Europarecht

Keine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist wegen Nichtbefolgung einer Selbstgestellungsaufforderung oder eines erfolglosen Überstellungsversuchs

Aktenzeichen  1 C 26/20

Datum:
17.8.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:170821U1C26.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung – gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs – hat.
2. Bloße Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.) oder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft reichen nicht für die Annahme, ein Antragsteller sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO.
3. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist flüchtig war, hat das Gericht alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 20. Februar 2020, Az: OVG 3 B 22.19, Urteilvorgehend VG Berlin, 27. Februar 2019, Az: 31 K 646.17 A, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein guineischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützte Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig.
2
Der Kläger reiste nach eigenen Angaben im Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte am 2. November 2017 einen Asylantrag. Ausweislich einer Eurodac-Treffermeldung hatte er zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt.
3
Nachdem die italienischen Behörden auf ein Aufnahmeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. November 2017 nicht geantwortet hatten, lehnte dieses mit Bescheid vom 20. November 2017 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG (a.F.) auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
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Dagegen erhob der Kläger am 29. November 2017 Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. Dezember 2017 ablehnte. Das Bundesamt informierte die italienischen Behörden über die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung sowie über dessen Wegfall unter Angabe des Endes der Überstellungsfrist am 18. Juni 2018.
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Zwecks Durchführung einer Abschiebung nach Italien wurde der Kläger am 11. Mai 2018 von seinem Zimmer im Wohnheim abgeholt und zum Flughafen Tegel verbracht. Kurz vor Ende des Boarding äußerte der Kläger, dass er nicht nach Italien abgeschoben werden wolle. Daraufhin wurde die Abschiebung aus Sicherheitsgründen abgebrochen.
6
Mit Schreiben vom 14. Mai 2018 forderte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten des Landes Berlin (Ausländerbehörde) den Kläger unter Berufung auf § 58 AufenthG auf, sich am 1. Juni 2018 um 8:30 Uhr zur Durchführung der Abschiebung beim Polizeipräsidenten in Berlin einzufinden. Der Kläger erschien nicht zu dem genannten Termin. Anlässlich der Ausstellung einer Grenzübertrittsbescheinigung durch die Ausländerbehörde am 4. Juni 2018 legte er eine Bescheinigung für einen Zahnarzttermin am 1. Juni 2018 vor, aufgrund dessen er der Selbstgestellungsaufforderung nicht habe Folge leisten können. Ebenfalls am 4. Juni 2018 teilte das Bundesamt der italienischen Behörde die Stornierung des Transfers und die Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate wegen Flüchtigseins mit Fristende am 18. Juni 2019 mit.
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Am 25. Juli 2018 beantragte der Kläger gegenüber dem Bundesamt die Übernahme seines Asylantrags in das nationale Verfahren und machte den Ablauf der Überstellungsfrist geltend. Seinem Antrag auf Abänderung des ablehnenden Eilbeschlusses vom 18. Dezember 2017 und Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wegen Ablaufs der Überstellungsfrist und des Antrages auf Wiederaufgreifen seines Asylverfahrens gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. Oktober 2018 statt.
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Mit Urteil vom 27. Februar 2019 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamtes vom 20. November 2017 auf.
9
Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 20. Februar 2020 zurückgewiesen. Die Frist zur Überstellung des Klägers nach Italien sei im Juni 2018 abgelaufen und die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden. Sie habe die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängern können. Ein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sei zu verneinen, wenn die Überstellung wegen fehlender Mitwirkung oder mangelnder Kooperation des Asylbewerbers bei fortbestehendem behördlichen Zugriff lediglich dahingehend erschwert werde, dass die Behörde zusätzlichen Vollstreckungsaufwand, etwa durch die Bereitstellung einer Begleitperson bei der Überstellung, betreiben müsse. Das Nichterscheinen zur Selbstgestellung führe nicht dazu, dass die Behörde keinen Zugriff (mehr) auf den Asylbewerber habe und aus diesem Grund seine Überstellung unmöglich sei. Auch wenn sich der Asylbewerber subjektiv der Überstellung entziehen wolle, so bleibe der behördliche Zugriff objektiv fortbestehen und er sei daher nicht flüchtig. Es sei nicht aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Klägers objektiv unmöglich gewesen, ihn mit Verwaltungszwang nach Italien zu überstellen. Auch bei dem abgebrochenen Überstellungsversuch am 11. Mai 2018 habe sich der Kläger mit seiner Erklärung zur Flugunwilligkeit nicht den zuständigen Behörden entzogen. Sein Aufenthaltsort sei bekannt gewesen und er habe mit Zwangsmitteln nach Italien überstellt werden können.
