Europarecht

Polnischer Staatsangehöriger, Freizügigkeit, Verlustfeststellung, Strafrechtliche Verurteilungen u.a. schwerer Diebstahl, Verlobung, Untertauchen, Alkohol- und Drogenkonsum, Sofortiger Vollzug

Aktenzeichen  M 25 S 21.2257

Datum:
15.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26070
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 7
EMRK Art. 6 GG Art. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
Der Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er meldete sich zum 15. Juni 2007 in der Bundesrepublik Deutschland an und hatte ein eigenes Gewerbe im Bereich Fliesen- und Bodenlegen vom 27. Juni 2007 bis 1. März 2011. Der Gewerbeabmeldung lag ein Insolvenzverfahren zugrunde. Ab 1. Februar 2011 erhielt der Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Sozialversicherungspflichtig beschäftigt war der Antragsteller im Juni und Juli 2011, von März bis Oktober 2013 sowie von Juni bis September 2015.
Strafrechtlich wurde der Antragsteller bisher wie folgt belangt:
– Urteil AG L. vom 28. Oktober 2011 zu 90 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis;
– Urteil AG M. vom 19. August 2015 zu 50 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis;
– Urteil AG M. vom 6. November 2015 zu 60 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln; mit Urteil vom 26. Januar 2016 zu einer nachträglichen Gesamtstrafe von 90 Tagessätzen;
– Urteil AG F. vom 22. Februar 2016 zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln;
– Urteil AG E. vom 19. Juli 2016 zu 50 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis; mit Urteil des AG Freising vom 11. November 2016 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung;
– Urteil AG A. vom 2. August 2018 zu sechs Monaten Freiheitsstrafe wegen Diebstahls;
– Urteil AG E. vom 9. Dezember 2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Diebstahls in 22 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei tatmehrheitlichen Fällen; da in dem Verfahren ein erheblicher Betäubungsmittelkonsum sowie eine Polytoxikomanie festgestellt wurde, wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
Der letzten Verurteilung lag zugrunde, dass der Antragsteller in sieben Fällen in teilweise versperrte Fahrzeug eindrang und verschiedene Gegenstände entwendete. In weiteren 15 Fällen entwendete der Antragsteller abgesperrte Fahrräder. Durch seine Taten entstand ein Sachschaden von ca. 950 EUR und Gegenstände im Wert von ca. 11.751 EUR wurden entwendet.
Der Antragsteller befand sich vom 10. April bis 9. Oktober 2018 und vom 6. August 2020 bis 12. Januar 2021 in Untersuchungs-/Strafhaft. Von Januar bis April 2021 war ist die Vollstreckung der Unterbringung aufgrund einer anstehenden Operation vorübergehend außer Vollzug gesetzt. Aktuell hält der Antragsteller sich bei seiner Verlobten auf.
Nach Anhörung des Antragstellers stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 23. März 2021 fest, dass der Antragsteller sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren habe (Ziffer 1), ordnete den Sofortvollzug an (Ziffer 2), befristete das Wiedereinreiseverbot auf 7 Jahre, bzw. im Falle des Nachweises der Straf- und Drogenfreiheit und einer erfolgreich abgeschlossenen Therapie hinsichtlich seiner Betäubungsmittelabhänigkeit auf 6 Jahre (Ziffer 3), ordnete die Abschiebung aus der Strafhaft bzw. der Unterbringung nach Polen oder einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist, an (Ziffer 4), im Falle der Unmöglichkeit von Ziffer 4 wurde er zur Ausreise aufgefordert – unter Androhung der Abschiebung nach Polen oder einen anderen Staat – innerhalb von drei Tagen nach Entlassung aus der Haft/ Unterbringung, oder im Falle der Aussetzung der Vollziehung oder der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs, innerhalb von drei Tagen nach Eintritt der Bestandskraft (Ziffer 5).
