Europarecht

Keine Überstellung eines irakischen Asylbewerbers nach Ungarn wegen systemischer Mängel

Aktenzeichen  20 B 16.50073

Datum:
23.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3045
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29, § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2, Art. 21 Abs. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4

 

Leitsatz

1 Ein Antrag auf internationalen Schutz iSv Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO liegt dann vor, wenn der zuständigen Behörde ein Schriftstück zugeht, das von einer Behörde ausgestellt ist und bescheinigt, dass ein Nicht-EU-Staatsangehöriger um internationalen Schutz nachgesucht hat (vgl. EuGH BeckRS 2017, 118290). Dies ist bei der Erteilung einer “Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender – BÜMA” an den Asylbewerber zu dem Zeitpunkt der Fall, wenn die Mitteilung beim Bundesamt eingeht. (Rn. 26) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn bergen die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung eines Asylsuchungen, sodass nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, 3 Dublin III-VO Rücküberstellungen dorthin nicht erfolgen können. (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Durch die Inhaftierung aller Asylsuchenden, auch der im Rahmen des Dublin-Verfahrens rücküberstellten Personen, verstößt Ungarn gewollt und systematisch gegen die maßgeblichen mitgliedstaatlichen Vorschriften zum Asylverfahren und zu den Aufnahmebedingungen. (Rn. 31 – 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Ob eine Behandlung iSv Art.3 EMRK erniedrigend ist, richtet sich danach, ob mit ihr die Absicht verbunden ist, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und ob dieser, was die Folgen betrifft, in seiner Persönlichkeit getroffen wurde (vgl. EGMR BeckRS 9998, 90136). Diese Anforderungen sind bei der ungarischen Asylhaft erfüllt, da verschiedene Einzelaspekte darauf hindeuten, dass es dem ungarischen Staat darauf ankommt, Asylantragsteller durch Asylhaft zu erniedrigen. (Rn. 34 – 35) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Ohne das Bestehen von Erfahrungswerten beim Bundesamt zur Abgabe einer von Ungarn geforderten Zusicherung, einen rücküberstellten Asylbewerber entsprechend der Richtlinie 2013/33/EU unterzubringen, ist ein weiteres Zuwarten mit einer Entscheidung im Berufungsverfahren nicht veranlasst (vgl. OVG NRW BeckRS 2017, 135417). (Rn. 46) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

B 3 K 15.50276 2016-03-18 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. März 2016 wird aufgehoben. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. Oktober 2015 wird in den Ziffern 1. und 2. aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Beschluss ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und die Anordnung seiner Abschiebung nach Ungarn.
Der Kläger ist ein am … … 1992 geborener irakischer Staatsangehöriger yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 5. April 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 6. Mai 2015 einen Asylantrag. Bei der Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am 6. Mai 2015 gab er im Wesentlichen an, aus Al-Kosh, Dorf Schekhke zu stammen, sein Heimatland am 22. März 2015 verlassen und am 5. April 2015 in Deutschland eingereist zu sein. Im Heimatland hielten sich noch seine Ehefrau, zwei Töchter und seine Großfamilie auf. Er habe die Grundschule besucht und dann als Hilfskraft gearbeitet. Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats am 11. Juni 2015 gab er an, zwei in Deutschland lebende Cousinen zu haben. Er habe am 22. oder 23. März 2015 im Irak seine Reise angetreten. Von dort sei er mit dem Bus in die Türkei gefahren. Nach einem Tag dort sei er mit Lkw und Pkw nach Deutschland gebracht worden. Am 4. April 2015 sei er in Deutschland eingereist. Er glaube, schon einmal in Ungarn und Bulgarien gewesen zu sein. Er sei dort jeweils festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt worden. In Bulgarien sei er drei oder vier Tage gewesen. Er wisse nicht genau, wann er in diesen Staaten gewesen sei, glaube aber, dass es Mitte bis Ende März 2015 gewesen sei.
Aufgrund eines EURODAC-Treffers der Kategorie 1 für Bulgarien richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Schreiben vom 11. Juni 2015 ein Übernahmeersuchen an Bulgarien. Auf diese Anfrage lehnte Bulgarien eine Rückübernahme des Klägers ab, weil die Überstellungsfrist gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) bereits abgelaufen sei. EURODAC-Treffer der Kategorie 1 und 2 ergaben sich auch hinsichtlich Ungarns. Aufgrund dessen richtete das Bundesamt mit Schreiben vom 8. Juli 2015 ein Übernahmeersuchen an Ungarn. Ungarn erklärte sich hierzu nicht.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 2015 lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2). Außerdem befristete sie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 0 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 3).
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 27. Oktober 2015 Klage. Das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth ordnete mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 wegen der unklaren Lage in Ungarn die aufschiebende Wirkung der Klage an (B 3 S 15.50275).
Mit Urteil vom 18. März 2016 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen sei, dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leide, aufgrund derer die dorthin zu überstellenden Asylsuchenden einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Gr-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt würden. Weder bestünden systemische Mängel bezüglich des Asylverfahrens noch bezüglich der Aufnahmebedingungen in Ungarn.
Auf den fristgerecht gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung des Klägers wurde die Berufung vom Senat mit Beschluss vom 22. November 2016 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zugelassen.
