Europarecht

Konzept der normativen Vergewisserung

Aktenzeichen  AN 11 K 16.50012

Datum:
7.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a Abs. 1 S. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34, § 34a
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 1 S. 2, S. 3
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Systemische Mängel, die das Konzept der normativen Vergewisserung durchbrechen, liegen derzeit hinsichtlich Bulgarien nicht vor; es bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien grundlegende, systembedingte Mängel aufweisen, die gleichsam zwangsläufig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung eines nach Bulgarien überstellten Asylbewerbers befürchten lassen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2015 wird in Ziffer 2 aufgehoben, in Ziffer 1 und 3 wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Jeder Beteiligte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der seitens des Gerichts festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilig andere Beteiligte vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. Dabei ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Soweit die Kläger in der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen haben, ist das Verfahren einzustellen.
1. Das Bundesamt hat die Asylanträge der Kläger in Ziffer 1 der streitgegenständlichen Bescheide zu Recht als unzulässig abgelehnt, da die Kläger bereits in Bulgarien internationalen Schutz erhalten haben. Bulgarien ist ein sicherer Drittstaat nach § 26 a Abs. 1 Satz 1 AsylG, Art. 16 Abs. 2 GG. Reisen Asylantragsteller wie die Kläger aus einem sicheren Drittstaat ein, so ist es bei der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz, wie ihn die Kläger erhalten haben, grundsätzlich möglich, die Durchführung eines erneuten Asylverfahrens wegen der Gewährung des Flüchtlingsschutzes in einem anderen Mitgliedstaat abzulehnen. Dabei konnte sich das Bundesamt auf § 60 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 und 4 AsylG bzw. nach gegenwärtiger Rechtslage, die gem. § 77 Abs. 1 Satz AsylG zugrunde zu legen ist, auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützen, da diese Norm – im vorliegenden Fall der bereits bestehenden Flüchtlingsanerkennung – Art. 25 Abs. 2 a) der Richtlinie 2005/85/EG entspricht. Nach Art. 25 Abs. 2a) der Richtlinie 2005/85/EG können die Mitgliedstaaten einen Asylantrag als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt. So liegt der Fall hier. Das Bundesamt ist zwar grundsätzlich nicht verpflichtet, bei der Einreise aus einem sicheren Drittstaat danach vorzugehen. Die amtliche Begründung spricht für eine Wahlmöglichkeit (BT-Drs. 12/4450, S. 23). Das Bundesamt hat regelmäßig ein Verfahrensermessen, ob es eine Prüfung von Flüchtlingsschutz, subsidiärem Schutz und Abschiebungsverboten durchführen will. Allein die Anforderungen für die Asylberechtigung sind nicht zu prüfen, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits der Schutzbereich des Art. 16 a GG nicht eröffnet ist. Vorliegend hat das Bundesamt erkennbar sein Verfahrensermessen dahingehend ausgeübt, dass es wegen der Einreise der Kläger aus einem sicheren Drittstaat eine inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge nicht vornehmen wolle. Deshalb lehnte es die Anträge auch als unzulässig ab. Dies ist nach den vorgenannten Bestimmungen rechtlich nicht zu beanstanden.
§ 34 a AsylG, der die Abschiebung ohne materielle Prüfung des in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrags zulässt, beruht auf dem sogenannten Konzept der normativen Vergewisserung, vgl. Bundesverfassungsgerichts, Urteil vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1938.93, 2 BvE 2315.93. Grundlage und Rechtfertigung des gemeinsamen europäischen Asylsystems ist die Vermutung, dass das Asylverfahren und die Aufnahme der Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat in Einklang stehen mit den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Abweichungen von diesem Konzept sind nach der Rechtsprechung in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich und nötig. Das Konzept der normativen Vergewisserung wird vor allem dann durchbrochen, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Zielstaat der Abschiebung systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Asylbewerbers