Europarecht

Erfolgloser Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Niederlande)

Aktenzeichen  W 8 S 19.50829

Datum:
7.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 322
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 12 Abs. 4, Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1

 

Leitsatz

Es bestehen in den Niederlanden keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist algerische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 21. Juni 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte erst einige Monate später ein Asylgesuch, von dem die Antragsgegnerin am 2. Oktober 2019 schriftlich Kenntnis erlangte, und stellte am 11. Oktober 2019 einen förmlichen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 24. Oktober 2019 erklärten die niederländischen Behörden mit Schreiben vom 13. Dezember 2019 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung in die Niederlande wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 23. Dezember 2019 erhob die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 19.50829 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte im vorliegenden Verfahren:
Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung nach Holland wird die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angeordnet.
Zur Begründung brachte die Antragstellerin im Wesentlichen vor: Ihr Bruder lebe in Deutschland. Seine Ehefrau sei taubstumm und auf Unterstützung und Pflege im Haushalt angewiesen. Ihr Bruder sei hierzu nicht in der Lage und daher müsse sie diese Aufgabe übernehmen. Sie wisse, dass Deutschland Frauen schütze. Deswegen möchte sie hierbleiben. Sie wisse nichts über Holland.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 19.50829) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragstellerin ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 19. Dezember 2019 begehrt.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 19. Dezember 2019 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen in der Antragsbegründung führt zu keiner anderen Beurteilung.
Die Niederlande ist gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig (vgl. § 34a, § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG). Die niederländischen Behörden haben ausdrücklich ihre dahingehende Zuständigkeit bejaht.
Die Überstellung in die Niederlande ist auch nicht rechtlich unmöglich (vgl. § 34a AsylG). Außergewöhnliche Umstände die möglicherweise für einen Selbsteintritt gemäß § 3 Abs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend weder substanziiert vorgebracht noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – NVWZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das Asylsystem der Niederlande an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt wären.
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Mängel im Asylsystem der Niederlande, zumal die Antragstellerin dahingehend nichts Substanziiertes vorgebracht hat. Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass in den Niederlanden keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären. In den Niederlanden existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylverfahren. Die speziellen Bedürfnisse des Schutzsuchenden werden berücksichtigt. Gemäß Gesetz haben alle mittellosen Asylbewerber ein Recht auf Unterbringung und auf materielle Versorgung ab Antragstellung. Sie erhalten in der Regel eine monatliche Unterstützung/Gutscheine. Sie dürfen 24 Wochen im Jahr auch arbeiten. Asylbewerber sind versichert und haben einen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die allgemeine medizinische Behandlung ist, soweit möglich, dieselbe wie für niederländische Bürger, erweitert um besonderes Augenmerk auf sprachliche und kulturelle Unterschiede, die Lebenssituation für Asylbewerber, das Asylverfahren und deren besonderen Bedürfnisse. Asylbewerber haben Zugang zur medizinischen Basisversorgung, darunter Zugang zur Allgemeinmedizin, Krankenhäusern, Psychologen, Zahnmedizin und auf Tagesbasis Zugang zu psychiatrischen Kliniken. Es gibt eine Reihe spezialisierter Institutionen zur Behandlung von Asylbewerbern mit psychischen Problemen. Es ist davon auszugehen, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in den Niederlanden, wie generell in der EU, im ausreichenden Maße verfügbar sind (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Niederlande, v. 16.2.2018, m.w.N.). Im Ergebnis bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen eine Überstellung in die Niederlande (VG Würzburg, B.v. 2.1.2020 – W 8 S 19.50836 – juris; B.v. 26.6.2019 – W 8 S 19.50569; VG Lüneburg, B.v. 22.2.2019 – 8 B 37/19 – juris; VG München, G.v. 24.10.2018 – M 1 K 17.51216 – juris).
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat.
Der Antragsgegner hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zu Recht darauf hingewiesen, dass es der Antragstellerin freistehe, in den Niederlanden einen Asylantrag zu stellen. In den Niederlanden wird ein rechtstaatliches Erst- und gegebenenfalls auch Folgeverfahren durchgeführt und auch sonst nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfahren. Ein Asylbewerber hat nach der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen insbesondere kein Wahlrecht, sich den Mitgliedsstaat auszusuchen, in dem er sich bessere Chancen oder angenehmere Aufenthaltsbedingungen erhofft. Relevant sind allein die Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates nach der Dublin III-VO.
Die Antragstellerin, die keine Familienangehörige ihres Bruders bzw. ihrer Schwägerin im Sinne von Art. 2 g Dublin III-VO ist, hat auch keinen Anspruch auf Gebrauchmachen vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO im Hinblick auf eine mögliche Hilfeleistung für ihren Bruder, weil dessen Ehefrau taubstumm und auf Unterstützung und Pflege im Haushalt angewiesen sei, zu denen der Bruder nicht in der Lage sei. Denn Zweck dieser Vorschrift ist, wegen einer aktuellen Hilfsbedürftigkeit Hilfeleistung, Unterstützung und familiäre Sorge zu ermöglichen. Voraussetzung ist, dass anhand von – hier nicht vorliegenden Attesten – glaubhaft ist, dass der Betreffende an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf Unterstützung angewiesen wäre. Dabei ist das zuständigkeitsbegründende Abhängigkeitsverhältnis auf Ausnahmesituationen besonderer Hilfsbedürftigkeit beschränkt. Für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes obliegt der Antragstellerin die Darlegungslast (VG Trier, U.v. 4.9.2019 – 7 K 2673/19.TR – juris; VG Ansbach, U.v. 17.4.2019 – AN 17 K 18.50614 – juris; VG Würzburg, B.v. 28.6.2017 – W 8 S 17.50344 – juris; jeweils m.w.N.).
Die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO liegen danach nicht vor. Die erforderliche Hilfsbedürftigkeit des Bruders bzw. zu seiner Frau lässt sich zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht annähernd feststellen. Es fehlen qualifizierte Atteste, denen entnommen werden könne, dass insofern eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr des Eintritts gravierender gesundheitlicher Folgen im Fall der Trennung besteht, der nicht anders begegnet werden könnte als mit einer Anwesenheit der Antragstellerin in Deutschland. Eine derartige Hilfsbedürftigkeit ist im Hinblick auf die Schwägerin der Antragstellerin schon gar nicht glaubhaft gemacht. Des Weiteren hat die Antragstellerin auch nicht näher dargelegt, dass eine mögliche Hilfe und Unterstützung nicht auch durch ihren Bruder geleistet werden könne bzw. durch sonstige Personen und warum es dazu der zusätzlichen Anwesenheit der Antragstellerin in Deutschland bedürfe, zumal der Bruder und die Schwägerin sich offenbar schon über Jahre hinweg auch ohne die Antragstellerin in Deutschland versorgen konnten und auch in Zukunft weiter allein können. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Antragstellerin bei ihrer Anhörung am 18. Oktober 2019 beim Bundesamt selbst angegeben hat, mit der Frau ihres Bruders nicht klar gekommen zu sein (vgl. Blatt 81 der Bundesamtsakte). Das betreffende Vorbringen der Antragstellerin zu Erforderlichkeit ihrer Anwesenheit in Deutschland erscheint demnach als reine Schutzbehauptung.
Schließlich sind auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte, nicht ersichtlich.
Im Ergebnis hat die Antragstellerin keinen Anspruch, dass die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung vorläufig ausgesetzt wird.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.


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