Europarecht

Keine SGB II-Leistungen für allein wegen Arbeitssuche sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltende Unionsbürger

Aktenzeichen  S 3 AS 1420/15

Datum:
23.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2, § 9
SGB XII SGB XII § 21 S. 1, § 23 Abs. 1 S. 1
FreizügG/EU FreizügG/EU § 2 Abs. 1, Abs. 2
Freizügigkeits-RL Freizügigkeits-RL Art. 7 Abs. 1b
AufenthG AufenthG § 25

 

Leitsatz

Sofern ein Ausländer allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ein Aufenthaltsrecht hat, ist er vom Leistungsanspruch nach dem SGB II ausgeschlossen. (redaktioneller Leitsatz)
Das Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Unionsbürger besteht nach dem Ablauf von drei Monaten nur dann fort, wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (ebenso EuGH BeckRS 2004, 75722 – Trojani). (redaktioneller Leitsatz)
Ein Daueraufenthaltsrecht setz einen fünfjährigen, auf Unionsrecht beruhenden, rechtmäßigen Aufenthalt voraus.  (redaktioneller Leitsatz)
Die Leistungen nach dem SGB II knüpfen an die Eigenschaft der Erwerbsfähigkeit an. Deshalb ist bei einem Ausschluss von Ansprüchen nach dem SGB II auch kein Anspruch nach dem SGB XII zu gewähren (Abweichung zu BSG BeckRS 2016, 65666). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage gegen den Bescheid vom 11. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015 wird abgewiesen.
II.
Der Hilfsantrag wird abgewiesen.
III.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Sie kann auch keine Leistungen von der Beigeladenen beanspruchen.
Der Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den streitbefangenen Zeitraum ab September 2015 zu gewähren.
Die Klägerin erfüllt grundsätzlich die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Insbesondere ist sie hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 und 2 SGB II. Jedoch ist die Klägerin nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Klägerin verfügt über kein anderes Aufenthaltsrecht als das zur Arbeitssuche.
Die Klägerin ist als Unionsbürgerin zwar grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Das Recht auf Einreise und Aufenthalt besteht aber nicht uneingeschränkt, sondern nur nach Maßgabe dieses Gesetzes (§ 2 Abs. 2 FreizügG/EU). Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind gemäß § 2 Abs. 2 FreizügG/EU neben Arbeitnehmern (Nr. 1) und niedergelassenen selbstständigen Erwerbstätigen (Nr. 2) auch Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche aufhalten, zunächst für die Dauer von sechs Monaten, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden (Nr. 1a). Familienangehörige von Unionsbürgern haben unter bestimmten Voraussetzungen gemäß § 33 FreizügG/EU ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht. Gemäß § 4 FreizügG/EU haben nichterwerbstätige Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie bei ausreichendem Krankenversicherungsschutz über ausreichende Existenzmittel verfügen.
§ 4 FreizügG/EU entspricht der Regelung in Art. 7 Abs. 1b der Richtlinie 2004/38, wonach für nichterwerbstätige Unionsbürger nach dem Ablauf von drei Monaten ein Aufenthaltsrecht nur unter der Bedingung fortbesteht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – vom 07.09.2004, RS.C 456/02-Trojani).
§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU scheidet aus, da die Klägerin nach eigenen Angaben nicht arbeitsuchend ist, sondern sich der Erziehung ihrer jüngeren Tochter, geboren 2015, widmen möchte. Die Klägerin ist auch nicht gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt, da sie bei ihrem Arbeitgeber weniger als ein Jahr beschäftigt war und dies länger als sechs Monate zurückliegt (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU). Somit hat die Klägerin keine Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU. Sie kann sich auch nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) berufen. Insbesondere hat sie kein Daueraufenthaltsrecht erworben.
Die Klägerin verfügt über kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 7 in Verbindung mit § 4a FreizügG/EU. Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU, das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Ein ständiger Aufenthalt von fünf Jahren genügt allein nicht zur Begründung eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 7, 4a FreizügG/EU; vielmehr muss ein Unionsbürger in diesem Zeitraum auch durchgehend materiell aufenthaltsberechtigt gewesen sein. Mit dem Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts wird auf die materiellen Freizügigkeitsvoraussetzungen abgestellt und somit unionsrechtlich vorausgesetzt, dass der Betreffende während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Artikels 7 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG, die durch das FreizügG/EU in nationales Recht umgesetzt worden sind, erfüllt hat (vgl. Urteil des Landessozialgerichts – LSG – Nordrhein-Westfalen vom 11.04.2016, Az: L 19 AS 555/15 mit weiteren Nachweisen).
