Europarecht

Rechtswidrige Abschiebungsandrohung nach Frankreich nach Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 1 K 15.50688

Datum:
22.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29, Art. 49
AsylVfG AsylVfG § 27a, § 34a

 

Leitsatz

1 Der Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat nach Ablauf der Sechsmonatsfrist beinhaltet nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO keinen fingierten Selbsteintritt, sondern stellt eine besondere, lediglich vom Ablauf der Frist abhängige Zuständigkeitsnorm dar. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (wie BayVGH BeckRS 2015, 46404). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ein Asylbewerber kann sich auf den Übergang der Zuständigkeit wegen Ablaufs der Überstellungsfrist berufen, da er nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf besitzt, dass die nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik das Asylverfahren durchführt. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Grundsätzlich begründen die Bestimmungen der Dublin III-VO keine subjektiven Rechten des Schutzsuchenden; sie dienen allein der internen Verteilung der Lasten und Verantwortung unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Nach Ablauf der Überstellungsfrist und bei fehlender Übernahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaats besitzt der Schutzsuchende jedoch einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens und kann diesen als notwendigen Bestandteil des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend machen (wie VG Düsseldorf BeckRS 2015, 46603). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann durch den Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, nachdem diesem das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 19. April 2016 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Entscheidung kann nach § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid ergehen, da die Parteien vorher hierzu angehört wurden.
Die Klage hat Erfolg.
1. Sie ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen lässt sich herleiten, dass er – sollte sich der Bescheid als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte.
Die Klage wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
2. Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf das im Mai 2015 gestellte Schutzgesuch des Klägers.
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag wirklich unzulässig war und die Abschiebung nach Frankreich angeordnet werden durfte, ist die Beklagte jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der 6-Monats-Frist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedsstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B. v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50006 – Rn. 4 f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedsstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Wiederaufnahmeersuchens durch Frankreich am 13. Juli 2015.
Die Frist zur Überstellung des Klägers nach Frankreich wurde auch nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens, hier also bis zum Beschluss vom 7. Oktober 2015, unterbrochen oder gehemmt (vgl. OVG NRW, B. v. 8.9.2014 – 13 A 1347/14.A – juris Rn. 5 ff. m. w. N.). Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO vor. Die sechsmonatige Frist ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits abgelaufen.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass eine Umdeutung des „Dublin-Bescheids“ in eine ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylG aus prozessualen und materiellen Gründen nicht in Betracht kommt (BayVGH, B. v.18.05.2015 – 11 ZB 14.50053 – juris Rn. 15 ff.).
3. Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Zwar begründen die Bestimmungen der Dublin III-VO grundsätzlich keine subjektiven Rechten des Schutzsuchenden. Sie dienen allein der internen Verteilung der Lasten und Verantwortung unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Wenn allerdings die Überstellungsfrist abgelaufen und der ursprünglich zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Übernahme bereit ist, besteht allein die Zuständigkeit der Beklagten. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens kann dann als notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend gemacht werden (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 5.5.2015 – 22 K 2179/15.A – juris Rn. 15).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
mündliche Verhandlung beantragen.
Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.
Dem Antrag eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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