Der Antragsgegner stützte den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizüG/EU auf § 6 Abs. 1, 2 FreizüG/EU, und stellte fest, dass, basierend auf seinem früheren Verhalten und seiner Straffälligkeit, die Anwesenheit des Antragstellers eine tatsächliche und hinreichend schwere gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragstellers sei die Verlustfeststellung angemessen und verhältnismäßig. Die sofortige Vollziehung der Verlustfeststellung sei notwendig, da der Antragsteller während des laufenden ausländerrechtlichem Verfahrens, nach Anhörung zur beabsichtigten Verlustfeststellung, untergetaucht sei und weitere Straftaten begangen habe. Da ein vergleichbares Verhalten wiederum zu erwarten sei, bestehe ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung und an einem Abschluss des Verfahrens während der Haft/Unterbringung des Antragstellers.
Mit Schreiben vom 23. April 2021 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 25 K 21.2256) und beantragte gleichzeitig, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2021 legt der Antragsgegner die Behördenakte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 25 K 21.2256 sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
I. Der Antrag ist zulässig.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, da auf Grund der Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Klage keine aufschiebende Wirkung hat.
2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
a) Die Anordnung des Sofortvollzugs in Ziffer 2 des Bescheides erfüllt in formaler Hinsicht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO. Erforderlich ist dabei, dass das öffentliche Interesse über jenes Interesse hinausgeht, das den angegriffenen Verwaltungsakts selbst rechtfertigt. Diese Anforderung ist umso bedeutsamer, je schwerwiegender die dem Bürger auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt. Dem Antragsgegner war der Ausnahmecharakter des Sofortvollzugs ersichtlich bewusst. Der Begründung lässt sich entnehmen, dass er aus Gründen des zu entscheidenden Einzelfalls eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hielt. Der Antragsgegner begründet die sofortige Vollziehung mit dem vorangegangenen Untertauchen des Antragstellers durch welches er sich einem bereits angestoßenen Verfahren zur Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt und damit der Beendigung seines Aufenthaltes in Deutschland entzogen hat. In dieser Zeit hat der Antragsteller weitere Straftaten begangen. Die Begründung vermag die Anordnung des Sofortvollzugs zu tragen.
b) Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Dabei trifft das Gericht im Rahmen einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine eigene, originäre Ermessensentscheidung unter Abwägung des von der Behörde geltend gemachten Interesses an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheides und des Interesses des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung einer Klage. Wesentliches Element dieser Entscheidung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, bleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die Klage aller Voraussicht nach als unbegründet. Da keine außergewöhnlichen schützenswerten Interessen des Antragstellers vorliegen, überwiegt das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung seines Bescheids.
(1) Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist § 6 FreizügG/EU. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) getroffen werden.
aa) Es kann offen bleiben, ob der Antragsteller zum Zeitpunkt des Erlasses der Verlustfeststellung freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 FreizügG/EU war, da eine möglicherweise fehlende Freizügigkeit einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegensteht.
bb) Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts beurteilt sich nicht nach § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU, da der volljährige Antragsteller kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat.
Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EG bzw. nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG setzt einen rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren im Bundesgebiet voraus. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass unter dem Begriff des „rechtmäßigen Aufenthalts“ in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38/EG, der durch § 4a FreizügG/EU in nationales Recht umgesetzt wurde, nur ein Aufenthalt zu verstehen ist, der im Einklang mit den in der RL 2004/38/EG vorgesehenen, insbesondere mit den in Art. 7 RL 2004/38/EG aufgeführten Voraussetzungen steht. Der Betroffene muss also während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt haben.