10
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. der Dublin III-VO und macht im Wesentlichen geltend, der Begriff des Flüchtigseins umfasse auch den Fall der Nichtbefolgung einer sogenannten Selbstgestellungsaufforderung. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber auch Konstellationen der vorliegenden Art vom Begriff des Flüchtigseins grundsätzlich mit habe umfassen bzw. jedenfalls nicht ausschließen wollen, lieferten die unterschiedlichen Sprachfassungen und die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin III-VO. Soweit die Regelungen auf eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates zielten, setze dies die unbeeinträchtigte Möglichkeit eines Vollzugs der Überstellung innerhalb der Regelfrist von 6 Monaten voraus, was impliziere, dass auch der Drittstaatsangehörige keine Verhaltensweisen zeige, die sich nachhaltig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkten. Es könne keinen Unterschied machen, ob er aufgefordert sei, sich zum Zweck der Überstellung an einem bestimmten Ort einzufinden, oder ihm auferlegt werde, an dem zugewiesenen Aufenthaltsort zu verbleiben. Hinsichtlich der erforderlichen Kausalität des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen reiche bereits die vorübergehende bzw. zeitlich befristete Unmöglichkeit der Überstellung aus. Erscheine der Betroffene nicht zur Selbstgestellung, sei der Behörde in diesem Zeitpunkt der Vollzug der Überstellung nicht nur erschwert, sondern tatsächlich unmöglich.
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Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
12
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht die Aufhebung der gegen den Kläger ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung bestätigt. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG liegen nicht vor, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist von Italien auf Deutschland übergegangen ist. Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil die Voraussetzungen für die Annahme, der Kläger sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, nicht vorlagen (1.). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht in eine andere (Unzulässigkeits-)Entscheidung umgedeutet werden (2.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen durch das Verwaltungsgericht bestätigt (3.).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 20. November 2017 gerichteten Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), sowie das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), beide zuletzt geändert durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters vom 9. Juli 2021 (BGBl. I S. 2467). Unionsrechtlich maßgeblich sind die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 S. 31) – Dublin III-VO – und die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. L 222 S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. L 39 S. 1) geänderten Fassung – Dublin-DVO -. Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht – entschiede es anstelle des Revisionsgerichts – sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuellen Fassungen zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die hier maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht geändert.
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1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht vorliegen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht (mehr) der Fall. Damit ist Deutschland für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden.
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1.1 Zwar war nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO zunächst Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig, weil der Kläger dort zuerst einen Asylantrag gestellt hat. Die Beklagte hat unter dem 3. November 2017 auch gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO fristgerecht ein durch Fristablauf angenommenes (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO) Wiederaufnahmegesuch für den Kläger an Italien gestellt.
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1.2 Die Zuständigkeit ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aber nachträglich auf Deutschland übergegangen. Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (Alt. 1) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (Alt. 2). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Satz 1). Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist (Satz 2). Verzögert sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder weil sich der Antragsteller der Überstellung entzogen hat, ist der zuständige Mitgliedstaat hierüber unverzüglich zu unterrichten (Art. 9 Abs. 1 Dublin-DVO). Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist bedarf es keiner Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat, sondern es genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat den zuständigen Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo – Rn. 72 und 75).
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a) Die sechsmonatige Überstellungsfrist wurde hier mit der nach erfolglosem Ablauf einer zweiwöchigen Reaktionsfrist nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO fingierten Zustimmung Italiens am 17. November 2017 in Gang gesetzt. Mit dem Eilantrag vom 29. November 2017 wurde sie gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO unterbrochen, begann mit der (ablehnenden) Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Beschluss vom 18. Dezember 2017 aber erneut zu laufen (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 [ECLI:DE:BVerwG:2016:260516U1C15.15.0] – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 83 Rn. 11 und vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 [ECLI:DE:BVerwG:2019:080119U1C16.18.0] – BVerwGE 164, 165 Rn. 17) und endete folglich am 18. Juni 2018.
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b) Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil der Kläger nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO “flüchtig” war (im Folgenden auch Flüchtigsein). Der vom Oberverwaltungsgericht für die Beurteilung eines Flüchtigseins in diesem Sinne zugrunde gelegte Maßstab steht im Einklang mit dem insoweit maßgeblichen Unionsrecht (aa). Weder war der Kläger infolge des Abbruchs des Überstellungsversuchs am 11. Mai 2018 (bb) noch wegen der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung vom 14. Mai 2018 (cc) flüchtig.
