Europarecht

Gerichtsstand, Unanfechtbarkeit, Bindungswirkung, Zustellung, Feststellung, Verweisungsbeschluss, Zahlung, Schutzgesetz, Vereinbarung, Verweisung, Anerkenntnis, Klage, Verfahren, Notwendigkeit, besonderer Gerichtsstand, keine Bindungswirkung, von Amts wegen

Aktenzeichen  102 AR 65/22

Datum:
26.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18272
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

(Örtlich) zuständig ist das Landgericht Koblenz.

Gründe

I.
Der in Baden-Württemberg im Bezirk des Landgerichts Ulm wohnhafte Kläger macht gegenüber dem Beklagten deliktische und bereicherungsrechtliche Ansprüche gestützt auf den Vorwurf eines Anlagebetrugs geltend und hat gegen diesen am 5. Dezember 2019 beim Amtsgericht Stuttgart – Mahngericht – einen Mahnbescheid in Höhe von 22.228,63 € nebst Zinsen erwirkt, der dem damals noch im Gerichtsbezirk des Landgerichts Memmingen wohnhaften Beklagten am 7. Dezember 2019 zugestellt worden ist. Nach dessen Widerspruch und Einzahlung der Kosten für das streitige Verfahren hat das Amtsgericht die Sache mit Abgabeverfügung vom 9. November 2020 an das vom Kläger als Streitgericht benannte Landgericht Memmingen abgegeben, wo sie am 11. November 2020 eingegangen ist.
In der Anspruchsbegründung vom 21. Dezember 2021 hat der Kläger vorgetragen, der geständige Beklagte sei vom Amtsgericht Augsburg rechtskräftig wegen Anlagebetrugs zu Lasten verschiedener Geschädigter, darunter des Klägers, verurteilt worden. Der Beklagte habe im Jahr 2007 die Firma „… limited“ gegründet und Finanzgeschäfte mit Dritten betrieben, deren Verpflichtungen er mangels eigener Solvenz lediglich dadurch habe ausgleichen können, dass er Freunde und Bekannte, unter anderem auch den Kläger, überredet habe, vermeintlich lukrative Anlagechancen zu nutzen. Dem Kläger sei versprochen worden, den durch ihn eingebrachten Geldbetrag von 20.000,00 € zweckgebunden für ein sogenanntes SKR Trading zu verwenden, ihm sei dafür für die Dauer von 40 Wochen ein wöchentlicher Rückfluss an Mitteln von 10.000,00 € in Aussicht gestellt worden. Er habe dem Beklagten, seinem langjährigen Patienten, vertraut und entsprechend der Vereinbarung vom 30. April 2015 am 15. Mai 2015 einen Betrag von 20.000,00 € auf ein Konto der Firma „… limited“ überwiesen. Der Beklagte habe die Investition wahrheitswidrig als risikolos dargestellt und billigend in Kauf genommen, dass der Kläger kein Geld zurückerhalte. Die vom Beklagten gehaltene Firma „… limited“ sei ohne Vermögen und Liquidität und somit nicht geeignet gewesen, den Gläubigern auch nur im Ansatz minimalste Sicherheit zu gewährleisten. Der Kläger habe trotz Mahnung und Rücktrittserklärung keine Zahlung erhalten. Die Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB als Schutzgesetz lägen abseits vertraglicher oder bereicherungsrechtlicher Grundlagen vor.
Mit der Anspruchsbegründung hat der Kläger eine schriftliche Vereinbarung vom 30. April 2015 mit einer Firma „… LTD“, vertreten durch den Beklagten, …, 8… S1. vorgelegt sowie einen Beleg über die Überweisung eines Betrags von 20.000,00 € auf ein Konto bei der Commerzbank Ulm und ein an die genannte Firma adressiertes vorgerichtliches Schreiben vom 17. Januar 2018, in dem er den Rücktritt bzw. die Kündigung vom Vertrag erklärt hat.
Die Zustellung der am 22. Dezember 2021 bei Gericht eingegangenen Anspruchsbegründung konnte erst am 22. Januar 2022 bewirkt werden, da der Beklagte zwischenzeitlich in den Bezirk des Landgerichts Koblenz verzogen war.
