/18, 1 PKH 39/18 – juris; NdsOVG, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris, bestätigt von BVerwG, B.v. 3.9.2018 – 1 B 41/18 – juris; VG Cottbus, B.v. 4.1.2019 – VG 5 L 535/18.A – juris).
c) Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG oder ein inlandsbezogenes Vollzugshindernis (BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris) wurden nicht behauptet und/oder nach § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG glaubhaft gemacht (zur Heranziehung des § 60a Abs. 2c AufenthG auch i. R. v. zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen vgl. nur BayVGH, B.v. 26.4.2018 – 9 ZB 18.30178 – juris). Im Rahmen seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags gab der Antragsteller an, nicht an Beschwerden, Erkrankungen, Gebrechen oder an einer Behinderung zu leiden (Bl. 86 d. BA). Auch in der Folge wurden weder dem Bundesamt noch dem Gericht gegenüber Krankheiten behauptet und/oder belegt.
Auch eine gelebte Vater-Kind-Beziehung, die theoretisch zu einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK führen könnte (VG München, B.v. 26.2.2019 – M 11 S 19.50061 – Umdruck; B.v. 7.2.2019 – M 10 S7 18.53007 – Umdruck), wurde nicht dargetan. Nicht einmal die Vaterschaft wurde belegt. Weiter wurde nicht vorgetragen oder belegt, dass die Kindsmutter oder das Kind ein gesichertes Bleiberecht im Bundesgebiet hätten, was ebenfalls – u. a. – Voraussetzung eines Duldungsanspruchs nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wäre; berücksichtigungsfähig sind nur familiäre Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten.
Auch die allgemeinen Verhältnisse in Italien begründen kein Abschiebungsverbot. Unabhängig davon, dass die dortige Versorgungslage nach Obenstehendem unproblematisch ist, handelte es sich bei etwaigen schlechten humanitären Verhältnissen um eine Situation, der die gesamte Bevölkerungsgruppe „Asylbewerber“ (EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12, Tarakhel – NVwZ 2015, 127) ausgesetzt wäre, weshalb Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt würde. Eine extreme Gefährdungslage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG ausnahmsweise nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris), bei der ein Einzelner – hier: der Antragsteller – mithin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. 60.7.3.1 AufenthGAVwV; BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris; Göbel-Zimmermann u. a., Asyl- und Flüchtlingsrecht, Stand: 1. Auflage 2017, Rn. 324), liegt in Italien nicht vor.
2. Die Entscheidung des Bundesamts gegen die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO – die jederzeit und damit auch nach Bescheiderlass möglich ist, vgl. zudem § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG -, ist nicht zu beanstanden.
a) Offenbleiben kann, ob sich ein Antragsteller im gerichtlichen Verfahren überhaupt auf eine fehlerhafte Betätigung des durch Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumten Ermessens berufen könnte. Dies ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, soweit ersichtlich, noch nicht geklärt. Zwar werden den einschlägigen Entscheidungen (EuGH, U.v. 14.11.2013 – C-4/11, Puid – NVwZ 2014, 129; U.v. 16.2.2017 – C-578/16, C. K. u. a. – NVwZ 2017, 691) teilweise derartige Sinngehalte eingeschrieben (Anm. von Thym zu EuGH, U.v. 14.11.2013, a. a. O., NVwZ 2014, 130), das Gericht schließt sich aber der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts an, das diese Frage als nach wie vor offen bewertet (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16/18 – juris Rn. 38).
b) Inhaltlich hätte das Bundesamt die gesetzlichen Grenzen des in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumten Ermessens selbst dann nicht überschritten bzw. von diesem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht, § 114 Satz 1 VwGO, wenn die behauptete Vaterschaft belegt worden wäre. Letzteres ist aber ohnehin nicht geschehen, wieso die folgenden Ausführungen nur ergänzender Natur sind.
aa) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 4.11.2014 – 29217/12, Tarakhel – NVwZ 2015, 127) erklärt von vorn herein nur Kinder zu sog. vulnerable persons, nicht aber deren Väter (dass das Bundesamt in diesem Kontext nur Kinder unter drei Jahren als besonders verletzlich im Sinne dieser Rechtsprechung ansieht, fußt – soweit ersichtlich – auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 14). Es steht vorliegend auch nicht die Abschiebung der gesamten Familie im Raum wie im Fall des EGMR, a. a. O. D. h., dass sich vorliegend nur das Kind solange gegen eine Abschiebung zur Wehr hätte setzen können – im Sinne der Berufung auf ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis -, als nicht geklärt gewesen wäre, ob es bei der Übergabe an die italienischen Behörden eine gesicherte Unterkunft erhalten hätte (BVerfG, a. a. O.). Ein „direkter“ Anspruch des Antragstellers darauf, dass die Antragsgegnerin von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht, kommt also für ihn als etwaigen Kindsvater auf Basis der Tarakhel-Rechtsprechung von vorn herein nicht in Betracht. Ebenso wenig kann er sich insoweit auf ein individuelles Überstellungsverbot berufen, um die Abschiebungsanordnung an sich zu Fall zu bringen, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (dazu EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17, M. A. u. a. – NVwZ 2019, 297, 299ff.).
bb) Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO würde kein Anspruch des Antragstellers auf (gleichmäßige) Ausübung des Selbsteintrittsrechts erwachsen.
