Europarecht

Keine Unterbrechung einer Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren durch eine gerichtliche Eilentscheidung

Aktenzeichen  AN 18 K 20/50110

Datum:
13.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40600
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 2
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 2 S. 1, Abs. 4 UAbs. 1, Art. 27 Abs. 3 lit. c, Abs. 4, Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2 S. 1
VwGO § 80 Abs. 4, Abs. 5, Abs. 7, § 123

 

Leitsatz

1. Ein die Überstellungsfrist unterbrechender Rechtsbehelf iSd Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ist nur die zur Vermeidung der Bestandskraft der Überstellungsentscheidung gegen diese gerichtete Klage und gegebenenfalls ein in diesem Zusammenhang gestellter fristgebundener Eilantrag. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dies gilt insbesondere dann, wenn einem Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO bzw. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vom Gericht gerade mit der Begründung stattgegeben worden ist, dass die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen und damit die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei (wie BVerwG BeckRS 2021, 33433). (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2020 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die vorliegende Klage konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Das Gericht legt das Klagebegehren gemäß § 88 VwGO im Interesse einer möglichst effektiven Rechtsschutzgewährung (Art. 19 Abs. 4 GG) als vollumfängliche Anfechtung des Bescheids vom 25. Februar 2020 aus. Insbesondere versteht es die im Klageantrag verwendete Formulierung „hinsichtlich der Abschiebung nach Litauen“ nicht im Sinne einer nur beschränkten Klageerhebung gegen die in Ziffer 3 des Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung nach Litauen.
Die so verstandene, zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
I. Die gegen den Bescheid vom 25. Februar 2020 erhobene Anfechtungsklage ist zulässig.
Insbesondere ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO die statthafte Klageart, wenn es – wie hier – um das Begehren auf Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit Deutschlands für die Prüfung eines Asylantrags nach den unionsrechtlichen Regelungen der Dublin III-VO geht (BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – BVerwGE 153, 162 Rn. 13; U.v. 26.2.2019 – 1 C 30.17 – ZAR 2019, 344 Rn. 12; U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – NVwZ 2021, 251 Rn. 12).
Die Klage wurde zudem innerhalb der einwöchigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben.
II. Die Klage ist auch in der Sache begründet. Der Bescheid vom 25. Februar 2020 erweist sich zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der durch den Kläger gestellte Asylantrag erweist sich im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG im Hinblick auf eine Zuständigkeit Litauens nach den Bestimmungen der Dublin III-VO als unzulässig; vielmehr ist die Zuständigkeit für die inhaltliche Prüfung dieses Asylantrags inzwischen aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach Maßgabe von Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen (dazu unter 1.). Mit der Unzulässigkeitsentscheidung nach Ziffer 1 des Bescheids vom 25. Februar 2020 sind daher auch die daran anknüpfenden Folgeentscheidungen der Beklagten – die Feststellung des Nichtvorliegens von nationalen Abschiebungsverboten in Ziffer 2 des Bescheids, die Anordnung der Abschiebung nach Litauen in Ziffer 3 des Bescheids sowie die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG in Ziffer 4 des Bescheids – aufzuheben (dazu unter 2.).
1. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erweist sich zunächst die in Ziffer 1 des Bescheids vom 25. Februar 2020 auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO getroffene Unzulässigkeitsentscheidung als rechtswidrig und verletzt subjektive Rechtspositionen des Klägers.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies war vorliegend zwar im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 25. Februar 2020 der Fall; damals ergab sich aus Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO eine Zuständigkeit Litauens für die inhaltliche Prüfung des klägerischen Asylantrags. Die ursprüngliche Zuständigkeit Litauens ist inzwischen aber gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Denn die sechsmonatige Überstellungfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO ist vorliegend spätestens mit Ablauf des 20. Februar 2021 verstrichen und insbesondere nicht durch die zuvor am 18. Januar 2021 erlassene gerichtliche Eilentscheidung nach § 123 Abs. 1 VwGO unterbrochen worden. Auch kann sich der Kläger im Sinne einer subjektiven Rechtsposition auf den inzwischen eingetretenen Zuständigkeitsübergang berufen.
a) Wie in den Gründen des Bescheids vom 25. Februar 2020 dargestellt, ergab sich für die Prüfung des klägerischen Asylantrags zwar zunächst eine Zuständigkeit Litauens aus Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO.