Gemessen an diesen Kriterien erfüllen die Aufenthaltszeiten des Antragstellers im Bundesgebiet nicht die Kriterien eines rechtmäßigen Aufenthalts i.S. von Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU (BayVGH, B. v. 18.3.15 – 10 C 14.2655 – juris, Rn. 24). Zwar hat der Antragsteller nach seiner Einreise ein eigenes Gewerbe angemeldet, allerdings musste er dies nach 3 Jahren und 8 Monaten wegen Insolvenz zum 1. März 2011 aufgeben. Bereits ab 1. Februar 2011 hat der Antragsteller Sozialhilfeleistungen erhalten. Sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat der Antragsteller nur im Juni und Juli 2011, von März bis Oktober 2013 sowie von Juni bis September 2015. Folglich bestand eine durchgängige Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 1, 1a und 2 FreizügG/EU von der Einreise (15. Juni 2007) bis Januar 2012 und damit keine fünf Jahre. Für eine darüberhinausgehende Freizügigkeitsberechtigung bzw. eine Freizügigkeitsberechtigung für eine Dauer von fünf Jahren zu einem anderen Zeitpunkt des Aufenthalts des Antragstellers sind keine Anhaltspunkte ersichtlich und eine solche Berechtigung wurde auch nicht vorgetragen bzw. nachgewiesen.
Auf Grund des Fehlens der Voraussetzungen von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, scheidet auch der verstärkte Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, der in dem abgestuften aufeinander aufbauenden dreistufigen System des § 28 RL 2004/38/EG eine noch weitergehende Integration des Unionsbürgers voraussetzt (vgl. BayVGH, U.v.21.12.2011 – 10 B 11.182 – juris), aus.
cc) Maßgeblicher Prüfungsmaßstab ist somit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) getroffen werden. Soweit – wie hier – die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt, genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um diese Maßnahme zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i.S. des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – C-30/77 – juris – Bouchereau; U.v. 4.10.2007 – C-349/96 – juris – Polat; U.v. 4.10.2012 – C 249/11 – Hristo Byankor; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegt vorliegend eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigende hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Antragsteller vor, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Gericht ist überzeugt, dass dieser auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit Straftaten im Bereich der Eigentumsdelikte und Betäubungsmitteldelikte begehen wird.
Der Antragsteller ist mehrfach und über einen langen Zeitraum hinweg in Deutschland v.a. bezüglich Eigentumsdelikten in Erscheinung getreten. Die daraus resultierenden Verurteilungen waren bisher nicht in der Lage den Antragsteller davon abzuhalten, weitere Straftaten zu begehen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die letzte Verurteilung des Antragstellers eine Vielzahl gleichgelagerter Straftaten innerhalb einer relativ kurzen Zeit betraf. Die kriminelle Energie des Antragstellers zeigt sich auch in seinem Untertauchen, während des verwaltungsrechtlichen Verfahrens, kurz nach Entlassung aus der Untersuchungshaft. Es ist zu erwarten, dass der Antragsteller nach seiner Unterbringung auch weiterhin Eigentumsdelikte zur Sicherung seines Lebensunterhalts begehen wird.
Den verübten Straftaten liegt außerdem eine Betäubungsmittelabhängigkeit zu Grunde. Die Eigentumsdelikte dienten dabei der Finanzierung der Sucht und der Sicherung seines Lebensunterhalts. Der Antragsteller hat bisher weder eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen noch sich in Freiheit bewährt, so dass die in der Drogensucht basierte Wiederholungsgefahr bisher nicht entfallen ist (BayVGH, B. v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris, Rn. 12, mit weiteren Nachweisen).