Bis dato wurden die Dublin-Bescheide der Kindsväter unter Berufung auf die Tarakhel-Rechtsprechung und „zur Wahrung der Familieneinheit“ stets aufgehoben, wie dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist. Die geänderte Verwaltungspraxis, nur mehr den Dublin-Bescheid der Mutter unter Berufung auf die Tarakhel-Rechtsprechung aufzuheben, nicht aber die den Kindsvater treffende Unzulässigkeitsentscheidung, ist zwar nicht zwingend, bewegt sich aber in den rechtlichen Möglichkeiten, die Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eröffnet.
Vorliegend scheitert ein etwaiger Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, wie nochmals zu betonen ist, bereits daran, dass die Vaterschaft auch auf gerichtliche Anforderung hin nicht nachgewiesen wurde. Unabhängig davon gilt:
Der Europäische Gerichtshof hat jüngst zur Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO entschieden (EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17, M. A. u. a. – NVwZ 2019, 297), dass auch Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von der Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen. Die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO eröffneten Befugnis sei demnach an keine besondere Bedingung geknüpft und es sei grundsätzlich Sache jedes Mitgliedstaats ist, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von dieser Befugnis Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (so auch schon EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-528/11, Halaf – NVwZ-RR 2013, 660; U.v. 4.10.2018 – C-56/17, Fathi – juris, aber nicht zu Art. 6 Dublin III-VO bzw. zu Kindeswohlerwägungen). Dass die Entscheidung des EuGH, U.v. 23.1.2019, a. a. O., die Rückführung einer Familie betrifft, ändert an den grundsätzlichen Erwägungen zu Art. 6 Dublin III-VO nichts.
Wenn also Kindeswohlerwägungen einen Mitgliedstaat bereits generell nicht dazu verpflichten können sollen, von der Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen, dann ist auch die differenziertere – wenn auch vielleicht nicht zwingende – Praxis eines Mitgliedstaates, nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nur für die Kindsmutter, nicht aber für den Kindsvater von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, anzuerkennen und stellt keine rechtswidrige Ungleichbehandlung dar. Denn die Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist nach der EuGH-Judikatur an keine Bedingungen geknüpft und die Umstände, unter denen von der Befugnis Gebrauch gemacht wird, kann der jeweilige Mitgliedstaat mehr oder minder frei festlegen. Wenn also die Antragsgegnerin nunmehr ersichtlich davon ausgeht, dass dem Kindeswohl auch dann Genüge getan ist, wenn das Kind zwar nicht mit beiden Elternteilen zusammen das Asylverfahren im Bundesgebiet durchlaufen darf, wenn es aber einerseits – solange es nicht wenigstens drei Jahre alt ist – nicht nach Italien zurückgeführt wird (ob mit dem Kindsvater oder mit der Kindsmutter oder mit beiden Elternteilen) und wenn es andererseits auch nicht alleine in Deutschland zurückbleiben muss – weil stets die Kindsmutter ebenfalls in Deutschland verbleiben darf -, so ist dies möglich und überschreitet nicht die Grenzen des von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumten Ermessens. Die Aufhebung des Dublin-Bescheids der Kindsmutter bedingt auch keine Ermessensbindung hinsichtlich weiterer Familienmitglieder, auch wenn es an sich nicht im Sinne der Dublin III-VO sein dürfte, die sog. Kernfamilie aufzuspalten (vgl. dazu bspw. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und auch die Erwägungsgründe 15 und 16). Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist eine ungebundene, europarechtliche Befugnis, keine Pflicht (vgl. auch Peukert u. a., ZAR 2016, 131, 135). Das Gericht darf sich nicht an die Stelle der Behörde setzen und eigene (Zweckmäßigkeits-) Erwägungen oder Bewertungen anstellen – kurzum: Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist vielleicht nicht zwingend, aber jedenfalls möglich. Selbiges gilt auch für die entsprechende Änderung der Verwaltungspraxis: Eine Verwaltungspraxis darf auch dann geändert werden, wenn die Verwaltung – u. a. auf einschlägige neue Judikatur hin – erkennt, dass ihre bisherige Handhabung unzweckmäßig ist und sie daher generell zu einer anderen Praxis übergehen will (statt aller BeckOK VwGO, Stand: 48. Ed. 1.1.2019, § 114 Rn. 12.1).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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