Gemäß Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 Dublin III-VO sind die in Art. 12 Abs. 1 bis 3 Dublin III-VO enthaltenen Regelungen auch auf solche Personen anzuwenden, die sich im Besitz eines weniger als sechs Monate abgelaufenen Visums befinden, aufgrund dessen sie in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnten, und seither das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen haben. Aus Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO wiederum folgt für die Prüfung von Asylanträgen von Personen, die im Besitz eines gültigen Visums sind, eine Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats, der dieses Visum erteilt hat.
Vorliegend ergab die seitens der Beklagten eingeholte VIS-Auskunft, dass dem Kläger am 5. September 2019 ein litauisches Kurzaufenthaltsvisum für den Schengen-Raum mit einer Gültigkeitsdauer vom 15. September bis zum 14. Dezember 2019 erteilt worden war. Zu dem nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO, wofür nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris Rn. 75 ff.) die – hier am 18. Dezember 2019 erfolgte – erstmalige schriftliche Kenntniserlangung der Beklagten von dem Asylgesuch maßgeblich ist, befand sich der Kläger mithin im Besitz eines seit weniger als sechs Monaten abgelaufenen Visums für Litauen.
b) Die ursprüngliche Zuständigkeit Litauens ist inzwischen aber gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergangen, weil der Kläger nicht innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO dorthin überstellt wurde.
Gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung des Asylantragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat (hier Deutschland) in den zuständigen Mitgliedstaat (hier Litauen) gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nicht mehr zur Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über.
In Anwendung dieser Bestimmungen war die sechsmonatige Überstellungsfrist in der vorliegenden Fallkonstellation zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits verstrichen.
aa) Im Ausgangspunkt war vorliegend für den Beginn der sechsmonatigen Überstellungsfrist die am 24. Februar 2020 erfolgte Annahme des den Kläger betreffenden Aufnahmegesuchs durch die litauischen Behörden maßgeblich, womit diese dem Grunde am 25. Februar 2020 zu laufen anfing und mit Ablauf des 24. August 2020 endete.
Der Kläger hat gegen die Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheids vom 25. Februar 2020) keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO eingelegt (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO). Insbesondere hat er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG keinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die Abschiebungsanordnung erhobenen Klage gestellt hat, was gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG wiederum zu einer Unzulässigkeit der Abschiebung nach Litauen vor der gerichtlichen Entscheidung hierüber geführt hätte.
Für den Beginn der sechsmonatigen Überstellungsfrist war damit gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO grundsätzlich die Annahme des von der Beklagten am 24. Januar 2020 gestellten, den Kläger betreffenden Aufnahmegesuchs durch die litauischen Behörden maßgeblich. Vorliegend haben diese das betreffende Aufnahmegesuch mit – wohl versehentlich – auf den 24. April 2020 datiertem Schreiben angenommen, welches der Beklagten tatsächlich bereits am 24. Februar 2020 zugegangen war.
Für die Berechnung der sechsmonatigen Überstellungsfrist gilt dabei Folgendes: Nach Art. 42 Buchst. a Dublin III-VO wird bei der Berechnung einer – wie vorliegend – nach Monaten bemessenen Frist, für deren Anfang der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem ein Ereignis eintritt oder eine Handlung vorgenommen wird, der Tag, auf den das Ereignis oder die Handlung fällt, nicht mitgerechnet. Eine nach Monaten bemessene Frist endet gemäß Art. 42 Buchst. b Satz 1 Dublin III-VO mit Ablauf des Tages, der im letzten Monat dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag trägt, an dem das Ereignis eigetreten oder die Handlung vorgenommen worden ist, von denen an die Frist zu berechnen ist. Im Ausganspunkt begann die sechsmonatige Überstellungfrist damit am Dienstag, den 25. Februar 2020, 0:00 Uhr, also dem Tag nach der für den Fristanfang maßgeblichen Annahme des Aufnahmegesuchs durch die litauischen Behörden, zu laufen und endete am Montag, den 24. August 2020, 24:00 Uhr.