Mit Verfügung vom 19. Januar 2022 hat das Landgericht die Parteien darauf hingewiesen, dass keine örtliche Zuständigkeit in Memmingen erkennbar sei, nachdem der Beklagte nicht im Bezirk des Landgerichts Memmingen wohnhaft sei, und angefragt, ob Verweisungsantrag gestellt werde. Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2022 hat der Kläger einen Antrag auf Verweisung des Rechtsstreits an das örtlich zuständige Landgericht gestellt. Der Beklagte hat sich zur Frage der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts binnen der vom Landgericht gesetzten Stellungnahmefrist nicht geäußert.
Mit Beschluss vom 7. Februar 2022 hat sich das Landgericht Memmingen für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Koblenz verwiesen. Die Entscheidung beruhe auf § 281 Abs. 1 ZPO, da der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand in Bad Ems habe und auch kein besonderer Gerichtsstand im hiesigen Bezirk gegeben sei. Auf Antrag des Klägers habe sich das angegangene Gericht für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Gericht zu verweisen.
Das Landgericht Koblenz hat den Parteien mit Verfügung vom 4. April 2022 mitgeteilt, dass es beabsichtige, sich für unzuständig zu erklären und die Sache dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit gemäß § 36 ZPO vorzulegen. Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Memmingen entfalte ausnahmsweise keine Bindungswirkung, denn das Landgericht habe sich über seine unzweifelhaft aus § 32 ZPO resultierende Zuständigkeit für die Klage aus unerlaubter Handlung hinweggesetzt. Aufgrund des Wohn- und Handlungsorts liege sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort im Landgerichtsbezirk Memmingen. Dieser Gerichtsstand werde durch den späteren Wegzug des Beklagten nicht berührt. Dass daneben ein Gerichtsstand des Wohnsitzes gegeben sei, sei unerheblich, da der Kläger sein Wahlrecht gemäß § 35 ZPO bindend ausgeübt habe. Der Kläger hat mitgeteilt, dass er keine Einwände gegen das beabsichtigte Vorgehen habe, der Beklagte hat sich nicht geäußert.
Mit den Parteien bekanntgemachtem Beschluss vom 25. April 2022 hat das Landgericht Koblenz die Sache dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Hinsichtlich der fehlenden Bindungswirkung und seiner Unzuständigkeit hat es auf die Verfügung vom 4. April 2022 Bezug genommen.
Die Parteien sind im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren angehört worden. Der Kläger hat auf den möglichen deliktischen Gerichtsstand hingewiesen und mitgeteilt, dass der Beklagte außergerichtlich erklärt habe, er akzeptiere den Klageanspruch. Es sei mit einem Anerkenntnis- bzw. Versäumnisurteil zu rechnen. Eine Stellungnahme des Beklagten ist nicht eingegangen.
II.
Auf die statthafte Vorlage des Landgerichts Koblenz ist dessen (örtliche) Zuständigkeit auszusprechen.
1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (örtlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 36 Rn. 33 ff. m. w. N.) liegen vor.
Das Landgericht Memmingen hat sich nach Rechtshängigkeit der Streitsache durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 7. Februar 2022 für unzuständig erklärt, das Landgericht Koblenz durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 25. April 2022. Die den Parteien mitgeteilte und jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35; jeweils m. w. N.).
Das Bayerische Oberste Landesgericht ist für die Bestimmungsentscheidung gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO zuständig, weil die am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Landgerichte in verschiedenen Oberlandesgerichtsbezirken (München und Koblenz) liegen und somit das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht in der hier vorliegenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeit der Bundesgerichtshof ist. An dessen Stelle entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das mit der Sache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
Das nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Mahnantragstellers zuständige Mahngericht bleibt als Anknüpfungspunkt für die Feststellung des nach § 36 Abs. 2 ZPO zuständigen Gerichts außer Betracht (BayObLG, Beschluss vom 17. September 1998, 1Z AR 67/98, juris Rn. 3; Beschluss vom 21. August 1998, 1Z AR 58/98, BayObLGZ 1998, 119 [juris Rn. 6]).