Zur Begründung der Berufung führt der Kläger aus, dass in Ungarn von systemischen Mängeln auszugehen sei. Auf das Urteil des Baden-Württembergischen VGH vom 5. Juli 2016 (Az.: A 11 S 974/16 – juris) werde Bezug genommen. Darüber hinaus akzeptiere Ungarn spätestens seit dem 14. Juni 2016 und in Zukunft keine Überstellungen von Deutschland aus im Rahmen der Dublin-III-VO mehr. Insoweit werde verwiesen auf die E-Mail der ungarischen Dublin-Unit vom 14. Juni 2016 sowie das Schreiben des Baden-Württembergischen VGH vom 25. Juli 2016 an das Bundesamt, die in Kopie beigefügt waren.
Der Kläger beantragt,
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. März 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 21. Oktober 2015 werden in Ziffern 1 und 2 aufgehoben.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Sie trägt vor, dass der von der Klägerseite herangezogenen Mailnachricht nicht die dort gewünschte Aussagebedeutung zukomme. Dies belege bereits, dass nicht nur für Juli und August 2016, sondern ebenso für die Folgemonate und auch aktuell unverändert Überstellungen nach Ungarn erfolgten. Im Jahr 2016 habe Ungarn insgesamt 3.756 Zustimmungen zu Übernahmeersuchen erteilt und es seien 294 Überstellungen erfolgt. Allein im Dezember 2016 seien bei 98 Zustimmungen 14 Personen überstellt worden. Dies zeige, dass im Rahmen des Dublinverfahrens weiter Überstellungen nach Ungarn durchgeführt werden könnten und würden. Deutschland überstelle auch 2017 weiterhin Personen nach Ungarn und Ungarn akzeptiere die durchgeführten Überstellungen. Die Quote an Überstellungen nach Ungarn in Relation zu den von dort eingegangenen Zustimmungen liege jahresbezogen für 2016 bei ca. 8%, für Dezember 2016 sogar bei 16%. Es zeigten sich auch keine Gründe dafür, dass in tatsächlicher Hinsicht der Überstellungsvollzug auszuscheiden hätte oder die Beklagte zur Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts verpflichtet sein könnte. Vorliegend sei auch die Überstellungsfrist noch nicht verstrichen. In dieser Konstellation müsse sich jeder Antragsteller darauf verweisen lassen, dass die Dublin-Verordnung im Zusammenhang mit der Überstellungsfrist ein klares Zuständigkeitsreglement vorsehe, das allein an das tatsächliche Verstreichen der Frist zur Überstellung einen Zuständigkeitsübergang knüpfe. Aus welchen Gründen es zu einem Verstreichen der Überstellungsfrist komme, spiele keine Rolle. Es lägen auch keine Gründe vor, die einen Übergang der Zuständigkeit nach den Kapiteln III ff. der Dublin-III-VO ergeben würde. Insbesondere sei die Beklagte weiterhin der Ansicht, dass sich im ungarischen Asylsystem und den dortigen Aufnahmebedingungen keine systemischen Schwachstellen zeigten. Insoweit werde in Ergänzung der bisherigen Ausführungen auf die überzeugenden Feststellungen des VG Berlin im Urteil vom 13. Dezember 2016 (3 K 509.15 A – juris) Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 6. September 2017 teilte die Beklagte auf Anfrage des Senats nach einer unstreitigen Beilegung des Rechtsstreits mit, dass dies nach der aktuell geltenden Weisungslage davon abhängig sei, ob Ungarn eine Zusicherung dahin abgebe, dass die zu überstellende Person entsprechend den Normen der Richtlinie 2013/33/EU untergebracht und ihr Antrag nach Maßgabe der Richtlinie 2013/32/EU bearbeitet werde. Eine solche Anfrage habe erst an diesem Tag in die Wege geleitet werden können.
Auf Nachfrage des Senats teilte die Beklagte mit Schriftsatz vom 28. September 2017 mit, dass keine belastbaren Erkenntnisse dazu vorlägen, bis wann mit einer Antwort der ungarischen Behörden auf entsprechende Anfrage nach einer Zusicherung zur Behandlung der zu überstellenden Person gemäß der Richtlinie 2013/33/EU zu rechnen sei.
Mit Schreiben vom 2. November 2017 hörte der Senat die Beteiligten zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO an.
Die Beklagte teilte hierzu mit, dass noch keine Antwort der ungarischen Partnerbehörden auf die Bitte um Zusicherung einer Behandlung des Antragstellers entsprechend der Richtlinie 2013/33/EU erfolgt sei. Daher sei weiterhin keine Möglichkeit vorhanden, dem Klagebegehren abzuhelfen.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Akten des Bundesamts sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.
II.
Der Senat entscheidet über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist, § 130a VwGO.
Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. März 2016 ist daher ebenso aufzuheben wie der Bescheid des Bundesamts vom 21. Oktober 2015 im beantragten Umfang.
Die Klage richtet sich gegen den Bescheid des Bundesamts vom 21. Oktober 2015, soweit damit der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1) und seine Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziffer 2) wurde. Statthafte Klageart dagegen ist die Anfechtungsklage (BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – BVerwGE 153, 162, 1. Leitsatz und Rn. 13 – 15). Hinsichtlich der Ziffer 3 (Befristung des Verbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG) wurde der Bescheid nicht angefochten, so dass insoweit Bestandskraft eingetreten ist.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AsylG der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats.
Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht gegeben sind. Zwar ist Ungarn der an sich für die Prüfung des Asylbegehrens des Klägers zuständige Mitgliedsstaat (hierzu 1.), allerdings besteht eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zum Selbsteintritt, da der Kläger bei einer Rücküberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 ERMK, Art. 4 GR-Charta ausgesetzt wäre (hierzu 2.).
1. Der zuständige Mitgliedsstaat für die Prüfung des Asylbegehrens des Klägers bestimmt sich vorliegend nach der Dublin-III-VO, die nach deren Art. 48 und 49 am 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist und für alle seitdem gestellten Asylanträge gilt. Der Kläger stellte seinen Asylantrag nach diesem Zeitpunkt und zwar am 6. Mai 2015.
Das Bundesamt hat sein Übernahmeersuchen rechtzeitig an Ungarn gestellt und ist daher nicht nach Art. 21 Abs. 1, UA 3 der Dublin-III-VO zuständig geworden.
Die Frist des Art. 21 Abs. 1 UA 2 Dublin-III-VO wurde vom Bundesamt eingehalten. Diese Frist beträgt zwei Monate ab der EURODAC-Treffermeldung. Im vorliegenden Fall wurden die EURODAC-Treffer am 8. Mai 2015 ausgelesen. Die zweimonatige Frist begann damit nach § 31 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 187 ff. BGB am 9. Mai 2015, 0:00 Uhr zu laufen und endete am 8. Juli 2015, 24:00 Uhr. Das ausweislich der Bundesamtsakte am 8. Juli 2015 an Ungarn gestellte Übernahmeersuchen wurde damit fristgerecht gestellt.
Daneben ist aber auch die dreimonatige Frist des Art. 21 Abs. 1 UA 1 Dublin-III-VO eingehalten worden. Was unter einem „Antrag auf internationalen Schutz“ im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist, regelt Art. 20 Abs. 2 der Dublin-III-VO und wurde vom Europäischen Gerichtshof in dessen Urteil vom 26. Juli 2017 (C-670/16 – NVwZ 2017, 1601 ff.) konkretisiert. Danach reicht als Antrag auf internationalen Schutz ein Schriftstück, das von einer Behörde ausgestellt ist und bescheinigt, dass ein Nicht-EU-Staatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat. Im vorliegenden Fall wurde dem Kläger nach seiner Einreise nach Deutschland am 5. April 2015 von der Regierung von Oberbayern eine sogenannte „Bescheinigung über die Meldung als Asylbewerber – BÜMA“ ausgestellt und diese ging ausweislich des Eingangsstempels am 13. April 2015 bei der Außenstelle Zirndorf des Bundesamts ein (Blatt 23 der Bundesamts-Akte). Ausgehend von diesem Datum ist die dreimonatige Frist des Art. 21 Abs. 1 UA 1 Dublin-III-VO gewahrt.
Gegen eine Zuständigkeit Ungarns spricht auch nicht, dass der Kläger zunächst in Bulgarien einen Antrag auf Asyl gestellt hatte. Denn ausweislich der (undatierten) Antwort der bulgarischen Dublin-Einheit auf das zunächst an Bulgarien gestellte Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 11. Juni 2015 (Bl. 76 der Bundesamts-Akte) hatte der Kläger nach seiner Asylantragstellung in Bulgarien am 18. März 2015 am 1. April 2015 in Ungarn einen Asylantrag gestellt. Ungarn hatte aber nicht innerhalb der zweimonatigen Frist des Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO ein Übernahmegesuch an Bulgarien gestellt, mit der Folge, dass nach Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO Ungarn für die Prüfung des Asylantrags zuständig geworden war. Bulgarien hatte aus diesem Grund das Übernahmegesuch Deutschlands abgelehnt.
Nachdem Ungarn auf das Übernahmeersuchen Deutschlands nicht geantwortet hatte, ist nach Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO von dessen Zustimmung für die Rückübernahme auszugehen und Ungarn zur Rückübernahme verpflichtet.
Die Zuständigkeit ist auch nicht nach Art. 29 Abs. 3 Dublin-III-VO auf Deutschland übergegangen. Denn diese Frist beginnt mit der Annahme des Aufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedsstaat oder mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Letzteres war vorliegend der Fall, da das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 (B 3 S 15.50275) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hatte. Damit war die sechsmonatige Frist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO noch nicht angelaufen.
2. Allerdings weisen das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta für den Kläger mit sich bringen. Daher ist Ungarn in vorliegenden Fall für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig bzw. kann eine Rücküberstellung des Klägers nach Ungarn nicht erfolgen (Art. 3 Abs. 2 UA 2 und 3 Dublin-III-VO und EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; EuGH, U.v. 21.12.2011 – N.S., C-411/10 und C-493/10 – NVwZ 2012, 417; U.v. 10.12.2013 – Abdullahi, C-394/12 – NVwZ 2014, 208; U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – NVwZ 2017, 691).