bb) Dahinstehen kann, ob der Lauf dieser Frist durch die seitens der Beklagten auf der Grundlage von § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie unterbrochen werden konnte. Auch in diesem Fall wäre die sechsmonatige Frist für eine Überstellung des Klägers nach Litauen spätestens mit Ablauf des 20. Februar 2021 verstrichen.
Zwar hatte das erkennende Gericht mit Beschluss vom 18. Januar 2021, betreffend das zwischen den Beteiligten geführte einstweilige Rechtsschutzverfahren AN 18 E 21.50008, entschieden, dass diese Vollziehungsaussetzung mit Blick auf den Wortlaut, die Systematik sowie den Sinn und Zweck des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist könne, und sich insoweit der mehrheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen (siehe z.B. OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 5 ff.; NdsOVG, B.v. 27.10.2020 – 10 LA 217/20 – juris Rn. 15 ff.; BayVGH, B.v. 24.11.2020 – 9 ZB 20.50022 – juris Rn. 7 ff., OVG NRW, U.v. 27.11.2020 – 11 A 2239/20.A – juris Rn. 34 ff.). Inzwischen aber hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 26. Januar 2021 (1 C 52.20 – juris) verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der behördlichen Praxis des Bundesamts, die Vollziehung der Überstellungsentscheidung während eines gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens wegen der durch die Corona-Pandemie bedingten tatsächlichen Unmöglichkeit von Überstellungen widerruflich auszusetzen, im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AUEV an den Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Sollte der Europäische Gerichtshof diese behördliche Vorgehensweise als vom Anwendungsbereich des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erfasst ansehen und des Weiteren die Ansicht vertreten, dass eine derartige Aussetzungsentscheidung die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO unterbricht, käme hierdurch auch im vorliegenden Fall eine Unterbrechung der sechsmonatigen Überstellungsfrist in Betracht. So hat die Beklagte mit Schreiben vom 1. April 2020 gegenüber dem Kläger erklärt, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO – unter dem Vorbehalt des Widerrufs – auszusetzen, weil Dublin-Überstellungen im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit nicht zu vertreten seien.
Darauf kommt es hier aber nicht entscheidend an. Denn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wäre die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO auch dann bereits abgelaufen, wenn diese infolge der seitens der Beklagten erklärten Vollziehungsaussetzung unterbrochen worden wäre. Als fristauslösendes Ereignis für den Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist wäre in diesem Fall die auf den 20. August 2020 datierte Erklärung des Widerrufs der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung durch die Beklagte anzusehen. Die Überstellungsfrist hätte in diesem Fall gemäß Art. 42 Buchst. a Dublin III-VO am Freitag, den 21. August 2020, 0:00 Uhr, zu laufen begonnen und gemäß Art. 42 Buchst. b und c Dublin III-VO am Samstag, den 20. Februar 2021, 24:00 Uhr, geendet.
cc) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Überstellungsfrist auch nicht durch die zuvor mit Gerichtsbeschluss vom 18. Januar 2021 (AN 18 E 21.50008) erlassene einstweilige Anordnung – gegebenenfalls erneut – unterbrochen worden.
