Europarecht

Rechtswidrigkeit der Ablehnung eines Asylantrages mangels Rechtsgrundlage

Aktenzeichen  W 10 K 19.31761

Datum:
21.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21655
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nrn. 1 Buchst. a u. 2
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 20 Abs. 3, Art. 21 Abs. 1
VwGO § 84 Abs. 1
VwVfG § 47

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. September 2019, Az.: …, wird in den Ziffern 1, 2, 3 Sätze 1 bis 3 und Ziffer 4 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Kostenbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage kann das Gericht nunmehr durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist, die entscheidungserheblichen Rechtsfragen nach zwischenzeitlich erfolgter höchstrichterlicher Klärung keine besonderen Schwierigkeiten mehr aufweisen und die Beteiligten zu dieser Verfahrensweise gehört wurden (§ 84 Abs. 1 Satz 1, 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die streitgegenständliche Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; siehe unten 1.). In der Folge besteht keine Rechtsgrundlage für die negative Feststellung hinsichtlich zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote in Bezug auf Italien (siehe unten 2.) sowie für die Abschiebungsandrohung nach Italien und für das befristete Wiedereinreiseverbot (siehe unten 3.). Diese Entscheidungen sind deshalb ebenfalls aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Ablehnung des Asylantrags ist mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
a) Der Bescheid findet keine Rechtsgrundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG, weil dessen Voraussetzungen nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Zu Unrecht geht die Beklagte davon aus, dass Italien für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig sei, weil die Zuständigkeit Italiens nicht aus den allgemeinen Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Dublin III-VO folgt und weil die Beklagte das erforderliche Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden nicht beziehungsweise nicht fristgerecht gestellt hat.
aa) Da die Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag des im Bundesgebiet nachgeborenen Klägers nicht aus den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 ff.) Dublin III-VO, insbesondere mangels schriftlicher Erklärung eines entsprechenden Willens nicht aus Art. 9 oder 10 Dublin III-VO folgt, kann sich diese nur aus Art. 20 Abs. 3 Satz 1, 2 Hs. 1 Dublin III-VO in direkter oder analoger Anwendung ergeben.
Da die Eltern des Klägers nicht mehr Antragsteller im Sinne des Art. 2 Buchst. c und f Dublin III-VO in einem Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III-VO sind, in welches der Antrag des Klägers gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO einbezogen werden könnte, findet diese Vorschrift auf den Fall des Klägers keine direkte Anwendung (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – juris Rn. 15; OVG SH, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris Rn. 36 ff.; U.v. 3.2.2020 – 1 LB 24/19 – juris Rn. 34 ff.). Hinsichtlich des Vaters des Klägers ergibt sich die Unanwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO schon daraus, dass die Beklagte für ihn ein nationales Asylverfahren durchgeführt und damit ihre Zuständigkeit, sofern sie nicht schon aus Art. 21 Abs. 1, Art. 25 Abs. 2 beziehungsweise 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO folgt, nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO anerkannt hat. Aber auch in Anknüpfung an die Mutter des Klägers kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach Art. 20 Abs. 3 Satz 1, 2 Dublin III-VO angenommen werden, denn sie ist in Italien schutzberechtigt und das dazugehörige Asylverfahren ist damit abgeschlossen (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – juris Rn. 15). Wie sich aus Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO ergibt, kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen der in der Dublin III-VO festgelegten Verfahren nicht wirksam um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen ersuchen, der im erstgenannten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm durch den letztgenannten Mitgliedstaat (hier: Italien) internationaler Schutz gewährt wurde (BVerwG a.a.O., m.V.a. EuGH, B.v. 5.4.2017 – C-36/17, Daher Muse Ahmed – juris Rn. 41). Daran ändert der Umstand nichts, dass zugunsten der Mutter des Klägers aufgrund rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde. Denn diese Entscheidung lässt die Unzulässigkeitsentscheidung im Asylverfahren der Mutter unberührt, weshalb für diese kein nationales Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wurde oder werden musste.
bb) Ob eine analoge Anwendung der Zuständigkeitsbestimmung des Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Hs. 1 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder von international Schutzberechtigten – und damit auf den Kläger in Anknüpfung an seine Mutter – in Betracht kommt, kann offenbleiben. Denn eine etwaige Zuständigkeit Italiens auf dieser Rechtsgrundlage ist jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO wegen des Ablaufs der Fristen für die Unterschreitung eines Aufnahmegesuchs an Italien gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Denn die Sonderregelung in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 Dublin III-VO, wonach es der Einleitung eines „neuen“ Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens für das nachgeborene Kind nicht bedarf, macht ein solches Aufnahmegesuch nicht entbehrlich. Dies gilt auch dann, wenn es im Grundsatz möglich