Europarecht

Keine “Flucht” beim offenen Kirchenasyl

Aktenzeichen  13a ZB 19.50042

Datum:
7.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1204
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 2
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Im Falle des offenen Kirchenasyls liegt keine “Flucht” vor, weil ein Antragsteller sich zwar gerade deshalb ins Kirchenasyl begebe, um die Überstellung zu vereiteln, die Behörden aber wüssten, wo sich der Antragsteller aufhalte und objektiv gesehen zugreifen könnten,kann die Überstellungsfrist nicht auf bis zu 18 Monate verlängert werden(wie VGH Ba.-Wü., Urt. v. 29.07.2019 – A 4 S 749/19, BeckRS 2019, 18065; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17, BeckRS 2019, 360).(Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anhand der vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten eindeutigen Kriterien für die Annahme des “Flüchtigseins” im Sinn von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die von der Beklagten aufgeworfene Frage beantwortet werden, ohne dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (so auch OVG NW, B.v. 2.9.2019 – 11 A 2285/19.A, BeckRS 2019, 23891). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 1 K 17.52261 2019-08-27 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 27. August 2019 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
Die Beklagte hat ihren Zulassungsantrag damit begründet, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Es sei klärungsbedürftig, “ob der Eintritt in ein sog. Kirchenasyl einem ,Untertauchen’ bzw. Flüchtigsein gleichzusetzen ist und daher zur Verlängerung der Überstellungsfrist berechtigt und ob dies insbesondere auch dann gilt, wenn es sich um ein sog. ,offenes’ Kirchenasyl handelt”. Aus dem Normtext ergebe sich nicht, dass die Anwendung von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Verordnung EU Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 – ABl. Nr. L 180 S. 312 (Dublin III-VO) zwingend eine der Inhaftierung vergleichbare Konstellation beim Begriff des Flüchtigseins im Blick habe. Denn während bei der 1. Alternative (“Inhaftierung”) zwingend ein enger Kausalzusammenhang (“aufgrund”) gefordert sei, fehle eine vergleichbare Einschränkung bei der hier vorliegenden 2. Alternative. Zudem werde im Fall der Inhaftierung darauf abgestellt, ob eine Überstellung “praktisch” möglich sei. Der Eintritt in das Kirchenasyl könne einem “Untertauchen” gleichgesetzt werden, weil sich der Betroffene insoweit der staatlichen Rechtsordnung nicht unterordne, sondern entziehen wolle.
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt, denn die von der Beklagten aufgeworfene Frage bedarf – wie der Kläger zu Recht einwendet – keiner Klärung in einem Berufungsverfahren.
Was unter “flüchtig” im Sinn von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO zu verstehen ist, war Gegenstand des vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angestrengten Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – InfAuslR 2019, 236 – juris). Jener hatte die Frage gestellt, ob sich der Betroffene gezielt und bewusst dem Zugriff der Behörden entziehen müsse, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, oder ob es genüge, wenn er sich nicht mehr in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhalte und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert sei (VGH BW, B.v. 5.3.2017 – A 11 S 2151/16 – juris). In Beantwortung der Frage hat der Europäische Gerichtshof ebenso wie vorliegend die Beklagte festgestellt, dass die Dublin III-VO keine Definition des Begriffs der Flucht enthalte, und nicht ausdrücklich geregelt sei, ob dieser Begriff voraussetze, dass die betreffende Person beabsichtigte, sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln (EuGH, a.a.O. Rn. 54 ff.). Unter Berücksichtigung des Kontexts der Regelung und der Ziele des Dublin-Systems kommt der Gerichtshof zum Ergebnis, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin III-VO dahin auszulegen sei, dass ein Antragsteller “flüchtig” sei, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen Behörden gezielt entziehe, um die Überstellung zu vereiteln. Die Absicht, sich dem Zugriff zu entziehen, könne angenommen werden, wenn die betreffende Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren (EuGH, a.a.O. Rn. 70). In der Folge hat der vorlegende Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 29. Juli 2019 (A 4 S 749/19 – juris Rn. 123) dementsprechend festgestellt, dass im Falle des offenen Kirchenasyls keine “Flucht” vorliege, weil ein Antragsteller sich zwar gerade deshalb ins Kirchenasyl begebe, um die Überstellung zu vereiteln, die Behörden aber wüssten, wo sich der Antragsteller aufhalte und objektiv gesehen zugreifen könnten. Auch wenn das aus moralisch wertzuschätzenden Gründen nicht getan werde, könne das Bundesamt die Überstellungsfrist im Falle des offenen Kirchenasyls nicht rechtmäßig auf bis zu 18 Monate verlängern.
Anhand dieser vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten eindeutigen Kriterien für die Annahme des “Flüchtigseins” im Sinn von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die von der Beklagten aufgeworfene Frage beantwortet werden, ohne dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (so auch OVG NW, B.v. 2.9.2019 – 11 A 2285/19.A – juris). Von der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgehend lässt sich die Frage ohne weiteres dahingehend beantworten, dass ein Asylbewerber, der sich in das Kirchenasyl begeben hat, nicht flüchtig im Sinn von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn seine ladungsfähige Anschrift bekannt ist und das Kirchenasyl der Durchführung der Überstellung weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht entgegensteht. Dass ein Betroffener “flüchtig” ist, kann nur angenommen werden, wenn die Behörden über dessen Abwesenheiten nicht informiert sind. Der Beklagten ist zwar zuzustimmen, dass der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht die Konstellation eines offenen Kirchenasyls zugrunde lag. Allerdings beschränken sich die Anforderungen des Europäischen Gerichtshof nicht – wie von der Beklagten angenommen – auf eine “Nichterreichbarkeit”. Vielmehr wird dort neben dem Verlassen der Wohnung vorausgesetzt, dass der Betroffene die Behörden über seine Abwesenheit nicht informiert hat. Angesichts dieser eindeutigen Vorgaben ist für eine Gleichstellung etwaiger anderer Konstellationen mit dem “Flüchtigsein” kein Raum.
Soweit sich die Beklagte auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth (U.v. 3.11.2017 – B 3 K 17.50037 – juris) bezieht, ist diese Entscheidung durch die vorgenannte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überholt. Zudem macht das Verwaltungsgericht Bayreuth selbst mehrfach deutlich, dass der Entscheidung ein besonderer Einzelfall zugrunde liege. Ungeachtet dessen reicht nach der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung allein der Umstand, dass der Asylbewerber sich der Überstellung entziehen will und sich dazu in das Kirchenasyl begeben hat, nicht für die Annahme aus, er sei flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wenn den Behörden bekannt ist, wo sich der Asylbewerber aufhält. Das Kirchenasyl hindert die Überstellung weder rechtlich noch tatsächlich (BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011 – Asylmagazin 2018, 320; OVG Bremen, B.v. 18.9.2019 – 1 LA 246/19 – juris; HessVGH, B.v. 12.9.2019 – 6 A 1495/19.Z.A – AuAS 2019, 250; OVG NW, B.v. 5.9.2019 – 13 A 2890/19.A – juris; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 123; NdsOVG, B.v. 25.7.2019 – 10 LA 155/19 – AuAS 2019, 201; OVG SH, B.v. 23.3.2018 – 1 LA 7/18 – juris)
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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