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aa) Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. Mit Blick auf die von der Dublin III-Verordnung verfolgten Ziele (schnelle Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und Gewährleistung eines effektiven Zugangs zum Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes) ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 53 ff.; s.a. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 [ECLI:DE:BVerwG:2021:260121U1C42.20.0] – NVwZ 2021, 875 Rn. 25) ist ein Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff “flüchtig” objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 60); das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 70). Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 56).
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Ein Flüchtigsein kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 70). Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 61 f.). Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO (“flüchtig ist”) folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 27).
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Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung – gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs – hat. Im Gegensatz zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) – Rückführungsrichtlinie – kennt das Dublin-Überstellungssystem das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Vielmehr erfolgt eine Dublin-Überstellung stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens. Auch bei einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Dublin-DVO handelt es sich um eine staatlich überwachte Ausreise, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:170915U1C26.14.0] – BVerwGE 153, 24 Rn. 17 f.). Hinsichtlich der drei Überstellungsmodalitäten geben die Dublin-Bestimmungen keine bestimmte Rangfolge vor. In welcher Variante die Überstellung erfolgt, obliegt der Regelungskompetenz des ersuchenden Mitgliedstaats (vgl. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO; s.a. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14 – BVerwGE 153, 24 Rn. 15). Damit im Einklang steht die nationale Umsetzung der Dublin-Bestimmungen durch ein Regel-Ausnahme-System zugunsten einer Überstellung mit Verwaltungszwang. Nach § 34a Abs. 1 AsylG kann vom Bundesamt nur die Abschiebung als Möglichkeit der Überstellung eines Ausländers in den für die Prüfung seines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat angeordnet werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist von der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde dadurch Rechnung zu tragen, dass die Überstellung zwar regelmäßig in Gestalt der Abschiebung vollzogen wird, im Ausnahmefall aber auch eine Überstellung ohne Verwaltungszwang möglich ist (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14 – BVerwGE 153, 24 Rn. 17 ff.). Sie ist dem Asylbewerber von der Vollzugsbehörde dann zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass er sich freiwillig in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der verantwortlichen Behörde meldet (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14 – BVerwGE 153, 24 Rn. 19 ff.).
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Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwede vorübergehende Verunmöglichung einer Überstellung. Insbesondere entzieht sich ein Ausländer jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives – wenn auch möglicherweise pflichtwidriges – Verhalten (objektiv) dem staatlichen Zugriff. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige kann selbst entscheiden, ob er an einer ihm angebotenen kontrollierten Überstellung mitwirkt oder nicht. Verweigert er seine Mitwirkung, bedarf es einer begleiteten Überstellung, die er passiv dulden muss. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation des Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und sein Verhalten möglicherweise zu einer Verzögerung führt, weil die Vollzugsbehörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen hat, stellt objektiv kein Sichentziehen dar. Der Aufenthalt des Betroffenen ist der Behörde bekannt, und eine Überstellung könnte unter Anwendung unmittelbaren Zwangs jederzeit durchgeführt werden. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Dass der Betroffene (subjektiv) regelmäßig in der Absicht handeln dürfte, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht. Eine Verlängerungsmöglichkeit allein wegen fehlender Mitwirkung des Betroffenen widerspräche nicht nur dem mit den Dublin-Bestimmungen und speziell mit Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO verfolgten Beschleunigungszweck (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 57 f.), sondern angesichts der erheblichen Folgen, die eine Verlängerung der Überstellungsfrist für den Betroffenen zeitigt, auch dem Ausnahmecharakter des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO (Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 – Rs. C-163/17 – Rn. 59). Folglich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers grundsätzlich weder dessen Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.), ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig. Letztere dient lediglich der Erleichterung einer – im nationalen Recht regelmäßig vorgeschriebenen – Überstellung mit Verwaltungszwang, in dem sie der Vollzugsbehörde eine zwangsweise Abholung des Ausländers in seiner Unterkunft oder Wohnung erspart. Kommt der Ausländer einer Aufforderung zur Selbstgestellung nicht nach, entzieht er sich damit (objektiv) nicht dem staatlichen Zugriff.
24
Ob in Ausnahmefällen trotz bekannter Anschrift, etwa bei Verhinderung fortgesetzter Überstellungsversuche oder einem Verhalten, das einer fortdauernden Flucht gleichsteht, ein gegebenenfalls in der Gesamtwürdigung (fortbestehendes) Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO angenommen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 27), bedarf auch im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Entscheidung. Die Anschrift des Klägers war dem Bundesamt und der Ausländerbehörde durchgehend bekannt, er hat regelmäßig und noch am Tag der Verlängerungsentscheidung des Bundesamtes zur Ausstellung von Grenzübertrittsbescheinigungen bei der Ausländerbehörde vorgesprochen und wurde bei dem einmaligen Überstellungsversuch in der Unterkunft angetroffen, so dass auch in der Gesamtschau keine Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall im oben genannten Sinne bestehen.