Das vom Antragsteller zu erwartende Verhalten stellt eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Grundinteresse der Gesellschaft besteht vorliegend in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des darin gewährleisteten Eigentumsschutzes (VG München, U.v. 23.10.2019 – M 25 K 18.56 – Rn. 37). Die hinreichend schwere Gefährdung ergibt sich insbesondere aus der Vielzahl der Taten. Diese Gefährdung besteht auch gegenwärtig fort. Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller künftig erneut Straftaten, insbesondere Diebstahlstaten begehen wird. Bisher hielt sich der Antragsteller nie über einen längeren Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland auf, ohne straffällig zu werden. Seit 2011 liegen sieben Verurteilungen vor. 2018 tauchte der Antragsteller unter und hat so versucht sich sowohl einem Strafverfahren als auch dem Verwaltungsverfahren zu entziehen. Die begangenen Straftaten der mittelschweren Kriminalität sind im Grundsatz dazu geeignet, eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizüG/EU zu rechtfertigen. Straftaten der mittelschweren Kriminalität sind solche, die in ihrer Höchststrafe mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und mehr sanktioniert werden. Aus dem Urteil des AG E. vom 9. Dezember 2020 ergibt sich, dass jeweils ein besonders schwerer Fall des Diebstahls vorliegt. Der Strafrahmen für einen besonders schweren Fall liegt bei Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren. Die Schwere der Verurteilung zeigt sich auch darin, dass derartige Verurteilungen erst nach 15 Jahren aus dem Bundeszentralregister getilgt werden, § 46 Absatz 1 Nr. 4 BZRG.
dd) Schließlich ist auch die von dem Antragsgegner nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner hat das ihm zustehende Ermessen in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Insoweit ist die gerichtliche Kontrolle nach § 114 VwGO dahingehend eingeschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Antragsgegner hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in seinem Ermessen liegt, und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt. Er hat auch hinreichend die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Belange abgewogen und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts, den Integrationsstand und die familiäre Situation bewertet. Eine Fehlgewichtung oder Ermessensfehler sind nicht zu erkennen.
Der Antragsgegner hat zu Recht angenommen, dass die volljährige Tochter – zu der der Antragsteller keinen Kontakt hat – der Verlustfeststellung nicht entgegensteht. Weiterhin ist der Antragsgegner richtigerweise von keiner vollständigen Integration des Antragstellers ausgegangen. Im Verhältnis zu der Aufenthaltsdauer spielt die Erwerbstätigkeit nur eine untergeordnete Rolle. Andererseits hat der Antragsteller über Jahre hinweg Sozialleistungen bezogen, Drogen konsumiert und Straftaten begangen. Schließlich macht auch die vorgebrachte – jedoch nicht belegte – Verlobung des Antragstellers die Verlustfeststellung nicht unverhältnismäßig. Durch die grundsätzliche Unterbringung des Antragstellers sind die Verlobten an eine örtliche Trennung gewohnt. Die Eheschließung kann auch aus dem Ausland vorbereitet werden und entweder in Polen oder im Rahmen einer Betretenserlaubnis in Deutschland durchgeführt werden. Die reine Verlobung, insbesondere ohne einen konkreten Heiratstermin, führt zu keiner familiären Lebensgemeinschaft oder Verbundenheit, die einen besonderen Schutz nach Art.6 GG oder Art. 8 EMRK erfordern würde. Weiterhin ist auch zu beachten, dass die Verlobung trotz der Straffälligkeit des Antragstellers und der laufenden Straf- und Verwaltungsverfahren stattgefunden hat und die Verlobten nicht auf ein gemeinsames Leben in Deutschland vertrauen konnten.
(2) Die Befristung der Wiedereinreisesperre auf sieben Jahre beruht auf § 7 Abs. 2 FreizügG/EU und begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Unter Berücksichtigung der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller ist angesichts der sehr beschränkten sozialen und wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet die Sperrfrist von sieben Jahren erforderlich und nicht unverhältnismäßig. Da eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU vorlag, ist gem. § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU auch eine Sperrfrist von über fünf Jahren möglich.
3) Die in den Ziffern 4 und 5 verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1, § 11 Abs. 14 FreizügG/EU. Die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 FreizügG/EU. Die Annahme dass ein dringender Fall vorliegt, ergibt sich zum einen bereits aus der rechtmäßigen Anordnung der sofortigen Vollziehung (s.o.) und zum anderen aus der Wiederholungsgefahr, dem vorangegangenen Untertauchen des Antragstellers sowie den eingeschränkten Bindungen und der vorliegenden Unterbringung des Antragstellers.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Der Streitwert ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 8.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs.


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