Europarecht

Keime in Pulverform und Qualifikation als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke

Aktenzeichen  2 HK O 94/18

Datum:
18.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
MD – 2019, 542
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München II
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
UWG § 3a
EU (VO) Nr. 609/2013 Art. 2 Abs. 2 lit. g, Art. 9 Abs. 1
RL 1999/21/EG Art. 1 Abs. 2 lit. b

 

Leitsatz

1. Vermehrungsfähige, im menschlichen Darm befindliche Keime, sind auch bei Zuführung in Pulverform keine Lebensmittel iSd Art. 9 Abs. 1, 2 Abs. 2 lit. g VO (EU) 609/2013. (Rn. 29) (Rn. 32 – 34) (red. LS Dirk Büch)
2. Gemäß Art. 20 Abs. 4 UAs. 2 VO (EU) 609/2013 geht die vorgenannte VO im Falle von Widersprüchlichkeit der RL 1999/21/EG vor, auch wenn die erstgenannte VO noch nicht in Kraft getreten ist. (Rn. 31) (red. LS Dirk Büch)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung zu verhängenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft,
oder
einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen am Geschäftsführer der Beklagten,
1. das Mittel „Innovall® Microbiotic SUD“ als Diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zur diätetischen Behandlung von symptomatischer unkomplizierter Divertikelkrankheit in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben und/oder zu bewerben,
2. das Mittel „Innovall® Microbiotic CU
2.1.
als Diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zur diätetischen Behandlung von Colitis Ulcerosa in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben und/oder zu bewerben,
2.2. mit der Angabe zu bewerben:
„Innovall® CU eignet sich zur diätetischen Behandlung von Colitis ulcerosa bei Erwachsenen und Kindern ab 4 Jahren“,
3. das Mittel „Innovall® Microbiotic AAD
3.1. als Diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zur diätetischen Behandlung von Antibiotika-Assoziierter Diarrhoe in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben und/oder zu bewerben,
3.2. mit der Angabe zu bewerben:
3.2.1.
„Für Ihren Darm bei Antibiotika-Therapie“,
3.2.2.
„Kein Antibiotikum ohne Innovall Microbiotic AAD!“,
3.2.3.
„Schützt vor AAD“,
3.2.4.
„Schützt die Darmbarriere mit dem darmassoziierten
Immunsystem“,
4. das Mittel „Innovall® Microbiotic RDS
4.1. als Diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zur diätetischen Behandlung von Reizdarmsyndrom in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben und/oder zu bewerben,
4.2. mit der Angabe zu bewerben:
4.2.1.
„Wenn Sie unter Reizdarmsyndrom leiden, empfiehlt sich zur Linderung der typischen Symptome, wie z.B. Durchfall, Bauchschmerzen, Verstopfung, Blähungen und/oder Blähbauch, die Einnahme von Innovall Microbiotic RDS sofort beim Auftreten der Beschwerden“,
4.2.2.
„Die ausgezeichnete Eignung von Innovall Microbiotic RDS
zur Behandlung von Reizdarmsyndrom wurde in einer placebokontrollierten Studie mit über 200 Patienten bestätigt. Die typischen Symptome wie Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall wurden nachweislich gebessert“,
5. das Mittel „Innovall® Microbiotic ATOP
5.1. als Diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zur diätetischen Behandlung von atopischer Dermatitis (Neurodermitis) in den Verkehr zu bringen und/oder zu vertreiben und/oder zu bewerben,
5.2. mit der Angabe zu bewerben:
5.2.1.
„Neurodermitis ist eine häufige Erkrankung im Kindesalter, aber auch Erwachsene können betroffen sein. Innovall Microbiotic ATOP eignet sich zur begleitenden Therapie bei allen Formen der Neurodermitis für Erwachsene und Kinder ab 1 Jahr“,
5.2.2.
„Das erste Microbioticum bei allen Formen der atopischen Dermatitis Innovall Microbiotic ATOP“,
5.2.3.
„Die besondere Eignung zur Behandlung der atopischen Dermatitis wurde in einer klinischen Studie mit 90 Kleinkindern bestätigt“,
jeweils sofern dies geschieht wie in Anlage K 3 – 23 wiedergegeben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 178,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 3.2.2018 zu zahlen. 
III. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich des Tenors Ziff. I Nr. 3 sowie Ziff. II ohne, im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 60.000€ vorläufig vollstreckbar. 
V. Der Streitwert wird auf 75.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig, das Landgericht München II ist sachlich gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 UWG und örtlich gemäß § 14 Abs. 1 UWG zuständig, die funktionelle Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen ergibt sich aus den §§ 13 Abs. 1 S. 2 UWG, 95 Abs. 1 Nr. 5 und 96 GVG Der Kläger ist klagebefugt im Sinne des § 8 Abs. 3 Nr.
2. Die Klage ist auch begründet.
I.
Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche hinsichtlich des Klageantrages zu Ziff. I 3 und ZIff I aufgrund des Anerkenntnisses zu, im Übrigen aus §§ 3, 5 I Nr. 1, 8 UWG sowie §§ 3, 3a, 8 UWG iV mit Art. 9 I, V der VO (EU) 609/2013 zu.
Die Beklagte hat schon nicht dargetan, dass die von ihr vertriebenen Produkte in irgendeiner Form Nährstoffe enthalten, die sich als Lebensmittel eignen. Wie von ihr selbst vorgetragen, stellt sie vermehrungsfähige, im menschlichen Darm befindliche Keime her, die sie in Pulverform als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke vertreibt. Diese Vorgehensweise ist irreführend, da der durchschnittliche Verbraucher sich über den Inhalt der Ware falsche Vorstellungen macht.
Sie hat auch nicht dargetan, dass die Krankheiten symptomatische unkomplizierte Divertikelkrankheit, Colitis ulcerosa, Reizdarmsystem sowie atopische Dermatitis ernährungsbedingte Krankheiten sind. Dies ergibt sich auch weder aus den Anlagen B 12 noch sonstigen von der Beklagten vorgelegten Studien.
Es trifft zu, dass die VO (EU) 609/2013 bezüglich Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke gem der Übergangsvorschrift 20 IV iVm 11 I und der delegierten VO EU 2016/128, die erst zum 22.2.2019 in Kraft tritt, grundsätzlich erst ab diesem Zeitpunkt Geltung erlangt, und dass daher die bislang geltenden Vorschriften RiLi 1999/21/EG sowie die nationale DiätVO grundsätzlich Weitergeltung beanspruchen könnten. Jedoch regelt Art. 20 IV Unterabsatz II ausdrücklich, dass im Falle von Widersprüchlichkeitder hier mit der Frage weiter bzw enger Ernährungsbegriff ja tatsächlich vorliegtdie VO (EU) 609/2013 vorgeht. Für die Kammer steht damit ausser Frage, dass die vorliegenden Rechtsfragen allein nach der VO (EU) 609/2013 zu entscheiden sind.
Bei den hier zu beurteilenden Produkten der Beklagten handelt es sich nach Ansicht der Kammer jeweils nicht um Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne der VO EU 609/2013.
Gemäß Art. 2 II der VO EU 609/2013 liegen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ dann vor, wenn sie unter ärztlicher Aufsicht zu verwenden sind und zum Diätmanagement von Patienten dienen, und zwar: „zur ausschließlichen oder teilweisen Ernährung von Patienten mit eingeschränkter, behinderter oder gestörter Fähigkeit zur Aufnahme, Verdauung, Resorption, Verstoffwechslung oder Ausscheidung gewöhnlicher Lebensmittel oder bestimmter darin enthaltener Nährstoffe oder Stoffwechselprodukte oder von Patienten mit einem sonstigen medizinisch bedingten Nährstoffbedarf bestimmt ist, für deren Diätmanagement die Modifizierung der normalen Ernährung allein nicht ausreicht: “LbmZ liegen also dann vor, wenn sie besondere Ernährungserfordernisse erfüllen von Personen, deren Verdauungs- oder Resorptionsprozess bzw die Verstoffwechselung gestört ist oder von Personen, die sich in besonderen physiologischen Umständen befinden und deshalb einen besonderen Nutzen aus der kontrollierten Aufnahme bestimmter in der Nahrung enthaltener Stoffe ziehen können, beispielsweise bei Tumoren der Verdauungsorgane, Komapatienten, Unfallopfern usw.
Dies liegt hier aber unstreitig schon gar nicht vor. Die Beklagte hat schon nicht dargetan, dass die von ihr vertriebenen Produkte in irgendeiner Form Nährstoffe enthalten, die sich als Lebensmittel eignen. Wie von ihr selbst vorgetragen, stellt sie vermehrungsfähige, normalerweise im menschlichen Darm befindliche Keime her, die sie in Pulverform als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke vertreibt. Inwieweit diese der Ernährung von Patienten dienen, ist hier völlig offen geblieben.
Auf die Frage, ob die in den genannten Studien erzielten Ergebnisse aussagekräftig sind, kommt es hier also nicht an, die Kammer schließt auch durchaus nicht eine Wirksamkeit der Produkte der Beklagten bei den diffusen Krankheitsbildern, deren Ursachen ja durchaus nicht geklärt sind, aus.
II. Hinsichtlich der weiteren Werbeaussagen (Ziff. I 2.2, Ziff. I 4.2, Ziff I 5.2 des Tenors) steht dem Kläger ein Unterlassungsanspruch aus §§ 3, 3a UWG iVm Art. 13 ff LGVO bzw Art. 9 V EU (VO) 609/2013 zu. Wenn es sich bei dem Produkt der Beklagten entgegen der Ausführungen zu I doch um ein Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke handeln sollte, verstößt die Beklagte mit den nun untersagten krankheits- bzw gesundheitsbezogenen Aussage gegen Art. 9 V EU(VO) 609/2013. Für die Produkte der Beklagten gilt ansonsten mindestens Art. 10 I der Health-Claims VO (EU) Nr. 1924/2006- sämtliche Aussagen beziehen sich auf Erkrankungen. Dass die Aussagen speziell zugelassen wären, ist nicht ersichtlich
III.
Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 91 I ZPO, 708 Nr. 1709 S. 1 ZPO. Ein Fall des § 93 ZPO lag hier nicht vor. Das Anerkenntnis ist erst in der mündlichen Verhandlung abgegeben worden.


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