25
Der Begriff des Flüchtigseins im unionsrechtlichen Sinne ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt, und diese bietet nach obigen Ausführungen eine hinreichende Grundlage für die nationalen Gerichte zur Beantwortung der Frage, ob die Verletzung von Mitwirkungspflichten ein Flüchtigsein begründet, so dass es keiner Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV bedarf.
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bb) Der wegen Flugunwilligkeit des Klägers abgebrochene Überstellungsversuch am 11. Mai 2018 ist zwar bei der Prüfung des Flüchtigseins zu berücksichtigen ((1)), rechtfertigt aber in der Sache nicht die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig ((2)).
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(1) Auch wenn die Beklagte den Überstellungsversuch nicht zum Anlass für eine Verlängerungsmitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat genommen hat, hat das Berufungsgericht die vom Kläger geäußerte Flugunwilligkeit zu Recht in die Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung einbezogen.
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Als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegt der (unionsrechtliche) Begriff des Flüchtigseins der vollen gerichtlichen Kontrolle. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist flüchtig war, hat das Gericht deshalb alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat.
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Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO sieht für die Verlängerung keine gesonderte, gegenüber dem Schutzsuchenden zu treffende Entscheidung vor. Die Verlängerungsentscheidung ist (innerstaatlich) eine – tatbestandlich gebundene – Verfahrensentscheidung, die (außerstaatlich) dem zuständigen, ersuchten Staat mitzuteilen ist, um einen Zuständigkeitsübergang durch Ablauf der Überstellungsfrist zunächst zu vermeiden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO dahin auszulegen, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 72 und 75). Eine besondere Rechtsform der vorgelagerten innerstaatlichen Verfahrensentscheidung, den zuständigen Mitgliedstaat zu unterrichten, wird weder erwähnt noch vorausgesetzt; auch eine Mitteilung an den Schutzsuchenden ist nicht vorgesehen. Sie wäre – jedenfalls als Wirksamkeitsvoraussetzung der Mitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat – überdies geeignet, in der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 der Dublin III-VO genannten Situation diese Bestimmung schwer anwendbar zu machen und ihr einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit zu nehmen, weil sie eine Bekanntgabe an eine Person voraussetzte, die als flüchtig anzusehen ist. Der Umstand, dass das Bundesamt im Rahmen seines weiten Verfahrensermessens darüber zu befinden hat, ob die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat ergeht und ob es für die neue Überstellungsfrist die unionsrechtlich eröffnete Höchstfrist von 18 Monaten ausschöpft, macht diese Entscheidung nicht zu einer Ermessensentscheidung im Sinne des § 40 VwVfG, die nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG zu begründen wäre. Liegen (objektiv) die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat im Zeitpunkt ihres Ergehens vor, ist eine Verlängerung auf bis zu 18 Monate unionsrechtlich vorgesehen und willkürfrei möglich (BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2019 – 1 B 75.19 [ECLI:DE:BVerwG:2019:021219B1B75.19.0] – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 107).
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(2) Ein wegen Flugunwilligkeit abgebrochener Überstellungsversuch begründet regelmäßig – und so auch hier – aber kein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, weil der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der (zwangsweisen) Durchführung der Überstellung gehindert ist. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige ist insbesondere nicht zum freiwilligen Betreten eines Beförderungsmittels und zum dortigen Verbleib verpflichtet. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Die möglicherweise vorhandene subjektive Absicht, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht.
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Dies gilt jedenfalls, wenn der Betroffene sich – wie hier – lediglich verbal weigert. Mit einer derartigen Reaktion muss die Vollzugsbehörde bei einer staatlich überwachten Überstellung rechnen und entsprechende Vorsorge treffen. Ob in Ausnahmefällen, etwa wenn der Asylbewerber durch Anwendung oder Androhung von Gewalt die Flugsicherheit in einer Art und Weise gefährdet, dass der Pilot eine Beförderung selbst im Falle einer begleiteten Überstellung ablehnt, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil es dafür sowohl an tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts als auch im Übrigen an entsprechenden Anhaltspunkten fehlt.
32
cc) Im Einklang mit Bundesrecht geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Kläger auch nicht deshalb flüchtig im unionsrechtlichen Sinne ist, weil er der Selbstgestellungsaufforderung vom 14. Mai 2018 nicht Folge geleistet hat.