Der fünfjährige Aufenthalt eines Unionsbürgers verbunden mit der im FreizügG/EU enthaltenen generellen Freizügigkeitsvermutung begründet daher allein kein Daueraufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 7, 4a FreizügG/EU und steht auch nicht einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4, 6 FreizügG/EU entgegen (vgl. Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, a. a. O. mit weiteren Nachweisen). Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7, 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt vielmehr einen fünfjährigen, auf Unionsrecht beruhenden rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland seit 15.01.2010 hat sie nicht ununterbrochen über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken. Die Ausländerakte stützt diese Auffassung, da aus der Akte hervorgeht, dass zwar häufiger hinsichtlich des Lebensunterhalts sowie der Krankenversicherung nachgefragt wurde, dann jedoch von Seiten der Klägerin, soweit aus der Akte ersichtlich, keinerlei Antwort erfolgte. Die Klägerin hat hierzu vorgetragen, dass sie von ihrem damaligen Lebensgefährten, Herrn H., abhängig gewesen sei, weil sie kein eigenes Geld hatte. Sie habe nicht bestimmen dürfen, wo sie wohnen. Daraus ergibt sich, dass die Klägerin über keine ausreichenden Existenzmittel verfügte, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken. Auch Herr H. hat keine entsprechenden verbindlichen Erklärungen abgegeben. Anhaltspunkte für ein Aufenthaltsrecht der Klägerin nach dem AufenthG entsprechende der Günstigkeitsregelung des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgebracht. Die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus § 25 AufenthG sind nicht gegeben. Insbesondere kann die Klägerin kein Aufenthaltsrecht ableiten, da sie hier zwei Kinder geboren hat, deren Väter ihr unbekannt sind. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob dies tatsächlich so ist. Dies ist an dieser Stelle nicht zu prüfen.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist mit unionsrechtlichen Vorschriften vereinbar (vgl. BSG, Urteile vom 03.12.2015, B 4 AS 44/15 R mit weiteren Nachweisen, und vom 20.01.2016, B 14 AS 35/5 R mit weiteren Nachweisen). Auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss bestehen nicht (vgl. BSG, a. a. O.). Die Klage war deshalb im Hauptantrag abzuweisen.
Auch der Hilfsantrag ist abzuweisen. Wie bereits das SG Berlin in seiner Entscheidung vom 11.12.2015 (S 149 AS 7191/13) ausgeführt hat, bestimmt § 21 Satz 1 SGB XII, dass Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt wären, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Dies gilt auch für erwerbsfähige EU-Bürger, deren SGB-II-Anspruch wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist. Denn die Regelung setzt nicht voraus, dass jemand tatsächlich Leistungen des anderen Sozialleistungsträgers erhält, sondern knüpft an die Eigenschaft als Erwerbsfähige an. Der diesbezüglich anderen Auffassung des BSG im Urteil vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15) kann nicht gefolgt werden. Die Rechtsauffassung des SG Berlin wurde inzwischen auch durch das LSG Rheinland-Pfalz mit Beschluss vom 11.02.2016 (L 3 AS 668/15 B ER) bestätigt. § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII regelt, dass Ausländern, die sich immer im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu leisten ist. Dem steht jedoch § 21 SGB XII entgegen. Die Klägerin ist unstreitig erwerbsfähig. Sie erhält deshalb keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Die nicht erwerbsfähigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, ihre minderjährigen in Deutschland geborenen Kinder, erhalten für ihren Lebensunterhalt Kindergeld und Leistungen nach dem UVG. Damit ist deren Bedarf zum Lebensunterhalt gedeckt. Der nun Mitte August nach Deutschland eingereiste minderjährige Sohn der Klägerin hält sich derzeit nur besuchsweise in der Bundesrepublik Deutschland auf. Zwar ist es der erklärte Wille der Klägerin, dass er auf Dauer in Deutschland verbleibt. Ob dies ausländerrechtlich bereits geklärt ist, ist hier jedoch nicht Streitgegenstand, da Streitgegenstand nur der Zeitraum bis 29.02.2016 ist.
Die Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abzuweisen.


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