2. Das Landgericht Koblenz ist zuständig, da der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Memmingen vom 7. Februar 2022 bindet.
a) Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung.
Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16). Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.). Als willkürlich zu werten ist insbesondere, wenn sich ein nach geltendem Recht unzweifelhaft zuständiges Gericht über seine Zuständigkeit hinwegsetzt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verweist, etwa weil es eine klare Zuständigkeitsnorm nicht beachtet oder nicht zur Kenntnis nimmt (BGH, Beschluss vom 17. Mai 2011, NJW-RR 2011, 1364 Rn. 11; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2020, 1 AR 23/20, juris Rn. 24). Eine Verweisung ist aber nicht stets als willkürlich anzusehen, wenn das verweisende Gericht sich mit einer seine Zuständigkeit begründenden Norm nicht befasst hat, etwa weil es die Vorschrift übersehen oder deren Anwendungsbereich unzutreffend beurteilt hat. Denn für die Bewertung als willkürlich genügt es nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 m. w. N.). Solche liegen etwa vor, wenn sich eine Befassung mit dem Gerichtsstand nach den Umständen, insbesondere dem Parteivortrag dazu, derart aufdrängt, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 u. 15; NJW-RR 2011, 1364 Rn. 12).
b) Zwar hat sich das Landgericht Memmingen nicht näher damit befasst, dass es trotz des Wegzugs des Beklagten aus seinem Gerichtsbezirk oder unter dem Gesichtspunkt eines besonderen Gerichtsstands zuständig sein könnte, dies lässt aber nicht den Rückschluss auf eine willkürliche Verweisung zu, denn es drängte sich weder eine eigene Zuständigkeit noch die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung unmittelbar auf.
aa) Sobald eine Streitsache rechtshängig ist, wird die einmal begründete Zuständigkeit des Prozessgerichts durch eine Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt (Grundsatz der perpetuatio fori, § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO). Ist dem Streitverfahren ein Mahnverfahren vorausgegangen, so ist für den Eintritt dieser Wirkung, jedenfalls wenn die Abgabe – wie vorliegend – nicht alsbald i. S. d. § 696 Abs. 3 ZPO erfolgt ist, der Zeitpunkt des Akteneingangs bei dem Gericht maßgeblich, an das die Sache abgegeben wird (BGH, Urt. v. 5. Februar 2009, III ZR 164/08, BGHZ 179, 329 Rn. 17; BayObLG, Beschluss vom 14. Februar 2022, 102 AR 190/21, juris Rn. 22; Beschluss vom 23. September 2021, 102 AR 15/21, juris Rn. 16; Beschluss vom 27. März 2003, 1Z AR 28/03, juris Rn. 8; Beschluss vom 6. August 2002, 1Z AR 91/02, juris Rn. 13; OLG Hamm, Beschluss vom 8. Oktober 2018, 32 SA 37/18, juris Rn. 26; OLG München, Beschluss vom 24. August 2016, 34 AR 99/16, juris Rn. 11; Beschluss vom 3. Februar 2009, 31 AR 26/09, GRUR-RR 2009, 165 [juris Rn. 10]; OLG Schleswig, Beschluss vom 2. Februar 2007, 2 W 16/07, juris Rn. 4; OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Februar 2006, 1 W 98/05, juris Rn. 20; KG, Beschluss vom 27. November 1997, 28 AR 5597, NJW-RR 1999, 1011; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 21. Februar 1996, 21 AR 10/96, NJW-RR 1996, 1403; Dörndorfer in BeckOK ZPO, 44. Ed. Stand 1. März 2022, § 696 Rn. 3 u. 9; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, § 696 Rn. 7 u. 25; Voit in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl. 2022, § 696 Rn. 6; BeckerEberhard in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 261 Rn. 79; Seibel in Zöller, ZPO, § 696 Rn. 8 u. 11; Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 696 Rn. 14; Olzen in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 696 Rn. 21; a. A. für den Fall alsbaldiger Abgabe OLG Hamm, Beschluss vom 29. Oktober 2019, 32 SA 64/19, juris Rn. 35: Zustellung des Mahnbescheids; einschränkend auch Schüler in Münchener Kommentar zur ZPO, § 696 Rn. 20) und nicht der Zeitpunkt der Zustellung der Anspruchsbegründung. Diese prozessuale Besonderheit bei vorangegangenem Mahnverfahren hat das Landgericht nicht bedacht. Es hat nicht erkannt, dass sich seine örtliche Zuständigkeit nach §§ 12, 