Europarecht

Rechtmäßige Abschiebungsanordnung in die Niederlande im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  M 19 S 19.50493

Datum:
17.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 46756
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ist davon auszugehen, dass die Niederlande über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach deutschem Recht werden nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich nicht vergleichbar behandelt wie verheiratete Paare. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung in die Niederlande im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der im Jahr 1987 geborene Antragsteller, ein jordanischer Staatsangehöriger, reiste am 29. November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Antragsteller stellte am 5. Februar 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seinen Anhörungen und Befragungen durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) und durch Bundesamt gab er an, dass er am 28. November 2019 sein Heimatland verlassen habe. Er sei in die Niederland geflogen und von dort aus direkt nach Deutschland gefahren. Sein Ziel sei Deutschland gewesen, weil sich dort auch seine Frau, die eine Aufenthaltserlaubnis habe, aufhalte; die Ehe sei religiös, aber auch formell geschlossen worden. Seine Ehefrau erwarte ein gemeinsames Kind; der errechnete Entbindungstermin sei der 17. September 2019.
Eine Eurodac-Recherche vom 2. Januar 2019 ergab keinen Treffer. Eine VIS-Abfrage weist ein Kurzaufenthaltsvisum für die Niederlande aus, das für den Zeitraum vom 20. November 2018 bis zum 4. Januar 2019 ausgestellt worden war.
Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 13. Februar 2019 ein Aufnahmeersuchen an die Niederlande. Die Niederlande verweigerten zunächst mit Schreiben vom 9. April 2019 die Zustimmung zur Übernahme des Antragstellers. Nach Remonstration durch die Antragsgegnerin erklärten die Niederlande ihr Einverständnis jedoch mit Schreiben vom 18. April 2019.
Mit Bescheid vom 26. April 2019, zugestellt am 4. Mai 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung in die Niederlande an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass die Niederlande aufgrund des erteilten Visums für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig seien (Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO).
Am 10. Mai 2019 erhob der Antragsteller durch seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.50492). Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
Zugleich beantragte er,
den Antragsgegnerin im Wege der einsteiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, einstweilen von der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers durch Abschiebung in die Niederlande abzusehen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Nummer 3 des Bescheids vom 30. April 2019 ist zwar zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
Der Antrag ist allerdings nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 26. April 2019, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, begegnet bei summarischer Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und die Niederlande der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers sind. Der Asylantrag war daher als unzulässig abzulehnen. Da auch die Abschiebung weder tatsächlich unmöglich noch rechtlich unzulässig ist, war auch die Abschiebung in die Niederlande anzuordnen.
1. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass die Niederlande der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers sind.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien sind die Niederlande für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Die Zuständigkeit der Niederlande für den Asylantrag des Klägers ergibt sich aus Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO, da das niederländische Konsulat in Jordanien dem Kläger ein Visum ausgestellt hat, das vom 20. November 2018 bis zum 4. Januar 2019 und damit im Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers in die Bundesrepublik am 29. November 2019 gültig war.
b) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 21 Abs. 1 Unterabsatz 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch vom 13. Februar 2019 fristgerecht innerhalb von drei Monaten nach der Antragstellung am 5. Februar 2019 erfolgte.
c) Gleichfalls ist die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf) gemäß Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-, die einen Zuständigkeitswechsel begründen würde auch ohne, dass der zuständige Mitgliedstaat die Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person ablehnt, noch nicht abgelaufen.
d) Die Zuständigkeit ist schließlich auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung in die Niederlande als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in den Niederlanden systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass die Niederlande über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert (vgl. hierzu VG Lüneburg, B.v. 22.2.2019 – 8 B 37/19 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.).
e) Die bestehende Zuständigkeit der Niederlande ändert sich auch nicht deshalb, weil durch die vom Antragsteller vorgetragene Schwangerschaft seiner derzeit im Bundesgebiet lebenden Ehefrau eine Zuständigkeit der Bundesrepublik nach Art. 9 oder Art. 10 Dublin III-VO – jeweils in Verbindung mit Art. 2 Buchst. g erster und zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO – begründet würde.
aa) Als Familienangehörige sind nach Art. 2 Buchst. g erster Spiegelstrich Dublin III-VO u.a. der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner anzusehen, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.
Der Antragsteller ist nicht der Ehegatte seiner Lebensgefährtin im Sinne dieser Vorschrift. Es ist nicht nachgewiesen, dass es sich bei der Ehe um eine nach Maßgabe ausländischer Rechtsordnungen ordnungsgemäß begründete, d. h. eine nach religiösen Bestimmungen geschlossene und von einem anderen Staat anerkannte Ehe handelt. Die bekundete Absicht, in Deutschland (erneut) zu heiraten, begründet ebenfalls noch keine Ehe.
Eine möglicherweise bestehende dauerhafte Beziehung zwischen dem Antragsteller und der von ihm bezeichneten Frau führt ebenfalls nicht zur Bejahung der Eigenschaft als Familienangehörige, weil nach deutschem Recht nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich nicht vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare (vgl. OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 32 ff. m.w.N.; VG Augsburg, U.v. 13.6.2018 – Au 6 K 18.50557 – juris Rn. 22). Daher ist eine anerkannte Eheschließung erforderlich; eheähnliche Beziehungen reichen nicht aus.
bb) Da der Antragsteller und seine mögliche Lebenspartnerin kein Paar im Sinne des Art. 2 Buchst. g erster Spiegelstrich Dublin III-VO sind, ist das Kind auch kein Familienangehöriger des Antragstellers nach Art. 2 Buchst. g zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO. Hinzu kommt, dass für das ungeborene Kind kein Nachweis der Vaterschaft des Antragstellers existiert (vgl. etwa VG München, B.v. 18.8.2017 – M 8 S 17.51937 – juris Rn. 35).
f) Die demnach bestehende Zuständigkeit der Niederlande ändert sich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.
Die Niederlande sind daher zuständig.
2. Die Überstellung in die Niederlande ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
a) Die niederländischen Behörden haben ihre Übernahmebereitschaft mit Schreiben vom 18. April 2019 erklärt.
b) Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die die Antragsgegnerin zu berücksichtigen hätte, sind nicht ersichtlich.
c) Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist, bestehen ebenfalls nicht. Mangels rechtlicher Anerkennung und daher mangels rechtlicher Relevanz der vom Antragsteller vorgetragenen traditionellen Ehe kann sich aus dem Schutz von Ehe und Familie kein Abschiebeverbot oder -hindernis ergeben.
3. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 26. April 2019 voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen war.
4. Der Antrag nach § 123 VwGO ist vor diesem Hintergrund jedenfalls unbegründet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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