Wie bereits dargelegt, endet die Überstellungsfrist im Fall des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO sechs Monate nach der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO wiederum gibt den Mitgliedstaaten in den Buchstaben a bis c verschiedene Möglichkeiten zur Ausgestaltung des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung an die Hand. Die Bundesrepublik Deutschland hat dabei von der Variante des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO Gebrauch gemacht (BVerwG, B.v. 27.4.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 20). Danach räumen die Mitgliedstaaten dem Schutzsuchenden die Möglichkeit ein, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen, und sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Bundesgesetzgeber in § 34a Abs. 2 AsylG umgesetzt. Nach dessen Satz 1 kann der Asylsuchende einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach deren Bekanntgabe stellen. In diesem Fall ist die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG unmittelbar kraft Gesetzes nicht zulässig.
Allerdings unterbricht nach diesem Regelungsgefüge nicht jede während eines gerichtlichen Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung oder sogar erst nach dessen Abschluss ergehende gerichtliche Eilentscheidung den Lauf der Überstellungsfrist. Aus dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und dem auf eine schnelle Klärung der Zuständigkeitsfrage gerichteten Sinn und Zweck sowohl der Dublin III-VO insgesamt als auch des Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO im Besonderen ergibt sich vielmehr, dass ein – die Überstellungsfrist unterbrechender – Rechtsbehelf im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO nur die zur Vermeidung der Bestandskraft der Überstellungsentscheidung gegen diese gerichtete Klage und gegebenenfalls ein in diesem Zusammenhang gestellter, fristgebundener Eilantrag ist. Dies gilt insbesondere, wenn einem Antrag auf Abänderung nach § 80 Abs. 7 VwGO bzw. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vom Gericht gerade mit der Begründung stattgegeben worden ist, dass die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen und damit die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei (BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 34).
So ist auch die hier zu entscheidende Fallkonstellation gelagert. Der Kläger hat gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids vom 25. Februar 2020 gerade keinen nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgebundenen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem Ziel der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage – also keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO – eingelegt. Vielmehr hat er erstmals am 14. Januar 2021 um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nachgesucht. Der diesem Antrag stattgebende Beschluss vom 18. Januar 2021 (AN 18 E 21.50008) stellt indes keine – die Überstellungsfrist unterbrechende – endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im vorstehend genannten Sinne dar. So hat das Gericht im Tenor dieses Beschlusses – anders als von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO gefordert – nicht etwa Aussetzung der Überstellungsentscheidung, d.h. die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids vom 25. Februar 2020, angeordnet, sondern der Beklagten vielmehr im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, eine Überstellung des Klägers nach Litauen auf der Grundlage der betreffenden Abschiebungsanordnung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu unterlassen und die zuständige Ausländerbehörde entsprechend anzuweisen. Dieser Ausspruch hat sowohl hinsichtlich des Wortlauts als auch des Regelungsgehalts eine andere Bedeutung als die Formulierung in Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO. Hieran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass aus Sicht der Beklagten die Wirkungen des Beschlusses nach § 123 VwGO und die eines solchen nach § 80 Abs. 5 VwGO faktisch identisch sind (vgl. VG Ansbach, U.v. 21.9.2021 – AN 14 K 20.50353 – juris Rn. 36 f.).
c) Der Kläger kann sich schließlich auf den Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist berufen. Der Schutzsuchende hat einen subjektiv-öffentlichen Anspruch darauf, dass die objektive Zuständigkeitsordnung eingehalten und ein durch das Fristenregime des Art. 29 Abs. 2 Dublin III- VO bewirkter Zuständigkeitsübergang beachtet wird (BVerwG, B.v. 2.12.2019 – 1 B 75.19 – juris Rn. 10; U.v. 26.1.2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 28; U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 35).
2. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheids vom 25. Februar 2020 nach dem oben Ausgeführten als rechtswidrig erweist, sind auch die daran anknüpfenden Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Litauen in Ziffer 2 des Bescheids und die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids aufzuheben (BVerwG, U.v. 25.5.2021 – 1 C 2.20 – juris Rn. 22; U.v. 17.8.2021 – 1 C 26.20 – juris Rn. 37). Nichts anderes gilt für die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG und dessen Befristung in Ziffer 4 des Bescheids, welches in untrennbarem Zusammenhang mit der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG steht.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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