13 ZPO daraus ergeben könnte, dass der Beklagte zum Zeitpunkt des Akteneingangs am 11. November 2020 möglicherweise noch in Senden wohnhaft war, sondern rechtsirrig allein darauf abgestellt, dass die am 21. Dezember 2021 eingegangene Anspruchsbegründung dem Beklagten zunächst nicht zugestellt werden konnte, weil er damals bereits nach Bad Ems verzogen war. Eine Aufklärung, wann der Beklagte, dem der Mahnbescheid am 7. Dezember 2019 noch an seinem damaligen Wohnsitz in Senden zugestellt werden konnte, in den Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Koblenz verzogen ist, ist dementsprechend unterblieben. Wie dargelegt, genügt jedoch allein der Umstand, dass das Gericht eine rechtliche Problematik im Zusammenhang mit der Beurteilung der eigenen Zuständigkeit übersieht oder eine Vorschrift fehlinterpretiert, noch nicht für die Bejahung von Willkür. Es liegen keine Umstände vor, die es rechtfertigen würden, die Verweisung des Landgerichts Memmingen wegen dieses Rechtsfehlers als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar zu qualifizieren. Es ist ein alltäglicher Vorgang, dass das Gericht seine Zuständigkeit in Frage stellt, wenn die Zustellung des ersten, bei Gericht eingereichten klägerischen Schriftsatzes an die im Rubrum angegebene Adresse des Beklagten misslingt. Angesichts des langen Zeitraums, der zwischen Antragstellung im Mahnverfahren (Dezember 2019), Abgabe des Verfahrens an das Landgericht (November 2020) und Einreichung der Anspruchsbegründung (Dezember 2021) vergangen ist, erscheint es nicht völlig fernliegend, dass das Landgericht Memmingen allein auf die gescheiterte Zustellung der Anspruchsbegründung abgestellt und nicht bedacht hat, dass wegen des vorangegangenen Mahnverfahrens der Wohnsitz des Beklagten im November 2020 maßgeblich für die eigene Zuständigkeit sein könnte. Auch haben sich weder der Kläger noch der Beklagte, denen ordnungsgemäß rechtliches Gehör gewährt worden ist, dazu geäußert, dass das Landgericht Memmingen trotz des Wegzugs des Beklagten zuständig sein könnte.
bb) Aus § 29 ZPO ergibt sich keine besondere (örtliche) Zuständigkeit für die streitgegenständliche Klage, die das Landgericht Memmingen übergangen hätte. Gemäß § 29 ZPO ist für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist. Dabei müssen sich aus dem schlüssigen Sachvortrag des Klägers die den Gerichtsstand des § 29 ZPO begründenden Umstände ergeben (Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, § 29 Rn. 44; Toussaint in BeckOK ZPO, § 29 Rn. 27). Vorliegend lassen weder die Klageschrift noch die vorgelegten Anlagen den Schluss zu, dass der Kläger den Beklagten aufgrund eines vertraglichen Schuldverhältnisses in Anspruch nehmen will. Er stützt seine Klage zentral auf den Vorwurf eines Anlagebetrugs, somit auf deliktische Normen. Dass stattdessen oder daneben mit dem Beklagten eine vertragliche oder vertragsähnliche Beziehung bestanden hätte, behauptet der Kläger nicht. Die vom Kläger vorgelegte Vereinbarung vom 30. April 2015 nennt nicht den Beklagten, sondern die nicht mitverklagte Firma „… Ltd“ als Vertragspartner, auch das vorgerichtliche Schreiben vom 17. Januar 2018 ist an diese Firma (vertreten durch den Beklagten) adressiert. Auch mögliche bereicherungsrechtliche Ansprüche, die der Kläger kurz erwähnt, legt er in der Klageschrift nicht näher dar. Kondiktionsrechtliche Ansprüche werden von § 29 ZPO im Allgemeinen nicht erfasst (vgl. BGH, Urt. v. 28. Februar 1996, XII ZR 181/93 BGHZ 132, 105 [juris Rn. 13]), lediglich bei der Geltendmachung von Ansprüchen aus einer Leistungskondiktion gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB – wie etwa Rückzahlungsklagen im Zusammenhang mit nicht zustandegekommenen, nichtigen oder wirksam angefochtenen Verträgen – wird vertreten, dass ein besonderer Gerichtsstand nach § 29 ZPO eröffnet ist (Schultzky in Zöller, ZPO, § 29 Rn. 6a m.w.N., Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, § 29 Rn. 7). Auch diesbezüglich enthält das Klagevorbringen keine ausreichenden Anhaltspunkte, die das Landgericht Memmingen zum Anlass für eine Prüfung seiner Zuständigkeit nach § 29 ZPO hätte nehmen müssen.