a) Im Frühjahr 2017 ist in Ungarn eine weitere Verschärfung der Asylgesetze in Kraft getreten. Danach werden nun alle Asylantragsteller (und nicht mehr nur die neu über die Südgrenze eintreffenden) in den seit 2015 errichteten „Transitzonen“ an der Grenze insbesondere zu Serbien untergebracht und dort inhaftiert (Hungarian Helsinki Committee HHC, Hungary: Government’s New Asylum Bill on Collective Push-Backs and Automatic Detention, Information Update by the Hungarian Helsinki Committee, 15. Februar 2017, Seite 2; UNHCR, Schreiben an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 28.6.2017 mit Anmerkungen zu Änderungen des ungarischen Asylrechts und zu Dublin-Überstellungen nach Ungarn, Seite 2; Amnesty International, Hungary: Legal amendments to detain all asylum-seekers a deliberate new attack on the rights of refugees and migrants, 9. März 2017, Seite 3; Handelsblatt vom 16.3.2017: Verschärftes Asylgesetz tritt in Kraft, recherchiert am 23. Januar 2018 unter www.handelsblatt.com; spiegel-online vom 7. März 2017: Ungarn beschließt Internierung von Flüchtlingen, zuletzt recherchiert am 23. Januar 2018 unter www.spiegel.de). Damit werden alle Asylsuchenden und auch die aus anderen Mitgliedsstaaten im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens an Ungarn rücküberstellten Asylsuchenden für die Zeit des Asylverfahrens inhaftiert. Damit verstößt Ungarn gewollt und systematisch gegen die maßgeblichen mitgliedsstaatlichen Vorschriften zum Asylverfahren und zu den Aufnahmebedingungen.
Nach Art. 28 Abs. 1 Dublin-III-VO nehmen die Mitgliedsstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt. Vielmehr ist nach Abs. 2 der Bestimmung die Haft nur in bestimmten Fällen zulässig, und zwar zur Sicherstellung von Überstellungsverfahren, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht nach einer Einzelfallprüfung und nur dann, wenn die Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Über diesen eng beschränkten Zweck geht Ungarn mit der generellen Inhaftnahme von Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern aber weit hinaus. Die Haft ist dort gerade nicht auf die Fälle des Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO beschränkt.
Darüber hinaus ist Ungarn grundsätzlich nach der Dublin-III-VO der für die Prüfung des Asylbegehrens des Klägers zuständige Mitgliedsstaat (s.o.). Daher gelten für Ungarn grundsätzlich die in der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96 v. 29.6.2013)) festgelegten Anforderungen. Auch nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie nehmen die Mitgliedsstaaten eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Asylantragsteller ist. Die Gründe für die Anordnung der Haft sind in Art. 8 Abs. 3 wiederum auf bestimmte, eng umgrenzte Haftzwecke beschränkt. In Ungarn findet inzwischen aufgrund der geänderten Rechtslage aber eine generelle Inhaftnahme von Asylantragstellern statt. Insoweit gibt es auch keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser Haft um eine Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 5 EMRK und nicht lediglich um eine Aufenthaltsbeschränkung handelt (vgl. hierzu HHC, Two Years After: What’s Left of Refugee Protection in Hung…, September 2017, Seite 7; EGMR, U.v. 14.3.2017 – Nr. 47287/15 – Rn. 66). Denn die Transitzonen sind von einem Stacheldrahtzaun umzäunt und werden von Polizisten und bewaffneten Sicherheitskräften bewacht. Es befinden sich Kameras in jeder Ecke, daneben sind die Unterbringungen in den Grenzzaun eingebettet.
Diese Haft ist auch im konkreten Fall „erniedrigend“. Der EGMR hat zu Art. 3 EMRK, der mit Art. 4 GR-Charta wortgleich ist, ausgeführt, dass diese Bestimmung nur anwendbar ist, wenn die Misshandlung ein bestimmtes Mindestmaß an Schwere erreicht und körperliche Verletzungen oder intensive physische oder psychische Leiden mit sich bringt (vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 3 Rn. 19; EGMR, U.v. 6.4.2000 – Nr. 26772/95 – Labita/Italien, Beck-RS 2013, 11454 Rn. 120). Um zu entscheiden, ob eine Behandlung „erniedrigend“ im Sinne von Art. 3 EMRK ist, ist darauf abzustellen, ob die Absicht damit verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und ob dieser, was die Folgen betrifft, in seiner Persönlichkeit getroffen wurde und zwar in einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Art und Weise (EGMR, U.v. 12.5.2005 – Nr. 46221/99 – Öcalan/Türkei, NVwZ 2006, 1276 Rn. 181 m.w.N.). Eine Festnahme oder Haft im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren ist danach nur dann erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK, wenn die damit verbundene Demütigung oder Erniedrigung eine besondere Schwelle erreicht hat und jedenfalls über das hinaus geht, was üblicherweise jede Festnahme oder Haft mit sich bringt (EGMR a.a.O. „Öcalan“ Rn. 181 m.w.N.).