33
Dabei kann offenbleiben, ob die vorliegend ergangene Selbstgestellungsaufforderung Verwaltungsaktqualität hat und auf welcher Ermächtigungsgrundlage sie beruht. Denn ein Ausländer entzieht sich auch mit der Verweigerung einer aktiven Mitwirkung in Form der Selbstgestellung – unabhängig von der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens – objektiv nicht dem staatlichen Zugriff. Seine (zwangsweise) Überstellung ist weiterhin tatsächlich und rechtlich möglich. Dies gilt unabhängig davon, ob der Ausländer mit der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung gegen eine Mitwirkungspflicht zur Förderung seiner Überstellung verstößt oder nicht. Er ist weiterhin bekannten Aufenthalts und offenbart mit seinem Nichterscheinen allenfalls seine Kooperationsunwilligkeit, die bei der (weiteren) Organisation der Überstellung zu berücksichtigen ist. Dagegen ist das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung durch den Ausländer (objektiv) nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs kausal für seine (zumindest vorübergehende) Nichtüberstellbarkeit, weil er auch ohne Selbstgestellung zwangsweise überstellt werden kann. Damit ist er nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
34
c) Ist die Überstellungsfrist mangels wirksamer Verlängerung bereits am 18. Juni 2018 abgelaufen, konnte sie schon deshalb durch den Abänderungsantrag des Klägers vom 10. Oktober 2018, den Zwischenbeschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2018 und den stattgebenden Beschluss vom 16. Oktober 2018 nicht (erneut) unterbrochen werden. Im Übrigen unterbricht nicht jede während eines gerichtlichen Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung oder sogar erst nach dessen Abschluss ergehende gerichtliche Eilentscheidung den Lauf der Überstellungsfrist (erneut). Aus dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und dem auf eine schnelle Klärung der Zuständigkeitsfrage gerichteten Sinn und Zweck sowohl der Dublin III-Verordnung insgesamt als auch des Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO im Besonderen ergibt sich vielmehr, dass ein – die Überstellungsfrist unterbrechender – Rechtsbehelf im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO nur die zur Vermeidung der Bestandskraft der Überstellungsentscheidung gegen diese gerichtete Klage und gegebenenfalls ein in diesem Zusammenhang gestellter, fristgebundener Eilantrag ist. Dies gilt insbesondere, wenn einem Antrag auf Abänderung nach § 80 Abs. 7 VwGO bzw. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vom Gericht gerade mit der Begründung stattgegeben worden ist, dass die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen und damit die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei.
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d) Der Kläger kann sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen. Der Betroffene hat einen subjektiv-öffentlichen Anspruch darauf, dass die objektive Dublin-Zuständigkeitsordnung eingehalten und ein durch das Fristenregime des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO bewirkter Zuständigkeitsübergang beachtet wird. Insbesondere ist Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen, dass im Rahmen eines gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Verfahrens die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17, Jawo – Rn. 70 und BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 – 1 C 42.20 – NVwZ 2021, 875 Rn. 28).
36
2. Eine Umdeutung der auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 – 1 C 35.19 [ECLI:DE:BVerwG:2020:170620U1C35.19.0] – InfAuslR 2020, 402 Rn. 13 ff. unter Verweis auf die Urteile vom 15. Januar 2019 – 1 C 15.18 [ECLI:DE:BVerwG:2019:150119U1C15.18.0] – BVerwGE 164, 179 Rn. 40 und vom 21. April 2020 – 1 C 4.19 [ECLI:DE:BVerwG:2020:210420U1C4.19.0] – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 111 Rn. 25 ff.) kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Voraussetzungen eines anderen Unzulässigkeitstatbestandes nicht vorliegen. Insbesondere ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ein anderer Staat aufgrund anderer unionsrechtlicher Vorschriften oder völkerrechtlicher Verträge für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AsylG) oder im Hinblick auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dem Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat, etwa Italien, internationaler Schutz gewährt worden wäre.
37
3. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung nach dem oben Ausgeführten als rechtswidrig erweist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch die Aufhebung der daran anknüpfenden Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Italien und die Abschiebungsandrohung bestätigt. Die Aufhebung der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (a.F.) rechtfertigt sich jedenfalls zur Beseitigung des möglichen Rechtsscheins eines Einreiseverbots (BVerwG, Urteile vom 25. Mai 2021 – 1 C 2.20 [ECLI:DE:BVerwG:2021:250521U1C2.20.0] – und – 1 C 39.20 [ECLI:DE:BVerwG:2021:250521U1C39.20.0] – juris, jeweils Rn. 22).
38
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.


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