cc) Auch die Tatsache, dass sich das Landgericht Memmingen nicht näher mit einer möglichen örtlichen Zuständigkeit nach § 32 ZPO auseinandergesetzt hat, lässt die Verweisung nicht als willkürlich erscheinen. Denn aus dem detailarmen Sachvortrag des Klägers drängte sich die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Memmingen nicht ohne weiteres auf.
(1) Zur Begründung des besonderen Gerichtsstands der unerlaubten Handlung nach § 32 ZPO ist es ausreichend, dass die Klagepartei schlüssig Tatsachen behauptet, die – ihre Richtigkeit unterstellt – bei zutreffender rechtlicher Würdigung die Tatbestandsmerkmale einer Deliktsnorm erfüllen (BGH, Urt. v. 5. Mai 2011, IX ZR 176/10, BGHZ 189, 320 Rn. 16; Urt. v. 29. Juni 2010, VI ZR 122/09, NJW-RR 2010, 1554 Rn. 8; BayObLG, Beschluss vom 10. Februar 2021, 1 AR 161/20, juris Rn. 23; Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 AR 57/20, juris Rn. 15; Schultzky in Zöller, ZPO, § 32 Rn. 22 m. w. N.). Dies ist hier der Fall.
(2) Der Ort, an dem im Sinne des § 32 ZPO eine unerlaubte Handlung begangen ist (Begehungsort), ist sowohl dort, wo eine der Verletzungshandlungen begangen wurde (Handlungsort), als auch dort, wo in das geschützte Rechtsgut eingegriffen wurde (Erfolgsort), sowie, wenn der Schadenseintritt selbst zum Tatbestandsmerkmal der Rechtsverletzung gehört, der Ort des Schadenseintritts (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2018, X ARZ 321/18, NJW-RR 2019, 238 Rn. 18; BayObLG, Beschluss vom 10. Februar 2021, 1 AR 161/20, juris Rn. 25; Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 AR 57/20, juris Rn. 16; Beschluss vom 18. Juli 2019, 1 AR 23/19, juris Rn. 23; Schultzky in Zöller, ZPO, § 32 Rn. 19; Toussaint in BeckOK ZPO, § 32 Rn. 13; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl. 2021, § 32 Rn. 15). Bei mehreren Begehungsorten hat die Klagepartei grundsätzlich gemäß § 35 ZPO die Möglichkeit der Wahl zwischen den einzelnen Gerichtsständen (Schultzky in Zöller, ZPO, § 32 Rn. 21).
Richtet sich der Eingriff unmittelbar gegen das Vermögen als Ganzes, liegt der Schadensort regelmäßig am (Wohn-)Sitz des Geschädigten (vgl. BGH NJW-RR 2019, 238 Rn. 18 – für Schäden aus verbotenen Kartellabsprachen; BayObLG, Beschluss vom 10. Februar 2021, 1 AR 161/20, juris Rn. 28; Beschluss vom 18. Juli 2019, 1 AR 23/19, juris Rn. 24 ff. m. w. N.). Da sich vorliegend der Wohnsitz des Geschädigten in Baden-Württemberg befindet und die – nach dem Vorbringen des Klägers betrügerisch veranlasste – Überweisung des Anlagebetrags auf ein Konto einer ebenfalls in Baden-Württemberg ansässigen Bank erfolgt ist, ergibt sich hieraus keine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Memmingen.