Im Falle der ungarischen Verhältnisse sind diese Anforderungen erfüllt, sodass von einer erniedrigenden Behandlung auszugehen ist. Denn es liegen hier verschiedene Einzelaspekte vor, die auf eine Absicht des ungarischen Staates hindeuten, die Asylantragsteller durch die Asylhaft zu erniedrigen. So werden die Asylantragsteller, wenn sie von der Hafteinrichtung zum Gericht gebracht werden oder bei anderen Gelegenheiten (z.B. beim Besuch eines Krankenhauses) mit Handschellen gefesselt und an einer Leine geführt (Aida, Country Report: Hungary, 2016 Update, Februar 2017, Seite 77). Damit wird in einer über jegliche Notwendigkeit hinausgehenden Weise unabhängig vom Einzelfall den Asylantragstellern verdeutlicht, dass sie sich in einer unterlegenen Situation befinden. Daneben stehen den ungarischen Behörden sehr weitgehende Möglichkeiten zur Verlängerung der Asylhaft nach den gesetzlichen Regelungen zur Verfügung. Die Praxis geht darüber hinaus dahin, dass Möglichkeiten, von der Haft im Einzelfall abzusehen, in der Praxis nicht genutzt werden (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 28 – 39). Insbesondere finden sich in den Gerichtsentscheidungen keinerlei Individualisierungen, vor allem was den Vorrang anderer Maßnahmen vor der Haft angeht. Auch die Umzäunung durch Stacheldraht und die Bewachung durch die Polizisten und Sicherheitskräfte sowie die ständige Überwachung durch Kameras ist geeignet und zielt wohl auch darauf ab, bei den inhaftierten Asylbewerbern ein Gefühl der Unterlegenheit und des Ausgeliefertseins zu erzeugen, das sie veranlasst, möglichst schnell Ungarn wieder zu verlassen, wie es auch die erklärte Politik der ungarischen Regierung ist (vgl. hierzu auch HessVGH, B.v. 24.8.2017 – 4 A 2986/16.A – juris Rn. 54/55).
b) Darüber hinaus schließt sich der Senat den Erwägungen des 13a-Senats des Verwaltungsgerichtshofs in dessen Entscheidung von 23. März 2017 (13a B 17.50003, dort insbesondere Rn. 24 – 31) an. Der 13a-Senat hat dort wie folgt ausgeführt:
„a) Das ergibt sich aus der dortigen (gesetzlichen) Entwicklung in den letzten Jahren. Nach der am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Änderung des Asylgesetzes, die die Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern vorsah, kam es ab Sommer 2015 zu weiteren Gesetzesänderungen betreffend unter anderem die Einführung eines beschleunigten Verfahrens, den Rechtsschutz und die Inhaftierung sowie die Aufnahme von Serbien in eine nationale Liste sicherer Drittstaaten mit der Folge der Unzulässigkeit von Asylanträgen bei Einreise über Serbien (UNHCR, Hungary: As a Country of Asylum, Mai 2016 – UNHCR Mai 2016; Hungarian Helsinki Committee, Information Note v. 7.8.2015: Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary – HHC 7.8.2015; AIDA – Asylum Information Database, Country-Report: Hungary v. November 2015 – aida November 2015; Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 und 44944/15 v. 17.12.2015 – CHR). Im September 2015 wurde mit der Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien ein Grenzverfahren in dort eingerichteten Transitzonen etabliert (UNHCR Mai 2016; aida November 2015; CHR). Im Fall von Unzulässigkeit und im beschleunigten Verfahren ist vom Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft (OIN) innerhalb von 15 Tagen zu entscheiden, im regulären Verfahren innerhalb von zwei Monaten (aida November 2015, S. 12; CHR). Die Rechtsmittelfrist gegen Unzulässigkeitsentscheidungen des OIN bzw. gegen Entscheidungen im beschleunigten Verfahren beträgt drei Tage, im Standardverfahren acht Tage (UNHCR Mai 2016, S. 10; HHC 7.8.2015; aida November 2015, S. 21 ff.). Unter Beibehaltung der im Juli 2013 eingeführten Asylhaft im Allgemeinen wurde die zulässige Haftdauer für Grenzankömmlinge ohne Papiere auf 24 statt bisher 12 Stunden heraufgesetzt und die Haftanordnung im Dublin-Verfahren erleichtert. Im Allgemeinen kann Asylhaft erstmalig maximal für 72 Stunden sowie aufgrund eines Verlängerungsantrags um maximal 60 Tage aus im Einzelnen genannten Gründen angeordnet werden, insbesondere bei unklarer Identität und Gefahr des Untertauchens. Zuvor ist zu prüfen, ob ein milderes Mittel zur Anwendung kommen kann (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Regensburg v. 27.1.2016: Rücküberstellungen nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens – AA 27.1.2016). Die maximale Dauer der Asylhaft beträgt 6 Monate, bei Folgeanträgen 12 Monate und bei Familien mit Kindern 1 Monat (AA 27.1.2016; aida November 2015, S. 63). Die bisher verpflichtende Platzgröße für die Asylhaft wurde in eine Empfehlung umgewandelt, die so weit wie möglich einzuhalten ist. Ferner kann OIN Asylantragsteller ohne Dokumente verpflichten, ihr Heimatland zu kontaktieren (HHC 7.8.2015; CHR). (24)
Dublin-Rückkehrer, über deren Erstantrag bei Rückkehr noch nicht entschieden wurde, werden als Erstantragsteller behandelt (AA 27.1.2016). Grundsätzlich hat die Asylbehörde in Fällen, in denen Asylantragsteller während eines laufenden Asylverfahrens in einen Mitgliedstaat weiterreisen, in jedem Verfahrensstadium die Möglichkeit, entweder auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen eine Sachentscheidung zu treffen oder aber das Asylverfahren einzustellen. Regelmäßig wird das Asylverfahren ohne Entscheidung in der Sache eingestellt (AA 27.1.2016; aida November 2015, S. 21 ff.). Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann bis zu neun Monate nach Einstellung des Verfahrens beantragt werden (UNHCR Mai 2016, S. 20; AA 27.1.2016). Danach wird die Einstellung endgültig und der Asylbewerber wird wie ein Folgeantragsteller behandelt, wobei Änderungen dergestalt in Planung seien, dass der Asylantrag auch in diesem Fall vollumfänglich geprüft werde (AA 27.1.2016). (25)
b) Angesichts dieser Ausgangslage, die nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial ab dem Jahr 2013 bis zum jetzigen Zeitpunkt durch eine fortschreitende (gesetzliche) Intensivierung und Verschärfung gekennzeichnet ist, besteht für die Kläger insbesondere die Gefahr, in Ungarn ohne ausreichende gesetzmäßige Anordnung und ohne effektive Rechtsschutzmöglichkeiten inhaftiert zu werden (26).
