Europarecht

Erfolgreiche Anfechtungsklage gegen Unzulässigkeitsentscheidung des BAMF

Aktenzeichen  AN 14 K 19.50452

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30774
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 14a Abs. 2, § 25, § 29 Abs. 1 Nr. 1
Dublin III-VO Art. 7, Art. 9, Art. 10, Art. 20 Abs. 3

 

Leitsatz

Für die Ablehnung des Asylantrags eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes anerkannt Schutzberechtigter als unzulässig existiert keine einschlägige Rechtsgrundlage, so dass die Ablehnung des Asylantrags wegen Unzulässigkeit rechtswidrig ist (BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19, BeckRS 2020, 19064). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. April 2019 (Az.: …*) wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten  abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage kann, nachdem sich beide Parteien hiermit einverstanden erklärt haben – die Klägerseite mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2020, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 – gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Berichterstatterin entscheidet gemäß § 87a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO – mit Einverständnis der Beteiligten – anstelle der Kammer.
Der Klageantrag ist nach sachgerechter Auslegung (§ 88 VwGO) als ein Haupt- und Hilfsantrag anzusehen. Denn bei einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes nach § 29 AsylG ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Anfechtungsklage die statthafte Klageart (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – BVerwGE 57, 18 Rn. 57 ff.; Beschlüsse v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – juris Rn. 14 ff. und v. 2.8.2017 – 1 C 37.16 – juris Rn. 19; vgl. auch BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris). Bei Erfolg der Anfechtungsklage wird der die Unzulässigkeit des Asylantrags feststellende Bescheid komplett aufgehoben und das Asylverfahren fortgeführt. Im Rahmen des fortgeführten Asylverfahrens erfolgt auch eine Überprüfung hinsichtlich der Abschiebungsverbote aus § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Daher ist die ebenfalls im Klageantrag enthaltene Feststellung von Abschiebungsverboten bzgl. des Staates, in den die Abschiebung angedroht worden ist, aufgrund der Aufhebung der Abschiebungsandrohung bei Erfolg der Anfechtungsklage nicht erforderlich.
Die Anfechtungsklage ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, und begründet.
Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist rechtswidrig und der Kläger wird dadurch in seinen Rechten verletzt, so dass Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben ist. In der Folge besteht auch keine Rechtsgrundlage für die negative Feststellung hinsichtlich zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote in Bezug auf Italien, sowie für die Abschiebungsandrohung und das befristete Wiedereinreiseverbot, so dass diese Entscheidungen ebenfalls nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben sind.
1. Für die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als im Bundesgebiet nachgeborenes Kind anerkannt Schutzberechtigter als unzulässig existiert keine einschlägige Rechtsgrundlage, so dass die Ablehnung des Asylantrags des Klägers wegen Unzulässigkeit rechtswidrig ist (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris).
Die Beklagte konnte den Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG unter Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als unzulässig abweisen. Denn bezüglich des Klägers führt weder die direkte noch die analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO zu einer Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG.
Die Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag des im Bundesgebiet nachgeborenen Klägers ergibt sich nicht aus den Kriterien der Art. 7 ff. Dublin III-VO, sie ergibt sich insbesondere mangels einer schriftlichen Erklärung des entsprechenden Willens nicht aus Art. 9 oder 10 Dublin III-VO. Folglich kann sich die Zuständigkeit Italiens nur aufgrund einer direkten oder analogen der Art. 20 Abs. 3 Satz 1, 2 Hs. 1 Dublin III-VO ergeben (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.8.2020 – W 10 K 19.32291 – juris Rn. 22).
Die Eltern des Klägers sind in Italien anerkannt schutzberechtigt, ihr diesbezügliches Asylverfahren ist abgeschlossen. Damit sind die Eltern des Klägers keine Antragsteller gemäß Art. 2 Buchst. c und f Dublin III-VO in einem Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III-VO mehr. Dementsprechend kann der Antrag des Klägers nicht in ein Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung seiner Eltern gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO einbezogen werden. Die Vorschrift findet daher im Falle des Klägers keine direkte Anwendung (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 15; OVG Schleswig, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris Rn. 36 ff.).
Es kann offenbleiben, ob eine analoge Anwendung der Zuständigkeitsbestimmung des Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Hs. 1 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder von international Schutzberechtigten und damit auf den im Bundesgebiet geborenen Kläger in Betracht kommt.
Eine etwaige Zuständigkeit Italiens aufgrund dieser Rechtsgrundlage ist jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO wegen des Ablaufs der Fristen für die Unterbreitung eines Aufnahmegesuchs an Italien gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 16).
Die Argumentation der Beklagten, die Fristen für ein Aufnahmegesuch würden im Falle des Klägers nicht greifen, da es gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO keines neuen Zuständigkeitsverfahrens für ein nachgeborenes Kind bedürfe, verfängt nicht. Denn ein Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO ist auch dann nicht entbehrlich, wenn es im Grundsatz möglich wäre, die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind weitergewanderter schutzberechtigter Eltern aus einer analogen Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO herzuleiten (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 16).