Ein Handlungsort im Gerichtsbezirk des Landgerichts Memmingen kann ebenfalls nicht zuverlässig festgestellt werden. Der Kläger hat zwar mit der Klageschrift eine schriftliche Vereinbarung vorgelegt, die er im Zusammenhang mit dem behaupteten Anlagebetrug geschlossen hat, nähere Angaben dazu, wo Tathandlungen vorgenommen worden sind, fehlen aber. Weder aus der Klageschrift noch den vorgelegten Anlagen ergibt sich verlässlich, an welchem Ort sich Kläger und Beklagter bei Täuschungshandlungen und/oder bei Vertragsschluss befunden haben. Es ist zwar möglich, dass der Beklagte Tathandlungen an seinem damaligen Wohnort in Senden vorgenommen hat, konkret vorgetragen ist dazu aber nichts. Auch aus dem Umstand, dass in der Vereinbarung vom 30. April 2015 als Adresse des Unternehmens, für das der Beklagte nach dem Vorbringen des Klägers betrügerisch Geld vereinnahmt hat, dessen damalige Privatadresse genannt ist, lässt sich ein dortiger Handlungs- oder Erfolgsort im Sinne des § 32 ZPO nicht unmittelbar herleiten. Für den Erfolgsort ist auf den Eingriff in das geschützte Rechtsgut des Geschädigten abzustellen und nicht auf den (Wohn-)Sitz des Täters oder eines Begünstigten.
(3) Es mag sein, dass sich bei weiterer Sachverhaltsaufklärung eine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Memmingen ergeben hätte, auch dies genügt jedoch nicht für die Annahme einer willkürlichen Verweisung. Zwar hat das Gericht die Frage seiner Zuständigkeit stets von Amts wegen zu prüfen und dabei den vorgetragenen Sachverhalt unter allen in Frage kommenden Gesichtspunkten zu würdigen sowie gegebenenfalls nicht vorgetragene, für die Zuständigkeit relevante Umstände aufzuklären (vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 12; BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 101 AR 101/20, juris Rn. 39 m. w. N.).
Bejahte man jedoch in Fällen, in denen ein Gericht sich nicht mit einer seine Zuständigkeit begründenden Norm befasst hat, die Willkürlichkeit des Verweisungsbeschlusses allein deshalb, weil es unterlassen habe, den von den Parteien unterbreiteten Sachverhalt von Amts wegen nach Anhaltspunkten für eine eigene Zuständigkeit zu erforschen, liefe dies darauf hinaus, dass auch auf einfachen Rechtsfehlern beruhende Verweisungsbeschlüsse als nicht bindend anzusehen wären. Auch insoweit sind zusätzliche Umstände, die über das bloße Übersehen oder Verkennen einer Zuständigkeitsnorm hinausgehen, zu verlangen, wie etwa, dass die nicht beachtete Norm gerade den Zweck hat, Verweisungen der in Rede stehenden Art zu unterbinden oder sich eine nähere Befassung mit der zuständigkeitsbegründenden Norm den Umständen nach aufgedrängt hat (BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 12). Nichts anderes gilt, wenn sich das Vorliegen eines deliktischen Begehungsorts im eigenen Gerichtsbezirk aufgrund des Klagevorbringens nicht aufdrängen musste. Im konkreten Fall vermag der Senat solche besonderen Umstände nicht zu erkennen; weder haben die Parteien den Standpunkt vertreten, dass das Landgericht Memmingen örtlich zuständig sei (OLG Hamm, Beschluss vom 29. Oktober 2019, 32 SA 64/19, juris Rn. 39), noch lässt sich der Sachverhalt mit willkürlichen Verweisungen in den sog. „Dieselfällen“ vergleichen, bei denen Gerichte sich in nicht mehr nachvollziehbarer Weise über aktuelle gefestigte ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung hinweggesetzt haben (vgl. BayObLG, Beschluss vom 18. November 2021, 102 AR 151/21, juris Rn. 26 f; OLG München, Beschluss vom 11. März 2020, 34 AR 235/19, juris Rn. 17).
Bei der grundsätzlichen Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses hat es damit sein Bewenden.


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