Die Anordnung der Asylhaft ist schon nach den gesetzlichen Vorgaben in großem Umfang zulässig. Danach kann Asylhaft angeordnet werden 1. bei unklarer Identität oder Staatsangehörigkeit, 2. bei Ausländern, die sich im Ausweisungsverfahren befinden und einen Asylantrag stellen, obwohl sie diesen zweifelsfrei bereits zuvor hätten stellen können oder um eine drohende Aufenthaltsbeendigung zu verzögern oder abzuwenden, 3. wenn der Sachverhalt des Asylbegehrens aufgeklärt werden muss und eine Aufklärung nicht ohne Haft möglich ist, speziell wenn die Gefahr des Untertauchens besteht, 4. wenn der Asylbewerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, 5. wenn der Asylantrag im Flughafenbereich gestellt wurde oder 6. zur Sicherstellung der Durchführung des Dublin-Verfahrens, wenn die ernsthafte Gefahr des Untertauchens besteht (AA 27.1.2016). Diese Formulierung der Haftgründe ist sehr weit gefasst und lässt damit Raum für eine weitreichende Inhaftierung von Asylbewerbern (siehe auch UNHCR, Stellungnahme an das VG Düsseldorf v. 30.9.2014: Situation der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Ungarn, insbesondere Dublin-Rückkehrer und Inhaftierungen – UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl, Stellungnahme an das VG Düsseldorf vom 31.10.2014: Haftsituation von Asylbewerbern in Ungarn – Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015, S. 59 ff.). (27)
Auch die tatsächliche Praxis der Inhaftierung in Ungarn wird schon länger in vielen Punkten erheblich kritisiert. So solle das OIN vor einer Haftanordnung zwar prüfen, ob Alternativen zur Haft bestünden, aber nach Auskunft des Hungarian Helsinki Committee und Pro Asyl (Brief Information Note for the Seminar on the Right to Asylum in Europe, Barcelona, 9.-10.6.2016: The Reception Infrastructure for Asylum-Seekers in Hungary – HHC Juni 2016; Pro Asyl 31.10.2014) werde hiervon nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht; Verlängerungen würden automatisch für den Höchstzeitraum beantragt und die Haftanordnungen seien nicht individualisiert (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014). Kritisch angemerkt wird dabei ferner, dass es in „Asylhaft“-Einrichtungen des OIN praktisch kein ausgebildetes Personal gebe; Sozialarbeiter erhielten nur Zugang unter Begleitung einer bewaffneten Wache. Auch wenn sich die Inhaftierten zwischen 6.00 und 23.00 Uhr innerhalb der Hafteinrichtungen frei bewegen könnten (Pro Asyl 31.10.2014) und es in der polizeilichen „Einwanderungshaft“ für Folgeantragsteller ausgebildetes Bewachungspersonal gebe (UNHCR 30.9.2014), wird festgestellt, dass Asylbewerber bei etwaigen Behördengängen und Gerichtsterminen wie im Strafverfahren gefesselt und mit Handschellen vorgeführt würden (aida November 2015, S. 65; CHR). Weiter wird kritisiert, dass die Inhaftierungsquote ab dem Jahr 2013 kontinuierlich angestiegen sei. Während in einer Auskunft des Auswärtigen Amts vom 3. Juli 2015 an das Verwaltungsgericht Hannover (AA 3.7.2015) noch angegeben wurde, dass im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2015 2,1% aller Asylantragsteller und 6 bis 10% der Dublin-Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien, komme es in der Praxis nach Auskunft von aida (November 2015, S. 62) und CHR sehr häufig zu Inhaftierungen und entgegen der gesetzlichen Regelung seit September 2014 auch bei Familien mit Kindern, die unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten von Gesetzes wegen als schwerwiegendstes Mittel bis zu 30 Tage inhaftiert werden könnten. UNHCR kann jedoch nicht bestätigen, dass die Haft nur unter dieser Voraussetzung stattfindet (UNHCR 30.9.2014). Pro Asyl gibt vielmehr an, dass OIN ab September 2014 Familien verstärkt inhaftiert habe (Pro Asyl 31.10.2014). Anlässlich seines Besuchs vom 24. bis 27. November 2015 wurde dem CHR von OIN mitgeteilt, dass sich derzeit 525 Asylantragsteller in offenen Aufnahmeeinrichtungen befänden und 412, mithin ca. 44%, inhaftiert seien. Anfang November 2015 soll die Inhaftierungsquote CHR zufolge sogar 52% gegenüber 11% im Jahr 2014 betragen haben (siehe auch HHC v. Juni 2016). Zudem scheint sich nach Auffassung der genannten Organisationen der ungenügende Gebrauch von Haftalternativen fortzusetzen. Auch das Problem der willkürlichen Inhaftierung sei weiterhin akut. Nach Auskunft von HHC waren am 30. Mai 2016 insgesamt 702 Asylbewerber in Haft, 1.583 in offenen Aufnahmeeinrichtungen. Zuletzt meldete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (Kurzinformation Ungarn v. 14.12.2016: Zentrum Bicske geschlossen – BFA 14.12.2016), dass im Dezember 2016 nach offiziellen Zahlen 192 Migranten in offener und 301 in geschlossener Unterbringung aufhältig waren. Zur Haftdauer berichtet Pro Asyl in Zusammenarbeit mit dem HHC, das wiederum eine Anfrage an OIN richtete, dass die durchschnittliche Haftdauer im Zeitraum vom 1.7.2013 bis 31. August 2014 dem OIN zufolge zwar „nur“ 32 Tage betragen habe, nach den eigenen Einschätzungen und einer Untersuchung des HHC allerdings deutlich länger sei. Die Diskrepanz beruhe auf vermutlich darauf, dass OIN nicht nur die Zeit von Inhaftierungen einrechne, sondern auch diejenigen Fälle ohne jegliche Inhaftierung (28).