Die analoge Anwendung einer Rechtsvorschrift setzt neben einer planwidrigen Regelungslücke eine vergleichbare Interessenlage voraus. Für eine analoge Anwendung des in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO geregelten Absehens von einem neuen Zuständigkeitsverfahren fehlt es aber an einer wertungsmäßigen Vergleichbarkeit des Sachverhalts bezüglich des Klägers und dem von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO vorausgesetzten Sachverhalt.
Denn aus der systematischen Stellung der Verfahrensakzessorietät nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als einleitende Vorschrift der Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren ergibt sich, dass die Vorschrift des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO nur für noch nicht abgeschlossene Verfahren gilt (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 18). Solange ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für den Schutzantrag der Eltern noch nicht abgeschlossen ist, unterfällt der Antrag der Eltern dem Anwendungsbereich des Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO, der mit Abschluss des Verfahrens endet. In ein solches laufendes Verfahren ist der Schutzantrag des Kindes gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO miteinzubeziehen.
Wird den Eltern aber internationaler Schutz durch einen Mitgliedsstaat gewährt, können diese nach einer (illegalen) Sekundärmigration und einem erneuten Antrag in einem anderen Mitgliedsstaat nicht mehr im Rahmen des Dublin-Verfahrens, sondern nur aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage (bspw. bilaterale Rückführungsabkommen) in den schutzgewährenden Mitgliedsstaat zurückgeführt werden (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 18). Sofern es in dieser Situation keiner Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens bedarf, wäre eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems vorgesehen, ohne dass der aufnehmende Mitgliedstaat Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation bezüglich des Kindes erlangt hätte.
Der durch das Fristensystem des Dublin-Verfahrens gewährte Schutz würde entfallen. Der Kläger könnte in diesem Fall – anders als jeder andere Asylbewerber im Dublin-Verfahren – ohne die Einhaltung der nach der Dublin III-VO im Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren vorgesehenen zeitlichen Grenzen in einen anderen Mitgliedstaat überstellt werden. Zudem sähe sich der schutzgewährende Mitgliedsstaat mit einer Überstellung ohne vorherige Kenntnis von der möglichen Aufnahmesituation konfrontiert, erst im Überstellungsverfahren könnte eine Klärung der Anerkennung der Zuständigkeit und der Aufnahmebereitschaft des schutzgewährenden Mitgliedstaats erfolgen (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.8.2020 – W 10 K 19.32291 – juris Rn. 24).
Dieser Verzicht auf das Aufnahmeverfahren könnte zu der Situation eines „refugees in orbit“ führen, d.h. eines Asylbewerbers, für den sich kein Mitgliedsstaat als zuständig erachtet (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 20). Diese Situation liefe dem Ziel des Dublin-Systems zuwider, einen effektiven Zugang zum Asylverfahren und eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gewährleisten. Überdies würde eine solche Überstellung ohne ein vorheriges Zuständigkeitsverfahren das durch die Dublin III-VO konkretisierte Grundrecht auf Asyl aus Art. 18 GRCh verletzten, welches die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedsstaat garantiert (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.8.2020 – W 10 K 19.32291 – juris Rn. 24).
Nach alldem kann auf die Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens im Hinblick auf den im Bundesgebiet geborenen Kläger nicht verzichtet werden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte ein Aufnahmegesuch an Italien gerichtet oder die italienischen Behörden über die Geburt des Klägers unterrichtet hat. Daher sind die aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO hervorgehenden Fristen für das Aufnahmegesuch verstrichen, so dass die Zuständigkeit für den Asylantrag des Klägers jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist.
Da die Frist für die Unterbreitung eines Aufnahmegesuchs zumindest auch dem Schutz der Rechte der betroffenen Asylbewerber dient, kann sich der Kläger im Rahmen seiner Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig wegen anderweitiger Zuständigkeit auf den Fristablauf berufen (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris Rn. 41 ff.; BVwerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 21; VG Würzburg, U.v. 21.8.2020 – W 10 K 19.32291 – juris Rn. 25). Bei unionrechtskonformer Auslegung verletzt daher die rechtswidrige Unzuständigkeitsentscheidung den Kläger gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten.
Schließlich kann die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auch nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Eine direkte Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ausgeschlossen, da der Kläger nicht in einem anderen Mitgliedsstaat Schutz erhalten hat. Eine analoge Anwendung der Vorschrift ist vorliegend nicht möglich, da die Tatbestände einer Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig durch Art. 33 Abs. 2 der RL 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) abschließend geregelt sind und Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU im Falle eines Asylantrags eines nachgeborenen Kindes von anerkannt schutzberechtigten Eltern in einem anderen Mitgliedsstaat keine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vorsieht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris Rn. 76; BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 22).
2. Aufgrund der Aufhebung der ablehnenden Entscheidung in Ziffer 1 des Bescheids als Grundlage für die Folgeentscheidungen fehlt es an einer Rechtsgrundlage für die unter Ziffer 2 getroffene negative Entscheidung gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG über das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids ebenfalls aufzuheben ist (vgl. BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris Rn. 20; OVG Schleswig, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris).
3. Weiterhin sind mangels Rechtsgrundlagen die verfrüht ergangene Abschiebungsandrohung aus Ziffer 3 des Bescheides sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Ziffer 4 des Bescheids aufzuheben (vgl. OVG Schleswig, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris Rn. 80).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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