nach Art. 3 EMRK implizieren (EuGH Urteil vom 21.12.2011, Az. C-411/10 zu Art. 4 Grundrechtscharta). Es ist deshalb zu prüfen, ob bei der Behandlung von Asylbewerbern in Bulgarien die Mindeststandards im Allgemeinen eingehalten werden. Nicht jede Fehlleistung im Einzelfall lässt das Konzept der normativen Vergewisserung hinfällig werden. Erst wenn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im aufnahmebereiten Staat grundlegende, systembedingte Mängel aufweisen, die gleichsam zwangsläufig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der in diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber befürchten lassen, scheidet eine Abschiebung in diesen Mitgliedstaat aus.
Solch systemische Mängel, die das Konzept der normativen Vergewisserung durchbrechen, liegen in Bulgarien nach Auffassung der Kammer nicht vor. Insofern verweist das Gericht auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH vom 29.1.2015
– 13a B 14.50039 – Rn. 29 ff.), dessen Meinung es vollständig teilt. Diese Einschätzung wird durch die seit Januar 2015 bekannt gewordenen Auskünfte nicht infrage gestellt. Seit der genannten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist insbesondere der Bericht von Pro Asyl e.V. vom April 2015 „Erniedrigt, misshandelt, schutzlos: Flüchtlinge in Bulgarien“ bekannt geworden. Dieser Bericht vermag die oben dargestellte Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bereits aus dem Grunde nicht zu widerlegen, da er sich vor allem auf bereits bekannte Einzelfälle aus den Jahren 2013 und 2014 stützt und diese lediglich neu bewertet. Auch die von den Klägern geschilderten Vorfälle, dass die Halle, in der sie untergebracht waren, regelmäßig von Rechtsextremisten gestürmt worden sei und die Polizei nichts dagegen unternommen hätte sowie die Klägerin zu 2) von der Polizei sexuell belästigt worden sei, führen nicht zu einer anderen Beurteilung. Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich hierbei um über den Einzelfall hinausgehende systemische Mängel handelt, die die Aufnahmebedingungen in Bulgarien so defizitär erscheinen lassen, dass anzunehmen ist, dass den Klägern bei ihrer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine derartige Behandlung droht. Gleiches gilt für die vorgetragene Stellungnahme des UNHCR. Diese beruft sich gerade nicht auf systemische Mängel, sondern fordert eine Prüfung des Einzelfalls bevor eine Abschiebung stattfindet und ist damit allenfalls von Bedeutung für die Frage, ob Abschiebungshindernisse im Einzelfall bestehen.
2. Begründet ist die Klage jedoch, soweit sie auf die Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 28. Dezember 2015 gerichtet ist. Die Beklagte hat sich als Rechtsgrundlage auf § 34 a AsylG bezogen. Dieser bestimmt in Satz 4 (n. F.), dass eine Abschiebungsandrohung ergehen kann, wenn eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen kann. Diese Voraussetzungen hat das Bundesamt vorliegend nicht geprüft. Er hat die Anwendung von § 34 a AsylG ausschließlich damit begründet, dass dies ein „milderes Mittel“ gegenüber der Abschiebungsanordnung darstelle. Dies genügt für das Zurückgreifen auf die Abschiebungsandrohung anstatt der primär auszusprechen Abschiebungsanordnung nicht. Vielmehr hätte das Bundesamt positiv prüfen müssen, ob eine Abschiebungsanordnung möglich ist und erst bei Ausschluss einer solchen die Abschiebungsandrohung aussprechen dürfen. Auch eine andere Rechtsgrundlage für Ziffer 2 des Bescheids ist weder beklagtenseits dargetan noch sonst wie ersichtlich. Insbesondere kann § 34 AsylG hierfür nicht herangezogen werden, da dieser eine Sachprüfung des Asylantrags erfordert, die hier gerade unterblieben ist. Insofern kommt es vorliegend nicht darauf ab, ob die von den Klägern vorgetragenen Krankheiten Abschiebungshindernisse darstellen.
3. Ermessensfehler bezüglich der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG sind nicht ersichtlich.
4. Über den ursprünglich gestellten Verpflichtungsantrag war nicht mehr zu entscheiden, da die Kläger diesen zurückgenommen haben.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG bezüglich des streitig zu entscheidenden Antrags, bezüglich der Klagerücknahme aus § 155 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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