Schließlich wies HHC im Juni 2016 nochmals ausdrücklich darauf hin, dass Ungarn einer der wenigen Staaten in Europa sei, in dem Asylerstantragsteller in der Regel für mehrere Monate inhaftiert würden (HHC Juni 2016). Dublin-Rückkehrer würden in der Praxis regelmäßig inhaftiert (so auch UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014; CHR). Diese Haft werde als „Asylhaft“, nicht als „Abschiebehaft“ oder „Einwanderungshaft“ verhängt (UNHCR 30.9.2014). Auch das Auswärtige Amt (AA 3.7.2015) gibt an, dass die Wahrscheinlichkeit, in Haft genommen zu werden, im ersten Halbjahr 2015 für Dublin-Rückkehrer gegenüber Neuankömmlingen erhöht gewesen sei (29).
Zudem lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass ein effektiver Rechtsschutz existieren würde. Insbesondere bestehen für das OIN und auch die Gerichte sehr restriktive Fristenregelungen zur Entscheidung. Diese sind nicht ausreichend, um die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu gewährleisten. Bei Fristen im Tagebereich wie dargestellt können die unverzichtbaren Anforderungen an ein solches Verfahren einschließlich Dolmetscher, Anhörung, (individualisierter) Herkunftslandinformationen etc. nicht eingehalten werden (siehe hierzu HHC 7.8.2015; aida November 2015; CHR). Gleiches gilt für die Rechtsmittelfristen (siehe auch aida November 2015; CHR). Weiter gibt es zwar de iure Zugang zu Rechtsberatung, in der Praxis ist diese aber den Auskünften zufolge mangels entsprechender staatlicher Finanzierung nicht verfügbar (UNHCR 30.9.2014). Soweit überhaupt staatliche Anwälte bestellt seien, agierten diese passiv (Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015). Tatsächlich gebe es damit nur Zugang zu den (Vertrags-)Anwälten des HHC, so dass nur eine Minderheit anwaltliche Vertretung erhalte (Pro Asyl 31.10.2014). Außerdem ist gegen die Verhängung von „Asylhaft“ kein gesetzlicher Rechtsbehelf vorgesehen, sondern nur eine sogenannte „Einspruchsmöglichkeit“. Nach den Informationen von UNHCR werde aber auch hiervon aus Unkenntnis kein Gebrauch gemacht (UNHCR 30.9.2014). Gegen die „Einwanderungshaft“ gebe es ebenfalls keinen Rechtsbehelf, nur eine automatische Überprüfung (UNHCR 30.9.2014). Die gerichtliche Haftüberprüfung erfolge in einem „automatisierten“ Prozess alle 60 Tage durch dieselben (Straf-)Richter, die die Erstprüfung durchgeführt hätten (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014; aida November 2015, S. 67 ff.). In der täglichen Praxis würden Entscheidungen für 5 bis 15 Häftlinge innerhalb von 30 Minuten gefällt, ohne dass eine individuelle Prüfung erfolgen könne (UNHCR 30.9.2014; Pro Asyl 31.10.2014). Schon im Jahr 2012 habe der Oberste Gerichtshof (Kuria) eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die 8.000 Entscheidungen analysiert habe, von denen nur in drei Fällen keine Haftverlängerung erfolgt sei (UNHCR 30.9.2014). Die Asylarbeitsgruppe am Obersten Gerichtshof bestätigte im Oktober 2014, dass die gerichtliche Überprüfung der Asylhaft wirkungslos sei (aida November 2015, S. 67 ff.). Die Entscheidungen seien schematisch, das Verfahren nicht individualisiert und es erfolge keine Überprüfung, ob die Haft das einzige Mittel sei. Seit der Beanstandung durch die Kuria habe sich aber in der Praxis nichts geändert (aida November 2015, S. 67 ff.). Angesichts dieser gravierenden Missstände kann der Rechtsschutz damit insgesamt gesehen nicht mehr als wirksam bezeichnet werden (30).
