Europarecht

Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen

Aktenzeichen  M 18 K 17.1905

Datum:
16.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 40576
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 86 Abs. 1 S. 3, § 89e Abs. 2
SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
StPO § 112 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Gewöhnlicher Aufenthalt.
2. Kein gewöhnlicher Aufenthalt am Ort der Untersuchungshaft auch bei längerer Dauer (hier 21 Monate).

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die vom … 2015 bis … 2017 für F.H. aufgewendeten Kosten in Höhe von 29.287, 49 Euro nebst Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
II. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die vom … bis … für F.H. aufgewendeten Kosten in Höhe von 1.925,00 Euro zu erstatten.
III. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch gem. § 89e Abs. 2 SGB VIII, weil kein kostenerstattungspflichtiger örtlicher Träger vorhanden ist.
Die Zuständigkeit des Klägers als örtlicher Träger der Jugendhilfe ergibt sich für den streitbefangenen Zeitraum aus § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII. Danach ist, wenn nur ein Elternteil lebt, dessen gewöhnlicher Aufenthalt für die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers maßgeblich. Da die Mutter des Leistungsberechtigten im Juli 2015 verstorben ist, kam es auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Vaters an. Dieser hat mit seiner Verlegung in die JVA L. zur Verbüßung der Strafhaft am … 2012 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Kreisgebiet des Klägers begründet.
Der Kindsvater hatte vor Antritt der Strafhaft keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Beide Parteien gehen zurecht davon aus, dass der Kindsvater seinen gewöhnlichen Aufenthalt am früheren Wohnort im Bereich des Landkreises … wegen der zu erwartenden langen Strafhaft, der Aufgabe aller Beziehungen zum bisherigen Wohnort wegen der Tatbegehung im engen Umfeld der Familie sowie in Folge der Medienpräsenz bereits mit Antritt der Untersuchungshaft aufgegeben hat.
Der Kindsvater hat auch am Ort der Untersuchungshaft im Gebiet der Beigeladenen keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet.
Die Beigeladene ist dem Kläger daher nicht nach § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zur Erstattung seiner Kosten verpflichtet. Gem. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt vielmehr, dass der Betreffende an dem Ort oder in dem Gebiet tatsächlich seinen Aufenthalt genommen hat, sich dort „bis auf Weiteres“ im Sinne eine zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (st. Rspr, vgl. BVerwG U.v. 29.9.2010, 5 C 21/09, juris, Rn. 14 m.w.N.).
Für die Beurteilung der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts kann keine rückblickende Betrachtung erfolgen, sondern ist eine Prognose zum Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels bzw. dem Beginn der Jugendhilfemaßnahme anzustellen (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 23; OLG München, B.v. 4.7.2007 – 33 Wx 89/07 – juris, Rn. 19; OVG Saarland, B.v. 3.9.07 – 3 Q 133/06 Rn. 40; VG Münster, U.v. 26.9.13 – 6 U 2569/11 – juris, Rn. 52).
Gegen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts am Ort der Untersuchungshaft spricht, dass diese Haftform nach ihrem Zweck und ihrer gesetzlichen Ausgestaltung nur vorübergehender Natur ist. Soweit der Beklagte aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (a. a. O.) unter Hinweis auf Randziffer 32 – „weil am Ort der Untersuchungshaft in aller Regel kein… gewöhnlicher Aufenthalt begründet wird“ – im vorliegenden Fall wegen der Schwere der Straftat eine Ausnahme bejaht, ist ihm nicht zu folgen. Es kann offen bleiben, ob bei einer mehrjährigen Untersuchungshaft ein Ausnahmefall angenommen werden kann (vgl. OLG München v. 4.7.2007, 33 Wx 089/07, juris, Rn. 18). Denn die Untersuchungshaft des Kindsvaters dauerte lediglich ein Jahr und acht Monate. Das Argument, dass bei einem Eingestehen einer schweren Straftat und bei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu langjähriger Strafhaft ohne Rückkehroption an den bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt bei Antritt oder während der Untersuchungshaft ein (ungeschützter) gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann, überzeugt nicht. Diese Fallgestaltung spricht eher gegen eine lange Dauer der Untersuchungshaft und für eine längere Dauer der Strafhaft mit der unstrittigen Folge, dass an diesem Ort ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wird.