wäre, die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind weiter gewanderter schutzberechtigter Eltern aus einer analogen Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO herzuleiten. Dies folgt daraus, dass es insoweit an den Voraussetzungen eines Analogieschlusses, insbesondere an der wertungsmäßigen Vergleichbarkeit des vorliegenden Sachverhaltes mit dem von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Sachverhalt fehlt (BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.10 – juris Rn. 16 ff.). Dies folgt bereits aus der Systematik des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO, welche zunächst nur für noch nicht abgeschlossene Zuständigkeitsbestimmungen gilt. In ein noch laufendes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren der Eltern ist der Schutzantrag des Kindes einzubeziehen. Wird den Eltern dagegen in einem Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt, können diese nach (illegaler) Sekundärmigration und einem erneuten Antrag in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr im Rahmen des Dublin-Regimes, sondern nur auf anderer Rechtsgrundlage (zum Beispiel bilateralen Rückführungsabkommen) in den schutzgewährenden Mitgliedstaat zurückgeführt werden. Des Weiteren widerspräche es auch den Schutzzwecken der für das Aufnahmebeziehungsweise Wiederaufnahmeverfahren vorgesehenen Fristen, wenn es in einer Situation wie der vorliegenden zu einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems ohne Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens für das Kind bzw. dessen Eltern käme. Denn zum einen führte dies dazu, dass das nachgeborene Kind ohne die in den Aufnahmebeziehungsweise Wiederaufnahmeverfahren vorgesehenen zeitlichen Grenzen an den anderen Mitgliedstaat überstellt werden könnte. Zum anderen sähe sich der schutzgewährende Mitgliedstaat mit einer Überstellung ohne vorherige Kenntnis von der möglichen Aufnahmesituation konfrontiert und es könnte somit erst im Überstellungsverfahren eine Klärung der Anerkennung der Zuständigkeit und der Aufnahmebereitschaft des schutzgewährenden Mitgliedstaats erfolgen (vgl. BVerwG a.a.O., Rn. 19). In der Folge läge unter Umständen die Situation eines „refugee in orbit“ vor, d.h. eines Asylbewerbers, für den sich kein Mitgliedstaat als zuständig betrachtet. Dies liefe aber dem Ziel der Dublin-Regelungen zuwider, einen effektiven Zugang zum Asylverfahren und eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gewährleisten (vgl. BVerwG a.a.O., Rn. 20), und verletzte im Übrigen auch das durch diese Vorschriften der Dublin-Verordnung konkretisierte Grundrecht auf Asyl aus Art. 18 EU-GR-Charta, welches jedenfalls die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat garantiert.
cc) Da die Frist für die Unterbreitung eines Aufnahmegesuchs nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO zumindest auch dem Schutz der Rechte der betroffenen Asylbewerber dient, wie aus Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO in Verbindung mit dem 19. Erwägungsgrund folgt, kann sich der Kläger im Rahmen seiner Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig wegen anderweitiger Zuständigkeit auch auf den Fristablauf berufen (EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16, Mengesteab – juris Rn. 41 ff., 62; BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – juris Rn. 21). Dies bedeutet, dass die rechtswidrige Unzuständigkeitsentscheidung den Kläger – jedenfalls bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO – in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt.
b) Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig kann auch nicht im Wege des Austausches der Rechtsgrundlage bzw. der Umdeutung gemäß § 47 VwVfG auf die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Zum einen scheidet eine direkte Anwendung dieser Vorschrift aus, da der Kläger nicht in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hat. Zum anderen ist eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf den vorliegenden Sachverhalt ausgeschlossen, da die Tatbestände einer Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig unionsrechtlich durch Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie n.F.) abschließend geregelt sind (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, Ibrahim – juris Rn. 76; U.v. 19.3.2020 – C-564/18, Hivatal – juris Rn. 29 ff.). Für den Fall eines Asylantrags eines nachgeborenen Kindes bei internationaler Schutzberechtigung der Eltern in einem anderen Mitgliedstaat sieht Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU keine Ablehnung des Asylantrags des Kindes als unzulässig vor (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37.19 – juris Rn. 22).
2. Infolge der Aufhebung der ablehnenden Entscheidungen in Ziffer 1 des Bescheides fehlt es an einer Rechtsgrundlage für die unter Ziffer 2 getroffene negative Entscheidung gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG über das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote. Diese Entscheidung ist daher ebenfalls aufzuheben.
3. Aufzuheben sind des Weiteren mangels Rechtsgrundlage die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 3 des Bescheides (mit Ausnahme des nicht mit der Klage angegriffenen Ausspruchs in Satz 4, dass der Kläger nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, gemäß § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG) sowie die (konkludente) Anordnung und Befristung des Wiedereinreiseverbotes gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG unter Ziffer 4 des Bescheides.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83b AsylG.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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