Die Bewertung dieser Erkenntnisse ist insofern mit Schwierigkeiten verbunden, als jeweils nur punktuelle Angaben gemacht, wie etwa zu bestimmten Zeiträumen oder zu den betroffenen Gruppen, und keine statistisch aufbereiteten Daten für die Jahre 2014, 2015 und 2016 genannt werden zur (Gesamt-)Anzahl der Asylanträge in Ungarn, zur Anzahl der Dublin-Rückkehrer und zu den Verhältnissen in der Transitzone sowie dem jeweiligen Anteil an Inhaftierungen. Das kann wohl kaum darin begründet sein, dass keine offiziellen statistischen Informationen vorlägen, etwa ob Dublin-Rückkehrer regelmäßig oder ausnahmsweise inhaftiert werden, wie das Auswärtige Amt angibt (AA 27.1.2016). Denn das widerspräche zum einen dessen eigener Aussage in der Auskunft an das Verwaltungsgericht Hannover (AA 3.7.2015), wonach im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2015 6 bis 10% der Dublin-Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien. Zum anderen wurde dem CHR im November 2015 von OIN mitgeteilt, dass es zu diesem Zeitpunkt eine allgemeine Inhaftierungsquote von ca. 44% gegeben habe und von den in diesem Jahr durchgeführten 1.338 Dublin-Überstellungen 332 Rückkehrer in Asylhaft genommen worden seien, also ca. 25%. Auch wenn hiermit keine übergreifende Aussage getroffen wird, die Angaben zur Inhaftierungsquote sehr differieren und nicht zu erkennen ist, inwieweit sich die statistischen Ausgangsdaten decken, lässt sich in der Zusammenschau mit den weiteren Angaben, insbesondere des Hungarian Helsinki Committee (Hungary: Key Asylum Figures as of 1 September 2016 – HHC 1.9.2016: am 29.8.2016 waren 233 von 707 Asylbewerbern in Haft) und des österreichischen Bundesamts für Asylwesen (BFA 14.12.2016: im Dezember 2016 waren 192 Migranten in offener und 301 in geschlossener Unterbringung aufhältig), dennoch ein Gesamtbild entnehmen. Die vorliegenden Erkenntnisse zeigen deutlich, dass die Inhaftierung von Asylbewerbern in Ungarn weit verbreitet ist. Es tritt klar zu Tage, dass die gesetzlichen Vorgaben eine weitreichende Anordnung von Haft ermöglichen und sie auch in der praktischen Handhabung in beachtlichem Umfang stattfindet. Da zudem die Anordnung der Haft schematisch und ohne Einzelfallprüfung erfolgt und eine gerichtliche Überprüfung faktisch nicht stattfindet, muss davon ausgegangen werden, dass Dublin-Rückkehrer wie die Kläger im Fall ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK ausgesetzt wären. Diese Einschätzung wird auch bestätigt durch deren unbestrittenen Angaben, dass sie in Ungarn bereits inhaftiert gewesen seien. (31)“
An dieser Einschätzung ändert auch die von der Beklagten im Berufungsverfahren angeführte Rechtsprechung des VG Berlin laut dessen Urteil vom 13. Dezember 2016 (3 K 509.15 A – juris) nichts. Das Verwaltungsgericht Berlin hat dort ausgeführt, dass keine reale Gefahr eines Verstoßes gegen das in Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), Art. 4 und 19 GR-Charta sowie Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2001/95/EU folgende Zurückschiebungsverbot (Non-Refoulement) bestehe (Rn. 34 bis 36): Die diesbezüglichen Ausführungen führen schon deshalb nicht zu einem anderen Ergebnis, da ein drohender Verstoß gegen das Gebot des Non-Refoulements für den Senat nicht entscheidungserheblich war. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, dass keine Gefahr einer gegen Art. 4 GR-Charta verstoßenden Inhaftierungspraxis bestehe, ist lediglich anzumerken, dass die vorstehend dargestellten neueren Entwicklungen im ungarischen Recht, nach denen jeder Asylantragsteller inhaftiert wird, vom Verwaltungsgericht Berlin naturgemäß noch nicht berücksichtigt worden sind. Daher können seine Ausführungen zur früheren Rechtslage die des Senats zur aktuellen Rechtslage nicht in Frage stellen.
Die im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht erfolgte Antwort der ungarischen Behörden auf die Anfrage des Beklagten, dass zugesichert werden möge, dass der Kläger entsprechend der Richtlinie 2013/33/EU untergebracht werde, ändert ebenfalls nichts am Ergebnis. Denn ein weiteres Zuwarten mit der Entscheidung des Senats im Berufungsverfahren war angesichts der beim Bundesamt nicht vorliegenden Erfahrungswerte, wann mit einer derartigen Erklärung gerechnet werden könne, nicht mehr erforderlich. Ob eine derartige Antwort durch die ungarischen Behörden überhaupt noch erfolgt, kann derzeit nicht abgeschätzt werden und ist mehr als fraglich (vgl. hierzu auch OVG NRW, B.v. 8.12.2017 – 11 A 1966/15. A – juris).
Im Ergebnis ist Ungarn daher nicht für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständiger Mitgliedsstaat nach der Dublin-III-VO. Damit kann der Asylantrag des Klägers nicht wegen einer Zuständigkeit Ungarns nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Der Bescheid ist in Ziffer 1 rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten.
Daher ist auch die in Ziffer 2 des Bescheids ausgesprochene Abschiebungsanordnung nach Ungarn (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger ebenso in seinen Rechten. Auch diese Regelung des streitgegenständlichen Bescheids ist daher aufzuheben.
Die Berufung des Klägers ist damit in vollem Umfang begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. März 2016 war aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.


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