Europarecht

Keine systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 19 S 19.50519

Datum:
29.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34677
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a

 

Leitsatz

Das italienische Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen weisen keine systemischen Mängel auf, die einem Zuständigkeitsübergang auf Deutschland führt. (Rn. 14 – 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der im Jahr 1986 geborene Antragsteller, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste im Februar 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Antragsteller stellte am 16. Februar 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seinen Anhörungen und Befragungen durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) und durch das Bundesamt gab er an, dass er Nigeria im März 2016 über den Landweg verlassen habe. Er habe sich in Libyen zunächst rund ein Monat aufgehalten und sei anschließend über den Seeweg nach Italien gereist. Er sei während seiner Überfahrt auf dem Meer aufgegriffen und nach Sizilien gebracht worden. Dort habe er sich rund ein Jahr und fünf Monate in einem Camp aufgehalten. Da sein Antrag in Italien abgelehnt worden sei, sei er im Februar 2019 nach Deutschland weitergereist.
Eine Eurodac-Recherche vom 16. Februar 2019 ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Italien für den 26. September 2018.
Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 9. April 2019 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, das aber bisher nicht beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 6. Mai 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor. In der Akte befindet sich kein Zustellungsnachweis.
Am 20. Mai 2019 erhob der Antragsteller zur Niederschrift Klage zum Verwaltungsgericht München (M 19 K 18.50517). Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt und trug ergänzend vor, dass er in Italien in Lebensgefahr schwebe, weil ein Freund, mit dem er zusammen geflohen sei, auf der Flucht zu Tode gekommen war und dessen Familie ihn nun für den Tod des Freundes verantwortlich mache.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Gründe:
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung – bei interessengerechter Auslegung nur hinsichtlich der Nummer 3 des Bescheids vom 6. Mai 2019 – ist zwar zulässig. Er ist statthaft, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt. Er ist auch fristgerecht erhoben worden. Mangels Zustellnachweis gilt nach § 8 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) der Bescheid als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Da der Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs nicht feststellbar ist, ist zu Gunsten des Antragstellers davon auszugehen, dass die Antragsfrist eingehalten wurde.
Der Antrag ist allerdings nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 6. Mai 2019, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, begegnet bei summarischer Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist. Der Asylantrag war daher als unzulässig abzulehnen. Da auch die Abschiebung weder tatsächlich unmöglich noch rechtlich unzulässig ist, war auch die Abschiebung nach Italien anzuordnen.
1. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Das war bereits nach dem eigenen, mit verbreiteten Fluchtrouten übereinstimmenden Vortrag des Antragstellers Italien. Außerdem belegt der Eurodac-Treffer für den 26. September 2018 mit der Kennzeichnung „IT1“, dass der Antragsteller in Italien einen Asylantrag gestellt hat. Die Ziffer „1“ in der Kennzeichnung „IT1“ steht für einen Antrag auf internationalen Schutz (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26.6.2013 – EURODAC-VO). Wegen der nachgewiesenen Antragstellung in Italien greift infolge des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO die Erlöschungsregel des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO unabhängig des seit der illegalen Einreise nach Italien verstrichenen Zeitraums nicht ein.
b) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch vom 9. April 2019 fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung vom 16. Februar 2019 erfolgte. Auf einen Fristablauf könnte sich der Antragsteller berufen (vgl. OVG Münster, B.v. 6.9.2017 – 11 A 1810/15.A – juris Rn. 25).
c) Gleichfalls ist die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf) gemäß Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO, die einen Zuständigkeitswechsel begründen würde auch ohne, dass der zuständige Mitgliedstaat die Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person ablehnt, noch nicht abgelaufen.
d) Die Zuständigkeit ist schließlich auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Italien als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6). Von solchen Mängeln kann jedoch nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 32 ff.; VG München, B.v. 13.3.2019 – M 9 S 17.50582 – juris Rn. 18).
Nichts anderes ergibt sich aus dem am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 (abrufbar unter www.normattiva.it/uri-res/N2Ls ?urn:nir:stato:legge:2018-12-01; 132; vgl. auch OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 10 LB 201/18, juris Rn. 40). Die damit zwar einhergehende Reduktion der Unterkunftskapazitäten lässt jedoch ein evidentes Missverhältnis zur Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten nicht erkennen (vgl. VG München, B.v. 1.3.2019 – M 11 S 19.50094).
e) Die demnach bestehende Zuständigkeit Italiens ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden.
Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich. Soweit der Antragsteller vorbringt, dass er in Italien von Angehörigen der Familie seines auf der Flucht zu Tode gekommenen Freunde bedroht werde, ist der Vortrag weder substantiiert noch ist anzunehmen, dass italiensche Behörden nicht zu einer Schutzgewährung in der Lage sind
Italien ist daher zuständig.
2. Die Überstellung an Italien ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
a) Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch zwar nicht geantwortet. Aber Italien ist auch in diesem Fall nach Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller wieder aufzunehmen. Von einer Übernahmebereitschaft ist daher auszugehen. Insoweit ist die Abschiebung tatsächlich möglich.
b) Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die die Antragsgegnerin zu berücksichtigen hätte, sind nicht ersichtlich. Es fehlt insoweit auch jeglicher Vortrag des Antragstellers.
c) Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist, sind ebenfalls nicht ersichtlich.
3. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 6. Mai 2019 voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen war.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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