Die Rechtsansicht des Beklagten liefe dem Sinn und Zweck des § 89e Abs. 1 Satz 1. SGB VIII zuwider, der Einrichtungsorte vor Kostenerstattungsmöglichkeiten schützen will. Nur dem Vollzug der Untersuchungshaft dienende Einrichtungen mussten nicht als geschützte Einrichtungen in den Anwendungsbereich des § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgenommen werden, weil dort in aller Regel kein gewöhnlicher, sondern nur ein tatsächlicher Aufenthalt begründet wird. Aus diesem Grunde bedürfen Einrichtungsorte mit Untersuchungshaftanstalten keines zusätzlichen, eine extensive Auslegung des § 89e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII rechtfertigenden Schutzes (BVerwG a.a.O., Rn. 32).
Dass der Aufenthalt während der Untersuchungshaft nur vorübergehend und nicht zukunftsoffen ist, folgt neben der gesetzlich vorgesehenen grundsätzlichen Dauer von nur 6 Monaten (§ 121 Abs. 1 StPO) auch aus der Möglichkeit, die Untersuchungshaft jederzeit zu beenden, indem der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt (§ 116 StPO) oder dieser aufgehoben wird (z. B. aufgrund einer Haftprüfung, §§ 117 ff. StPO, oder einer Haftbeschwerde, § 118 Abs. 2 StPO, bzw. unter den Voraussetzungen zur Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 StPO). Selbst bei Vorliegen einer schweren Straftat im Sinne des § 112 Abs. 3 StPO ist nach der restriktiven Auslegung des Bundesverfassungsgerichts (Wencker-Beschluss, BVerfG vom 15.12.1965, 1 BvR 513/65, juris) ein Haftgrund nur in Zusammenschau mit den Haftgründen des § 112 Abs. 2 StPO zu sehen, so dass auch bei diesen Delikten eine fortwährende Untersuchungshaft nicht regelmäßig angenommen werden kann.
Schließlich ist auch mit Blick auf die grundsätzlich geschützte strafrechtliche Unschuldsvermutung während der Dauer der Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung von der Begründung eines nur tatsächlichen Aufenthalts während der Untersuchungshaft auszugehen (OVG Saarl, B.v. 3.9.2007, Az. 3 Q 133/06, juris im Zusammenhang mit der Belassung des gewöhnlichen Aufenthalts am vorherigen Wohnort während der Untersuchungshaft).
Im Übrigen sprechen auch die Gründe der Rechtssicherheit für diese Ansicht, da andernfalls ein zeitlich nicht näher bestimmbarer Zeitpunkt zu einer Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts führen würde.
Nach alledem steht fest, dass der Kindsvater am Ort der Untersuchungshaft keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat und in Folge dessen die Beigeladene dem Kläger nicht kostenerstattungspflichtig ist.
Eine Kostenerstattungspflicht des Landeskreises … scheidet ebenfalls aus, da durch die unstreitige Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts dort mit Beginn der Untersuchungshaft eine Zäsur entstanden ist (vgl. Stähr in Hauck/Noftz, SGB, 03/17, § 89e SGB VIII, Rn. 12).
Mangels eines kostenerstattungspflichtigen örtlichen Trägers der Jugendhilfe war der Beklagte als zuständiger überörtlicher Träger nach § 89e Abs. 2 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichtet.
Gegen die Höhe der geltend gemachten Aufwendungen wurden keine Einwände erhoben und sind auch keine Bedenken gegeben.
Der Anspruch auf die zugesprochenen Prozesszinsen folgt aus § 291 BGB analog.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO, hinsichtlich der Beigeladenen auf § 154 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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